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Fundamentalismen in Europa

Streit um die Deutungshoheit in Religion, Politik, Ökonomie und Medien

von Uwe Gerber (Autor:in)
©2015 Monographie 154 Seiten

Zusammenfassung

Verschiedene Erscheinungen von Fundamentalismus stellen mit zunehmender Pluralisierung der Lebensstile, mit der (post-)modernen Enttraditionalisierung und Multikulturalität in Europa und weltweit eine wachsende Gefahr dar: theokratische und evangelikale Tendenzen in Religionen, absolutistische Ambitionen im Politischen, Alleinherrschaft des Kapitals und der Zwangscharakter moderner Medien. Sie stellen die Trennung von Religion und Staat, die rechtsstaatlich-liberale Demokratie, Teilhabe aller Bürger und Bürgerinnen an Kapital und Markt und die Freiheit im Umgang mit Medien infrage. Solchen teilweise fanatisch vertretenen Exklusivansprüchen und bisweilen mit Erlösungsphantasien durchsetzten Praktiken von Gewaltherrschaft darf nicht mit Gegengewalt begegnet werden. Mit einer Kultur der gegenseitigen Achtung (und nicht bloß der Toleranz) können Fundamentalismen im Entstehen erkannt und bearbeitet werden – eine Gratwanderung im Schmelztiegel (post-)moderner Gesellschaften.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Kurzbeschreibungen der Kapitel
  • I. Intention und Rahmen der Untersuchung
  • II. Fundamentalismus: Begriff - Ausweitungen und Eingrenzungen
  • III. Einige exemplarische Befunde
  • IV. Die Frage nach Kriterien für Fundamentalismus
  • V. Gesellschaftliche Entwicklungen und Hintergründe
  • 1. Pluralisierung contra den ‚roten Faden‘ eines Glaubensfundamentes
  • 2. Traditionsverlust und Suche nach anderen Sicherheiten
  • 3. Neue ‚Fromme‘
  • VI. Fundamentalismus in unserer Gesellschaft
  • VII. Historische Entwicklungen des (protestantischen) Fundamentalismus
  • VIII. Fundamentalisierende Elemente im Protestantismus
  • 1. Persönlicher Frömmigkeitsstil
  • 2. Grundlegende Lehren
  • 3. Vergemeinschaftungsstile
  • 4. Moral-Vorstellungen
  • 5. Weitere Aspekte
  • 6. Diffamieren als Methode
  • 7. Wunder-Glaube als Testfall
  • 8. Frömmigkeit der Heils-Tatsachen
  • 9. Die Bibel als Wissenschaftsbuch
  • 10. Ein kurzer Blick über die Grenze Europa hinaus
  • IX. Die Diskussionen um Fundamentalismus „totaler Mitgliedschaft“, um Monotheismus als gewalttätigen Fundamentalismus, um den „Raffinierten Fundamentalismus von links“ und den islamistischen theokratischen IS-Fundamentalismus
  • 1. “Fußnote über Ursprünge und Wandlungen totaler Mitgliedschaft“ (Peter Sloterdijk)
  • 2. Intrinsische Gewaltförmigkeit des Monotheismus (Jan Assmann)
  • 3. Der „raffinierte Fundamentalismus von links“ (Hans Joas zu John Milbank)
  • 4. Der islamistische theokratische IS-Fundamentalismus (These von Hamed Abdel-Samad zum islamistischen Faschismus)
  • X. Narzisstische Kränkungen, Ohnmachtserfahrungen und Allmachtstreben als Wege ins Fundamentalisieren
  • 1. “Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen“ (Horst-Eberhard Richter)
  • 2. Leben mit Ersatzautoritäten (Hans-Joachim Maaz)
  • XI. Kritische Würdigung des protestantischen Fundamentalismus im Streit um die Moderne: 11 Stellungnahmen
  • XII. Einige Hinweise zu einem aufgeklärten Umgang mit Fundamentalismus
  • XIII. Eine theologische Nachlese
  • XIV. Literatur

← 6 | 7 → Vorwort

Eines der brennendsten, wenn nicht das brennendste Problem unserer Zeit ist das Erstarken fundamentalisierender Einstellungen in Europa und weltweit. Dieses Fundamentalisieren und Vereindeutigen hat alle Lebensbereiche mehr oder weniger stark ‚kolonialisiert‘. Die Wurzeln dieses ‚modernen‘ Fundamentalismus liegen in unserem Kulturbereich im Umbruch des ausgehenden Mittelalters zur Neuzeit. Und sie sind intensiver, umfassender und globaler geworden durch Schübe wie die Aufklärung, wie Kolonialismus, Migrationen, Industrialisierung, Kapitalismus, Verwissenschaftlichung und mit der sich von nahezu allen Überlieferungsbeständen und Normativitäten abkoppelnden Post-Moderne. Der neuzeitliche Mensch erfährt den Fundamentalismus als eine mögliche Antwort auf den Pluralisierungs- und Komplexitätsschub insofern am eigenen Leibe, als er mit seiner bislang monistisch und fortschreitend vorgestellten, nahezu allmächtigen Vernunft jetzt schmerzlich an deren Grenzen stößt. Die Grenzen liegen hinter oder vor dieser Vernunft, außerhalb ihrer Reichweite und lassen etwas jenseits der bisherigen Ordnung Zustoßendes hereinbrechen: etwas Fremdes, das sich auch nicht mehr durch Annäherungen erfassen lässt. Mit der Unfassbarkeit des Erdbebens von Lissabon 1755 setzte die Moderne ein, und mit dem unfassbaren Massenmord von Auschwitz endet die Moderne (so Neiman 2006, 18). Sinn wird den Neuzeitlichen fremd, sie müssen ihn sorgenvoll und eigenverantwortlich erringen. Diese Fremd-Erfahrung mag z.B. in Luthers Deus absconditus, dem verborgenen, fremden Gott angelegt gewesen sein, ihren eigentlichen Hereinbruch und Aufstieg nahm sie ab dem 18. Jahrhundert. Und mit ihr zog zugleich der neuzeitliche Fundamentalismus herauf als Abwehr des Fremden durch vereindeutigendes Einverleiben, z.B. schon in den Theodizee-Vorschlägen von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716). Ineins mit dieser Aufsplittung des monistischen Vernunftkonzeptes durch die leiblich-sinnliche Erfahrung des Fremden und dessen fundamentalistischer Zurückweisung ← 7 | 8 → wandelte sich ebenfalls im 18. Jahrhundert die Rolle des Subjektes: „Das ‚Subjekt‘, das allem, was ist, zugrundzuliegen schien und das sich als Ort oder Träger der Vernunft betrachtete, leidet unter einem Selbstentzug, der durch keinen reflexiven ‚Rückgang zu sich selbst‘ wettzumachen ist. Kurz gesagt: es gibt keine Welt, in der wir je völlig heimisch sind, und es gibt kein Subjekt, das je Herr im eigenen Hause wäre“ (Waldenfels 1998, 37). Und dieser teils befreienden, teils niederschmetternden Erfahrung und Einsicht begegnete man im christlichen Bereich entweder mit dem entsicherenden Entwerfen individueller Glaubensweisen und Lebensstile oder mit stärkerer Anpassung an die Kirchentraditionen bis hin zu solchen Gruppierungen, die sich explizit fundamentalisierend wehrten und abschirmten.

Die vorliegende Beschäftigung mit diesem äußerlich vielgestaltigen, aber seiner inneren Dynamik nach monistischen Fundamentalismus lässt sich dem Inhalt und dem Vorgehen nach in vier Thesen darstellen (wobei im Folgenden der Akzent nahezu ausschließlich auf Europa liegen wird):

These 1: Der im Folgenden als ‚modern‘ bezeichnete Fundamentalismus entstand mit der Pluralisierung und Individualisierung im Zuge der Neuzeit, z.B. in Form von evangelikalen Gruppierungen des Protestantismus, die sich, wie z.B. der Pietismus, gegen die enge Verzahnung von institutioneller Kirche und staatlicher Obrigkeit wandten und den Glauben an die individuellen Erfahrungen und das persönliche Erleben banden. So sorgte der Pietismus „für einen Individualisierungsschub auf dem Felde der Religion. Da Pietisten (sc. wie Freikirchler und ‚Erweckte‘, Quäker, strenggläubige Reformierte u.a.) auch staatliche Verfolgungen zu erleiden hatten, verband sich diese religiöse Individualisierung mit einer institutionenkritischen Haltung, die gleichermmaßen kritisch gegenüber der Kirche und dem Staat war“ (Schieder 2001, 121). Gegenüber dem ‚modernen‘ Fundamentalismus sind mit dem ‚vorneuzeitlichen‘ Fundamentalismus hierarchisch strukturierte Monosysteme mit exklusiven Wahrheitsansprüchen gemeint, z.B. der römische Katholizismus.

These 2: Dieser ‚moderne‘ Fundamentalismus ist aus verschiedenen Anstößen erwachsen, nämlich aus der Reformation im 16. Jahrhundert und aus der 1648 politischerseits erzwungenen Aufspaltung des Christentums in die drei Konfessionen – ein Begriff aus dem 19. Jahrhundert - des römischen Katholizismus, des Luthertums und des Reformiertentums (und des Anglikanismus in England) und den folgenden Aufspaltungen des ← 8 | 9 → Protestantismus durch Erweckungsbewegungen, Freikirchen, evangelikale Strömungen. So wird die scheinbar paradoxe Einsicht verständlich, dass die „Durchsetzung der Religionsfreiheit … ein wesentlicher Beitrag des Freikirchentums zur Herausbildung der modernen pluralistischen Gesellschaft“ ist - ineins mit der reaktiven Ausbildung von Fundamentalismen (Geldbach 1986, 1360). Zugleich mit diesen religiösen Wurzeln haben die kulturellen Reformbewegungen des Humanismus und der Renaissance im Verbund mit der Selbstbefreiung des ‚neugierigen‘ neuzeitlichen Menschen den ‚modernen‘ Fundamentalismus hervorgebracht (Blumenberg 1966).

These 3: Der ‚moderne‘ Fundamentalismus hat mit der Pluralisierung, Individualisierung und Fragmentierung der neuzeitlichen Lebenswelt alle Lebensbereiche schleichend oder offen aggressiv ‚kolonialisiert‘, von der christlichen Religion über Politik, Kapital, Medien bis zum Postulat einer alternativlosen Leitkultur. Auf diese gesellschaftlichen Aufsplitterungen, Fragilitäten und Verunsicherungen antwortet(e) der ‚moderne Individuierte‘ als der auf sich selbst gestellte Vereinzelte mit Angst, die sich im Fundamentalisieren und Vereindeutigen äussern kann – oder in aufgeklärtem Umgang mit der Angst (Richter 2005, 189ff.; Stossel 2014).

Details

Seiten
154
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653051216
ISBN (ePUB)
9783653975321
ISBN (MOBI)
9783653975314
ISBN (Hardcover)
9783631657782
DOI
10.3726/978-3-653-05121-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (November)
Schlagworte
Fundamtentalismus Pluralismus Multikulturalität Toleranz
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 154 S.

Biographische Angaben

Uwe Gerber (Autor:in)

Uwe Gerber, Studium der Evangelischen Theologie und Philosophie, Promotion zum Katholischen Glaubensbegriff, Habilitation in Basel über die Disputatio als Sprache des Glaubens, Akademischer Oberrat an der TU Darmstadt und außerordentlicher Professor für Systematische Theologie der Universität Basel.

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