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Westland

Polen und die Ukraine in der russischen Literatur von Puškin bis Babel’

von Mirja Lecke (Autor:in)
©2015 Habilitationsschrift 409 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin nimmt Impulse der Postcolonial Studies auf und bezieht sie auf das Russische Imperium. Sie untersucht, wie sich in russischen literarischen Texten die Herrschaft über das «Westland», also die Gebiete im heutigen Litauen, Polen, Weißrussland und der Ukraine, niederschlägt. Diese multi-ethnische Region wird im 19. Jh. durch unterschiedliche historische Narrative und literarisch-ästhetische Konventionen modelliert – etwa in historischen Dramen über Polen oder humoristischen Prosa-Erzählungen über die Ukraine. Mirja Lecke zeichnet ein Bild der russischen Literatur abseits der nationalen Romantradition. Sie analysiert imperiale Dichtungen, aber auch das Werk populärer Erzähler wie Nikolaj Leskov, Aleksandr Kuprin und Vladimir Korolenko, deren Erbe noch der Avantgarde-Autor Isaak Babel’ aufgreift.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1. Russland und die Begriffe der Postcolonial Studies
  • 2. Rus’ – russkij – Rossija – rossijskij
  • 3. Textkorpus und Gliederung der Arbeit
  • 4. Roman und Nation
  • 5. Bücher und ihre Leser in Russland und im Westen des Reiches
  • 5.1 Alphabetisierung und Sprachpolitik
  • Teil I. Die Romantik – Das Reich wird problematisch: ästhetisch, ethisch, national
  • Kapitel 1: Puškin, Polen, die Ukraine und Mickiewicz
  • 1.1 Boris Godunov – die Modernisierung Russlands und der „polnische Weg“
  • 1.1.1 Godunov und die Epochenwende
  • 1.1.2 Karamzin-Rezeption in Godunov: Nationen und Herrscher
  • 1.2 Mickiewicz – Genie aus dem Westen
  • 1.2.1 Zwei Dichter – zwei „Orientalismen“
  • 1.2.2 Mickiewiczs Konrad Wallenrod und Puškins Urteil
  • 1.3 Poltava: Gegen Verrat und Separatismus
  • 1.3.1 Poltava und das byronistische Verspoem
  • 1.3.2 Die Ukraine – Land des Dunklen und Vergangenen
  • 1.3.3 Natur, Religion und Folklore – Erinnerungen an die Ukraine?
  • 1.4 Puškins Dichtungen anlässlich des Polenaufstands 1830/31
  • 1.5 Der Mednyj vsadnik und sein polnischer Kontext
  • 1.5.1 Mickiewiczs „Ustęp“ in den Dziady III
  • 1.5.2 Der Petersburg-Text als Erfindung eines Litauers
  • 1.5.3 Der Pilger im „Ustęp“
  • 1.5.4 Puškins Mednyj vsadnik (Der eherne Reiter)
  • 1.5.4.1 Zwei Helden und ihre „Projekte“
  • 1.5.4.2 Tradition und Transformation der Petersburg-Dichtung
  • 1.5.4.3 Mickiewiczs Anti-Städtelob / Petersburg-Schelte
  • 1.5.4.4 Puškin und die Odentradition
  • 1.5.4.5 Natur – Gewalt – Naturgewalt
  • Kapitel 2: Gogol’ – Die literarische Ukraine als imperialer Entwurf
  • 2.1 Die Ukraine – eine sublime Idee?
  • 2.2 Die Ukraine wird „literaturfähig“
  • 2.2.1 Die Ukraine-Mode des frühen 19. Jahrhunderts
  • 2.2.2 Vom Lokalkolorit zur Ethnografie
  • 2.3 Der Rahmen und seine Funktion in Gogol’s fiktiver Ukraine
  • 2.3.1 Russisch oder Ukrainisch?
  • 2.3.2 Rahmenerzählung und Binnenerzählung
  • 2.3.3 Gogol’s Ukraine und der „Ausnahmezustand“
  • 2.3.4 Gogol’s Ukraine als Bild
  • 2.4 Die hyperbolisierte Idylle und das Sentimentalische
  • 2.5 Epik, Orientalismus und ein „halbwildes Jahrhundert“
  • 2.6 Absenz
  • 2.7 Rahmen als Ornament – Die Ukraine der Arabeski (Arabesken)
  • 2.8 Was bleibt nach den Večera und Mirgorod
  • Teil II. Grenzziehungen: Dichtung und literarische Geschichtsbewältigung zwischen 1830 und etwa 1870
  • Kapitel 3: Poetisierte Herrschaft – dichterische Alternativen. Slavophile und Westler dichten über Polen und die Ukraine (Tjutčev, Majkov, Aleksej K. Tolstoj)
  • 3.1 Spätromantische Slavophilie (Tjutčev, Chomjakov, Majkov)
  • 3.1.1 Heilsgeschichte als Familienangelegenheit – Tjutčevs Lyrik über Polen
  • 3.1.2 Tjutčevs politische Publizistik
  • 3.1.3 Um den Polenaufstand 1863
  • 3.1.4 Der Slavenkongress und das Gedicht „Slavjanam“ (An die Slaven, 1867)
  • 3.1.5 Chomjakovs Gedicht „Kiev“ (1839)
  • 3.1.6 Majkovs Dichtungen über die „Westliche Rus’“
  • 3.2 Ein „kleinrussischer“ Westler: Aleksej K. Tolstoj
  • 3.2.1 Ein orthodoxes Arkadien
  • 3.2.2 Kiew, oder die eigentliche Rus’
  • 3.2.3 Folklore und Weltanschauung: Russland soll man nicht in Moskau suchen, sondern in Novgorod und Kiew
  • Kapitel 4: Polnische Hegemonie – Russischer Widerstand im Zeichen der Nation: Die Zeit der Wirren in historischen Romanen und Dramen um 1830 und 1860
  • 4.1 Zagoskins Jurij Miloslavskij – Kriegerehre als Maß aller Dinge
  • 4.2 Faddej Bulgarins Dmitrij Samozvanec (Der Falsche Demetrius, 1830) – ein Schurke von Polens Gnaden
  • 4.2.1 Dmitrij als „leerer“ Held
  • 4.2.2 Der Samozvanec als „Selbstporträt“?
  • 4.2.3 Polen und Russland – Adel und Zar / König
  • 4.2.4 Zwischen Polen und Russland: Die Ukraine und die Seč’
  • 4.2.5 Polnische und russische Lesarten
  • 4.3 Chomjakovs Samozvanec – ein tragischer Held
  • 4.3.1 Religiöse Konfrontation: Polen als Handlanger der Jesuiten
  • 4.3.2 Christen und Muslime
  • 4.4 Nestor Kukol’nik: Ruka vsevyšnego otečestvo spasla (Die Hand des Allmächtigen rettete das Vaterland)
  • 4.5 Ostrovskijs historische Chroniken – Nation und Theater
  • 4.5.1 Ostrovskijs „neuer“ Minin
  • 4.5.2 Soziale Konflikte und nationale Mythen
  • 4.6 Der Szlachcic als Zar: Ostrovskijs Dmitrij Samozvanec i Vasilij Šujskij
  • 4.6.1 Sprachliche Fremdheit im Drama
  • 4.6.2 Russland am Scheideweg: Polentum oder Tatarei
  • 4.6.3 Polen und Russland im 19. Jahrhundert
  • 4.7 Tušino (1867) – Bürgerkrieg als private Tragödie
  • 4.8 Theater, Geschichte und Nation bei Ostrovskij
  • Teil III. Vielfalt als Wert. Leskov, Korolenko und Kuprin erzählen von der Ukraine (nach 1875)
  • Kapitel 5: Das Bunte und das Deformierte – Nikolaj Leskovs westliche Reichsgebiete
  • 5.1 Populäres Erzählen über Russland und seinen Westen
  • 5.1.1 Reichsperipherie und kleine Form
  • 5.1.2 Leskov und Bachtins Konzept von Vielstimmigkeit
  • 5.1.3 Territorium und Religion
  • 5.2 Der Jude und die Grenze – „Rakušanskij melamed“ (Der Melamed aus Österreich, 1878)
  • 5.3 Militär und Russifizierung
  • 5.3.1 „Vladyčnyj sud“ (Das Bischofsgericht, 1877)
  • 5.3.2 Kiew – Verwaltungsstadt und spirituelles Zentrum
  • 5.3.3 Zur Sprachmischung in „Vladyčnyj sud“
  • 5.3.4 „Židovskaja kuvyrkollegija“ (Die jüdische Purzelbaumtruppe, 1882)
  • 5.3.5 Deformierte „Kommandosprache“
  • 5.3.6 Das jüdische Siedlungsgebiet als historische Landschaft
  • 5.3.7 Russisch-jüdische Affinitäten
  • 5.4 Ukrainertum als spleen und Krankheit: „Starinnye psichopaty“ (Altfränkische Psychopathen, 1885)
  • 5.4.1 Kleinrussland als Orient
  • 5.5 „Zajačij remiz“ (Die Hasenremise, 1894) – sprachliche Deformation und Wahnsinn
  • 5.5.1 Narrative Konstruktionen und sprachliche Welten
  • 5.5.2 Chochly und kacapy
  • 5.5.3 Die Ukraine als literarische Landschaft
  • 5.5.4 „Kleinrussland“ für den Zensor?
  • Kapitel 6: Auf dem Weg zur „Vielvölkerseele“ – Vladimir G. Korolenko
  • 6.1 Wie Welt und Anti-Welt miteinander versöhnt werden – „V durnom obščestve“ (1885)
  • 6.1.1 Religion und Nationalität
  • 6.1.2 Theater und Literatur in der „Unterwelt“
  • 6.2 „Slepoj muzykant“ – Der blinde Musiker und Taras Bul’bas Erben
  • 6.3 „Les šumit“ (Der Wald rauscht, 1886)
  • 6.4 Der Tag der Abrechnung, „Sudnyj den’“(1890)
  • 6.5 Der Jude als Metapher – „Brat’ja Mendel’“
  • Kapitel 7: Kolonialer Blick nach Westen. Aleksandr Kuprin und Russlands Fremdheit im Innern
  • 7.1 Kuprins Orient im Westen: „Židovka“ (Das Judenweib) und „Olesja“
  • 7.2 Kritik an Institutionen des Imperiums
  • 7.3 Folkloristische Welten im Westen
  • 7.4 Hybridisierungen in „Serebrjanyj volk“ (Der silberne Wolf) und „Jama“ (Die Grube)
  • Epilog: Die Peripherie wird zum Zentrum – Isaak Babel’
  • 1. Erzählungen – Sprecher – Maskeraden
  • 2. Die Ukraine – abgeschrieben
  • 2.1 Die Ukraine als Land der Lieder
  • 2.2 Die Ukraine und die Sexualität
  • 2.3 Weitere „ukrainische“ Motive
  • 2.4 Kosaken und Juden in der Armee
  • 2.5 „Berestečko“ – Eine Geschichte über Geschichte
  • 2.6 Akkulturationen und Nationen
  • 3. Die Moderne und das imperiale Erbe
  • Schluss
  • Literaturverzeichnis
  • Index

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Einleitung

Курица не птицабаба не человек.
Курица не птицаПольша не заграница.

Ein Huhn ist kein Vogel – ein Weib kein Mensch.
Ein Huhn ist kein Vogel – Polen nicht Ausland.

(Russische Sprichwörter)

In den vergangenen 25 Jahren ist eine Fülle von historischen Studien entstanden, die Russlands Geschichte nicht mehr als die Geschichte des großrussischen Staates, sondern als Ergebnis komplizierter Wechselwirkungen von Zentrum und Peripherie in einem Vielvölker-Imperium schreiben.1 Eine solche Sichtweise kann auch für das Studium der Kulturgeschichte neue Impulse geben. Von der russischen Kultur müsste man sie zu einer Geschichte der Kultur in Russland umdeuten und sich mit der Frage auseinandersetzen, welche Aspekte dieser Kultur durch ihre Betrachtung als rein russische Angelegenheit vernachlässigt worden sind. Dabei wären Fragen der kulturellen Herrschaftsausübung, des Machtgefälles zwischen Zentrum und Peripherie zu berücksichtigen. Dies ist auch die Domäne einiger poststrukturalistischer Strömungen der Literaturkritik, namentlich der Postcolonial Studies. Im Rahmen der Postcolonial Studies wird erforscht, welche kulturellen Prozesse (europäische) Herrschaft in (kolonialen) Territorien fern der Metropolen ermöglichten, begleiteten und vielleicht auch perpetuieren. Beide Forschungsströmungen, die imperialkritische Geschichte und die Postcolonial Studies, können Anregungen geben, das Verhältnis russischer Metropolen zu fernen Territorien neu zu beschreiben und zu analysieren, wie die imperiale Verfasstheit der Gesellschaft ← 13 | 14 → die russische Kultur geprägt hat. Bezüglich der Literatur ist die kanonisierte Erzählung über die russische Literaturgeschichte als Evolution einer sozial engagierten Nationalliteratur zu revidieren. Es gilt zu zeigen, dass die russische Literatur auch eine von multiethnischen Kultur- und Herrschafts-Beziehungen geprägte Imperialliteratur ist.

Dieser Impuls ist in der Slavistik bereits in mehreren Studien aufgenommen worden. Der Erforschung des Zentrum-Peripherie-Verhältnisses in der russischen Kultur ist beispielsweise die Arbeit von Susan Layton über die Repräsentation des Kaukasus gewidmet (Russian Literature and Empire, 1994). Zum Kaukasus als „russischem Orient“ ist eine ganze Reihe von weiteren Studien entstanden (z.B. Hokanson 1994, Frank 1998). Durch die kulturelle Distanz zum ethnisch großrussischen Kernland ist der Kaukasus in der russischen Kultur in einigen Aspekten vergleichbar mit Großbritanniens, Frankreichs oder Spaniens überseeischen Kolonien. Der russischen Kolonialherrschaft in hauptsächlich asiatischen Territorien ist Eva Thompsons Imperial Knowledge: Russian Literature and Colonialism (2000) gewidmet. Myroslav Shkandrij (2001) untersucht ukrainisches Schreiben als Gegendiskurs zu russischer Marginalisierung seit der Napoleonzeit. Von rhetorisch-stilistischer Seite geht Harsha Ram das Thema in The Imperial Sublime (2003) an und stellt eine Verbindung zwischen literarischen Formen und imperialen Inhalten in der russischen Literatur her.

Abgesehen von Shkandrijs Studie ist dem russischen Schreiben über diejenigen Gebiete, die dem imperialen Zentrum stärker ähnelten als die „exotischen“ Peripherien im Kaukasus oder in Zentralasien, in denen aber Russlands Probleme mit sozialen und nationalen Konflikten besonders ausgeprägt waren, wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden: den westlichen Reichsgebieten, die im 19. Jahrhundert auf Russisch häufig „zapadnyj kraj“, Westland, genannt wurden. Sie stehen im Zentrum dieser Arbeit. Ich werde untersuchen, wie in der russischsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts der Westen des Imperiums beschrieben, entworfen, imaginiert wird. Es handelt sich dabei um Territorien, die heute zu Litauen, Polen, Weißrussland und der Ukraine gehören, die damals jedoch nicht nationalstaatlich verfasst waren. Vielmehr handelt es sich um ein heterogenes Gebiet, das in Folge der polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert „russisch“ geworden war.2 Für eine imperial­kri­tische Lektüre sind die ← 14 | 15 → russischsprachigen Texte über diese Territorien und ihre Bewohner gewissermaßen prädestiniert: Wir wissen aus einer Fülle historischer Studien,3 dass es hier ethnische Vielfalt und dynamisches, oft von Gewalt geprägtes multiethnisches4 Leben gab und dass Hochkultur nicht-russischer Provenienz außerordentlich präsent war. Nun stellt sich die Frage, wie sich die imperiale Öffentlichkeit diese Gebiete in der metropolitanen (und deswegen russischsprachigen) Literatur aneignete bzw. welche Bilder sie vom Westen des Reiches vermittelt bekam.

Zu Einzelaspekten dieser sehr umfangreichen Fragestellung gibt es hervorragende For­schungen, auf die ich aufbauen kann. So wurden die literarisch-kulturellen Beziehungen zwischen den einzelnen auf diesem Gebiet entstandenen Nationalstaaten zu Russland beschrieben,5 zudem wurden in der russischen Literatur vermittelte Haltungen gegenüber Nationen oder Gruppen untersucht. Zu nennen sind hier insbesondere Jan Orłowski (1992) zu antipolnischen Obsessionen in der russischen Literatur, Shkandrij (2001) über den Marginalisierungsdiskurs gegenüber der Ukraine, Judith Kornblatt (1992) über den Kosakenmythos und die Bücher von Joshua Kunitz (1929) oder Feliks Dreizin (1990) über Juden in der russischen Literatur. Für einzelne Autoren sind spezielle Studien zu ihrem Polen- oder Judenbild verfügbar, wie z.B. bei Fedor Dostoevskij die von Małgorzata Świderska (2001, zu Polen) oder Susan McReynolds (2008, zu Dostoevskijs Judenbild), zu Nikolaj Gogol’s Ukraine liegt bereits umfangreiche Forschung vor. Von diesen Arbeiten unterscheidet sich die vorliegende insofern, als sie versucht, die verschiedenen Diskurse, die mit den westlichen ← 15 | 16 → Reichsgebieten verbunden sind, zu beschreiben und durch das „lange“ 19. Jahrhundert zu verfolgen. Dabei wird gewissermaßen der nationalstaatliche Anachronismus (die Frage zu stellen: „Wie schreibt man über Polen?“ für eine Zeit, in der das Wort etwas ganz anderes bedeutete) durch einen vornationalen, eher raumorientierten Zugriff ersetzt: Wie schreibt man über das Gebiet, aus dem später Polen, Litauen, die Sowjetunion, Weißrussland und die Ukraine werden sollten? Mit den nach dem spatial turn ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückten Problemen interessieren mich dabei folgende Fragen: Mit welchen literarischen Strategien wird dieser Raum angeeignet? In welchen Kontexten werden die Gebiete und ihre Bewohner überhaupt erwähnt? Wer schreibt, welche ethnischen und kulturellen Affinitäten werden gezeigt, was ist das Thema (soziale Gruppen, Nationen, Ethnien, Territorien), und welche Form (Ode, Drama, Erzählung) wird dabei gebraucht? Gibt es Verbindungen von literarischen Problemen, wie z.B. Gattungsfragen und imperialer Politik?

Indem ich diese Fragen über einen längeren Zeitraum verfolge, will ich Aufschluss über Makrostrukturen der russischen Literaturgeschichte gewinnen, die sich aus der imperialen Situation der russischen Kultur erklären könnten.

Untersucht werden sollen literarische Texte in russischer Sprache von etwa 1830 bis 1920 (vom Romantiker Aleksandr Puškin bis zum Avantgardeautor Isaak Babel’). Dem Hauptteil meiner Untersuchung werden in dieser Einleitung einige Vorüberlegungen und Kontextskizzen vorausgestellt: die Erörterung begrifflicher, theoretischer und methodischer Grundlagen, die Vorstellung und Begründung des Textkorpus, gattungstypologische Überlegungen zum Verhältnis von Roman und Nation, eine literatursoziologische Übersicht über Produktion und Rezeption von Büchern sowie über die Sprachenpolitik in Russlands westlichen Peripherien.

1. Russland und die Begriffe der Postcolonial Studies

Den gelegentlich emotionalisierten Begriff „Imperium“ will ich wertfrei gebrauchen und definiere ihn in Anlehnung an Andreas Kappeler (1992) als polyethnisch bevölkertes Reich, in dem zwischen Zentrum und Peripherie ein Machtgefälle zu verzeichnen ist. „Kolonie“ ver­stehe ich mit Wolfgang Reinhard (1996, 2f.) als wirtschaftlichen oder militärischen Stützpunkt zur Be­siedlung oder zur Beherrschung eines fremden Landes mit weniger entwickelter Bevölkerung. Wie weiter unten zu zeigen sein wird, können Begrifflichkeiten des Kolonialismus deswegen nur unter Einschränkungen zur Beschreibung russischer Herrschaft im Westen des Reiches, im Westland, gebraucht werden. Trotzdem bieten Ansätze der Postcolonial Studies (siehe z.B. ← 16 | 17 → Ashcroft et al. 1995, Castle 2001) einen für die Beschreibung der russischen Kultur tragfähigen theoretischen Rahmen und implizieren relevante Fragestellungen. Die Postcolonial Studies verbindet weder einheitliche begriffliche Grundlagen noch Analysemethoden (Slemon 2001, 100–105), ihre gemeinsame Frage nach den Konsequenzen imperialer Machtverhältnisse für kulturelle Phänomene ist jedoch durchaus von Belang. Ich teile die Grundannahme der meisten postkolonial argumentierenden Studien, dass es gewisse, diskursiv ver­festigte Muster gibt, mit denen in Imperialkulturen Herrschaft (aber auch Ohnmacht) verbildlicht wird.

Postcolonial Studies im angelsächsischen Sinne sind in der literaturwissenschaftlichen Russistik eine (wenn auch an Bedeutung gewinnende) Randerscheinung, was sicher mit der den Postcolonial Studies eigenen ethischen Parteinahme für die Marginalisierten begründet werden kann (vgl. Sproede, Lecke 2011). Für die Polonistik werden immer wieder postkolonial inspirierte Forschungen gefordert, Studien, in denen die polnische Kultur als Ergebnis ihrer (preußischen, habsburgischen, russischen, deutschen, sowjetischen) Marginalisierung beschrieben wird. In jüngerer Zeit sind mit mehreren Arbeiten Dariusz Skórczewski (z.B. 2013), Alfred Gall (z.B. 2010) und Dirk Uffelmann (z.B. 2012) hervorgetreten. An der Universität Warschau wurde von Hanna Gosk das (von postkolonialen Theorieangeboten inspirierte, den Begriff aber bewusst vermeidende) „Centrum badań dyskursów postzależnościowych“ (etwa: Zentrum zum Studium von Post-Dependenz-Diskursen) gegründet. In der Ukrainistik erfreut sich das postkoloniale Paradigma besonderer Beliebtheit und ist in der Geschichts- und Literaturwissenschaft durchaus präsent.

Aus dem theoretischen Instrumentarium der Slavistik können für die Beschreibung von kultureller Alterität im Russischen Reich auch Michail Bachtins Überlegungen zur Koexistenz mehrerer Stimmen, der Redevielfalt (разноречие, z.B. in Bachtin 1979a, 192–219) fruchtbar gemacht werden. Bachtin entwickelte diesen Begriff bekanntlich zur Beschreibung der stilistischen und ideologischen Komplexität von (speziell Dostoevskijs) Romanen. Die ästhetische Leistung des Romanautors besteht für Bachtin darin, dass er in einem Text Stimmenvielfalt und somit die Multiplizität der Welt orchestriert. Dies alles spielt sich freilich innerhalb einer kodifizierten Sprache ab, nämlich des Russischen. Lisa Lowe (1995, 235) spielt auf Bachtin an, wenn sie über den Dominanz-Diskurs in Kulturen schreibt, er sei ein vielschichtiger und -stimmiger Prozess, in dem es durchaus nicht immer gelinge, das „Andere“ oder eine Minderheit zur Gänze vorzuformen und zu beherrschen. Knut Grimstad (2007) hat in seiner Studie über Nikolaj Leskov eine Verbindung zwischen der Multikulturalität des Russischen Reiches und Bachtins Konzept der Anderssprachigkeit (иноязычие) hergestellt. Grimstad ← 17 | 18 → meint, durch die gleich­zeitige Präsenz verschiedener Nationalsprachen in Russland werde potenziell multikulturelle Bedeutung möglich (ebd., 25). Nun zeigte Bachtin kein Interesse für nicht-russischsprachige Texte oder die Interaktion von unterschiedlichen Sprachen (Polnisch, Ukrainisch, Litauisch etc.) in der Literatur. Sein Konzept ist zudem spezifisch auf Prosa zuge­schnitten, wo im späten 19. Jahrhundert im höchsten Maße nicht-russische Sprachen, Ideologien, Welten ins Zentrum rückten. Es bleibt aber zu klären, ob und inwiefern auch andere Gattungen imperiale Vielsprachigkeit repräsentieren können und wie kulturelle Alterität außerhalb Bachtinscher Vielstimmigkeit ihren Weg in die Texte finden kann. In diesem Prozess geht die „postkoloniale“ Herrschaftsfrage mit Bachtinscher stilistischer Plu­ra­li­tät Hand in Hand: Polnische, ukrainische, jüdische Kultur muss so „konstruiert“ werden, dass sie in die Wahrnehmungsrahmen eines russischsprachigen imperialen Publikums passt und doch ihre spezifische „Stimme“ behält.

Die Frage, ob man Russland und seine Kultur mit dem Kategorien der Postcolonial Studies beschreiben kann und sollte, ist heftig diskutiert worden.6 Mir scheint, dass bei Befürwortern und Gegnern je das Streben nach nationaler Emanzipation den Ausschlag gibt, ob Russland als Imperium und die russische Kultur als Herrschaftskultur klassifiziert wird oder nicht. Litauer, Polen und Ukrainer sehen sich meistens als Nationen unterdrückt und votieren deshalb tendenziell für die „Verurteilung“ Russlands als Imperium. Russen neigen eher dazu, sich als Volk unterdrückt zu fühlen und lehnen daher die Klassifizierung ihrer Kultur als Unterdrückerkultur ab. Zur Klärung ist es sinnvoll, genau zu untersuchen, welche der Prämissen postkolonialer Theorien für das Russische Reich zutreffen und dann erst einen Blick auf die Literatur zu richten.

Zunächst ist dafür Edward Saids in Orientalism (1978) vorgebrachte Idee zu diskutieren, der „Orient“ sei ein Diskurs, den der Westen zum Zwecke der Herrschaftsausübung in außereuropäischen Territorien entwickelt habe. Ein „zivilisiertes Europa“ brauche einen Ort, dem die eigene, durch die Zivilisation kontrollierte „Wildheit“ zugeschrieben werden könne. An Saids in die­ser Arbeit entworfenem, von Michel Foucault inspiriertem Diskursbegriff orientierten sich viele später entstandene Studien, die auch andere Marginalisierungspraktiken – nicht nur die gegenüber dem „Orient“ – untersuchten. Said selbst schloss Russland aus seinen Betrachtungen explizit aus. In seiner Studie Culture and Imperialism (Said 1993, 10) erklärte er, Russlands Expansion sei von der britischen ← 18 | 19 → oder französischen insofern verschieden, als es sich bei den Neuerwerbungen stets um Nachbarländer gehandelt habe. Der tausende Meilen weite Sprung von Briten oder Franzosen über ihre Grenzen in ferne Territorien aber sei eine Voraussetzung für die Entstehung der kulturellen Muster, die Said interessieren. In den hitzigen Debatten darüber, ob Orientalism neue Impulse für das Studium Russlands geben könne, wurde aber ein anderes Argument ins Zentrum gerückt: die Spaltung der russischen Gesellschaft in Volk und europäisierten Adel, Folge der Petrinischen Reformen im frühen 18. Jahrhundert. Dieses in Abgrenzung zum Imperium „nationale“ Argument bezieht sich darauf, dass die autochthon russische Volkskultur von den verwestlichten Eliten als orientalisch stigmatisiert und diskursiv ausgegrenzt worden ist – eine Art kultureller Fremdherrschaft im eigenen Land. So sieht Aleksandr Ėtkind (z.B. 2002; 2013, 34–38) das russische Volk als kolonisiertes „Anderes“ der Eliten und spricht von „innerer Kolonisierung“. Ekaterina Dyogot (2002) meint, Russland sei, wie andere Teile der Welt, Opfer des westlichen Alteritäts-Diskurses (wie in Saids Orientalism beschrieben) – seine Kultur sei vom Westen marginalisiert worden.7 Es überlagern sich in der russischen Kultur somit zwei Schichten des orientalistischen Diskurses. Russland wird in Europa seit der frühen Neuzeit als „asi­a­tisches Anderes“ konzeptualisiert (Wolff 1994). Die Eliten waren sich ihrer Wahr­nehmung in Europa als fremd und östlich durchaus bewusst, traten jedoch gegenüber dem „Volk“ gleichwohl als „westlich“ auf. Die für den Orientalismus-Dis­kurs typische Zivilisationslogik wurde daher gebrochen durch das Prisma der eigenen „zi­vi­li­sa­torischen Unzulänglichkeiten“ entfaltet. Hinzu kommt, dass im Westen und Südwesten des Reiches Territorien und soziale Gruppen in die Imperialgesellschaft inkorporiert wurden, die nach den durch Peter I. etablierten Wertvorstellungen teilweise zivilisatorisch überlegen oder doch im doppelten Wortsinn „westlicher“ und wirtschaftlich entwickelter waren als das rus­sische Kernland (Szporluk 2000, 399). Die imperiale Zivilisierungs-Logik wurde dadurch beim Schreiben über den Westen des Reiches noch einmal zusätzlich fragwürdiger (Kaspė 2001, 122).

Ein weiterer Aspekt, der zur Vorsicht bei der Anwendung Saidscher Modelle gemahnt, betrifft die Frage von Rasse, kultureller Ferne und Macht. Hier sind die Konfrontationslinien in Russland diffuser (was nicht bedeutet, dass es sie nicht gäbe!) als in westlichen Ko­lo­ni­al­reichen, wo weiße, „zivilisierte“, mächtige Europäer über eine marginalisierte, entmächtigte indigene Bevölkerung ← 19 | 20 → herrschten. Die vermeintliche Offensichtlichkeit von Gruppen­zu­ge­hö­rig­keiten im westeuropäischen Kolonialismus führt in Saids Denken zu einem Binarismus, der auch von anderer als russistischer Seite zu viel Kritik geführt hat (eines von vielen Beispielen: Young 2001, 385–394.). Im Russischen Reich waren biologisch-rassische Bestimmungen dessen, wer ein Russe sei und warum, noch weit problematischer (vgl. Mogilner 2005). Im relativ dicht besiedelten, ethnisch vielfältigen Westen Russlands ist eine solche Kategorisierung der Bevölkerung schlicht un­mög­lich. Zudem konnten im Russischen Reich wie auch in der Sowjetunion loyale Bürger in der Regel unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft in der Verwaltung Karriere machen, sofern sie bereit waren, ihre Alterität durch Assimilation an eine russländische (rossijskij) oder sowjetische Norm zumindest teilweise „unsichtbar“ zu machen. Ja, im Zarenreich ruhte sogar ein wesentlicher Teil staatlicher Verantwortung und kultureller Macht auf den Schultern von Ukrainern, Polen oder Baltendeutschen, die als treue Untertanen des Zaren nicht diskriminiert wurden (Aleksandr Bezborodko, Faddej Bulgarin, Aleksandr Benckendorff, um nur drei zu nennen).8 Derlei Auf­stiegs­mög­lich­keiten bestanden für Kolonisierte aus überseeischen Teilen des British Empire oder Frankreichs im 19. Jahrhundert nicht. Folglich ist ihr Kampf um die schreibende Selbstermächtigung auch dies­be­züglich in einem anderen Kontext zu sehen als der von Nicht-Russen im Russischen Reich und seinen „Zerfallsprodukten“: Während Saids marginalisierter Orient fremdes Objekt der eu­ropäischen Wissensproduktion war, wird das russische Schreiben über die westlichen Ter­ri­to­rien mindestens bis in die frühe Sowjetperiode nicht selten von Untertanen aus ebendiesen Regionen besorgt (Nikolaj Gogol’, Faddej Bulgarin, Aleksej K. Tolstoj, Vladimir Korolenko, vgl. dazu auch Bushkovitch 2003, 154f.). Die kulturelle Aneignung eines „unterworfenen Territoriums“ und das potenziell emanzipatorische Sichtbarmachen kultureller Differenz gehen somit in eins. Die sprachliche Situation ist dabei eine besondere: Das Russische ist nicht die einzige Sprache, die den Untertanen aus dem Westen für das Schreiben von Literatur zur Verfügung steht. Das Polnische ist eine etablierte Hochsprache, Juden erschließen im 19. Jahrhundert das Jiddische und Hebräische als Literatursprachen, auch entwickelt sich eine ukrainische literarische Landschaft. Die Wahl des Russischen als Ausdrucksmedium für künstlerische Literatur ist daher in Russlands Westen weniger alternativlos, als es das Englische in einigen Kolonien gewesen sein mag. Vor allem wegen der in Russland weniger ← 20 | 21 → evidenten Binarismen eignet sich Saids Begriffsinstrumentarium also zur Beschreibung der historischen Situation im Russischen Reich kaum. Für die Ana­lyse des literarischen Diskurses hingegen kann er durchaus Anregungen geben, worauf ich gleich zurückkommen werde.9

Vorher sollen noch Homi K. Bhabhas postkoloniale Ansätze besprochen werden, die insofern auf die Situation in Russland passen, als sie die Grauzonen zwischen Herrschen und Beherrscht-Werden ins Zentrum ihres Interesses stellen. Sie bieten daher eine Chance, der historischen Tatsache Rechnung zu tragen, dass sich in Russland Elite und Untertanen – zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – durchaus nicht nur an ethnokulturellen oder religiösen, sondern auch an ständisch definierten Linien trennten. Bhabha entwickelt Sigmund Freuds Idee des Unheimlichen weiter und sieht den Ort des Fremden im Inneren einer jeden Gruppe und nicht in ihren äußeren Gegnern.10 Deshalb sind für Bhabha die kommunikativen Po­si­ti­o­nen von Herrschernation und Kolonisierten nicht durch absolute Grenzziehungen determiniert, sondern ergeben sich durch flexible Projektionen bei der gegenseitigen Wahr­nehmung. Die Rollen des Mächtigen und des Beherrschten müssen dabei in einem per­formativen Akt regelrecht „gespielt“ werden, wobei Täuschungsmanöver, Mimikry und gegenseitiges Misstrauen die Interaktion bestimmen. Im Gegensatz zu Said betont Bhabha stets den befreienden Effekt des kulturellen „Dazwischen“. Bhabhas „Hybridität“ (2007, 164–169, 309) ist wie sein „dritter Raum“ ein Begriff für den Ausbruch aus essentialisierenden, einengenden Iden­titätsvorstellungen. Man hat Bhabha dafür (zu Recht) den Vorwurf gemacht, er baga­tel­li­siere die Erfahrung kultureller Marginalisierung, rede einer Art Salon-Kolonisation das Wort, die ohnehin nur den Eliten zugänglich sei.11

So weit postkoloniale Konzepte von dem entfernt sein mögen, was wir über Russlands Geschichte wissen, so eignen sie sich doch zur Beschreibung des russischen literarischen Dis­kurses über Territorien fern von Moskau und Petersburg. ← 21 | 22 → Es mag keine ausgeprägten binären kulturellen, sozialen oder politischen Oppositionen zwischen der allrussischen (rossijskij) Kul­tur und den beschriebenen Partikular-Kulturen gegeben haben – in den Texten werden aber, wie in vielen anderen Texten aus den slavischen Literaturen (vgl. dazu Kissel 2012), trotzdem Verfahren gebraucht, die Said als Orientalismus beschreibt, wenn­gleich sie vielfältiger sowie viel weniger konsistent und wirkungsmächtig sind als dies in Teilen des westeuropäischen Orien­ta­lis­mus-Diskurses der Fall ist. Trotzdem: Russisch schreibende Schriftsteller marginalisierten die Reichsperipherie, und das nicht nur beim Schreiben über den Kaukasus oder Zentralasien, son­dern auch, wenn es um das Westland ging:12 Frivolität, Sexualität, Wildheit und Anarchismus, aber auch Emotionalität und Wahnsinn wur­den im 19. Jahrhundert mit der Ukraine assoziiert; Polen wurde als „weibisch“, verzärtelt und ebenfalls anarchistisch abgetan. Insgesamt wurde mit Bezug auf den Reichswesten und Personen, die von dort stammten, auffallend häufig eine vermeintlich charakteristische Verschlagenheit, Neigung zu Verrat und Doppelzüngigkeit thematisiert, eine Reaktion auf deren typische Multikontextualität: Bhabhas Mimikry. So wurden gerade diejenigen Gruppen, an denen sich das Schicksal des Russischen Reiches entscheiden sollte, marginalisiert (Russland hat sich an Polen – in Jean-Jacques Rousseaus Worten – „überfressen“, Kappeler 1992, 93f.). Oder stellten sie umgekehrt eine so große Herausforderung dar, dass man wenigstens in der Literatur versuchte, sie diskursiv in Schach zu halten?

Verliert man diese Einschränkungen für die Applikation postkolonialer Theorien auf Themen aus der russischen Kulturgeschichte nicht aus dem Blick, so bieten sie die Chance, die „natürliche“ Sicht auf die russische Literatur als Literatur von Russen für und über Russen zu relativieren.

2. Rus’ – russkij – Rossija – rossijskij

Die mittelalterliche Rus’, russisch, Russland, allrussisch – die deutschen Übersetzungen zeigen schon durch ihre Unbeholfenheit, dass der Gegenstand, den sie bezeichnen, komplexer ist als das deutsche Standardvokabular zu seiner Beschreibung. Diese Gruppe von Begriffen, die ein Russischlernender vor allem als stilistische Varianten vermittelt bekommt, führt dabei an die begriffliche Wurzel des eingangs geschilderten Problems, dass nämlich Russland mehr ist als der Staat der ethnischen Großrussen. Im Grunde geht es um das Erbe des ersten ← 22 | 23 → ostslavischen Staates, der mittelalterlichen Kiewer Rus’.13 Die Rus’ wurde orthodox getauft. Deswegen hat das Wort einen sakralen Beiklang und bezeichnet häufig auch die Gemein­schaft der orthodoxen Christen. Traditionell sieht sich Russland als Nachfolgerin dieses Staates,14 aber auch die Ukraine bezieht ihre historische Legitimität aus der Rus’. Beide Völker, Russen und Ukrainer, bezeichnen ihre Nationalität in ihren Sprachen mit dem von „Rus’“ abgeleiteten Adjektiv russkij / rus’kyj.15 Mit diesem ersten „russischen“ Staat setzen sich mehrere der Autoren, um die es in dieser Arbeit gehen soll, auseinander, insbesondere Aleksej K. Tolstoj.

Die Begriffe „Rossija“ und „rossijskij“ sind neueren Datums (Kappeler 2003b, 14). Mit ihnen werden erst seit der frühen Neuzeit der Staat und seine Bewohner, auch und vor allem diejenigen, die nicht Russen sind, bezeichnet. Man kann „rossijskij“ als ‚imperialrussisch‘ über­setzen, wenn man dabei im Blick behält, dass Russland sich als christliches Reich wie Byzanz oder Rom sah. In die Prägungszeit dieses Begriffs, in die frühe Neuzeit, fällt auch derjenige Konflikt, der das Denken und Schreiben über die westlichen Reichsgebiete im 19. Jahrhundert dominiert: der Krieg gegen Polen und die Zeit der Wirren, als polnische Magnaten einen willfährigen Usurpator auf den russischen Thron brachten (etwa 1604–1613). Dieser Krieg wird sehr häufig als religiöses Ereignis geschildert, bei dem es um die Rettung der Rus’ (orthodoxes Reich) vor dem Zugriff der polnischen Katholiken gegangen sei. In den Kapiteln 1 und 4 wird es um eine ganze Reihe von historischen Romanen und Dramen gehen, u.a. Aleksandr Puškins Boris Godunov, Faddej Bulgarins Dmitrij Samozvanec (Der falsche Demetrius) und Aleksandr Ostrovskijs Trilogie über die Zeit der Wirren. Die Gleichung „Adliger aus dem Westen des Reiches“ = Pole = Katholik ist dabei eine Rückprojektion aus dem 19. ins frühe 17. Jahr­hun­dert. Tatsächlich war der Adel aus dem litauischen Teil der polnisch-litauischen Adels­republik (auf heute weißrussischem und ukrainischem Territorium) in der frühen Neuzeit noch oft orthodox, wie auch die dortige Landbevölkerung (mithin „russkie“, ‚Russen‘). Das war wichtig für die ideologische Legitimation der russischen Herrschaft in diesen Gebieten ← 23 | 24 → im 19. Jahrhundert, die von Kongresspolen, Polen im engen Sinn, abgegrenzt wurde. Die litauischen Gebiete waren „zapadnyj kraj“, das Westland, und in diesem Begriff wurde ein Nexus zwischen Religion, Territorium und Herr­schafts­an­sprüchen hergestellt (vgl. auch Barabaš 1997). Da die Landbevölkerung in diesem Gebiet orthodox sei, so die Argumentation, habe der polonisierte und inzwischen überwiegend katholische Adel hier keine Herrschaftsansprüche, wenn er für einen polnischen Staat eintrete. Mit der polnischen Teilung von 1776 seien diese Gebiete „zurück“ an Russland gekommen. Dies impliziert, dass das Aufgehen von Teilen der Kiewer Rus’ im litauischen Fürstentum eine Art Verirrung auf dem Weg nach Russland darstellt. Eine ganze Reihe von Texten ist den Bewohnern dieser Gebiete, ob adlig oder nicht, gewidmet; um sie geht es vor allem in Dichtungen, die gegen Mitte des 19. Jahrhunderts z.B. Apollon Majkov oder Fedor Tjutčev verfassten. Alle in dieser Arbeit behandelten Autoren (bis auf Isaak Babel’, für den sich die Frage einer religiösen Bestimmung Russlands so nicht mehr stellte) stimmten übrigens darin überein, dass diese „Westlichen Gebiete“ russisch seien und bleiben müssten. Sie alle meinten, die aufständischen Polen be­an­spruchten in Litauen ein Gebiet, das ihnen nicht zustehe.

Ähnlich wie Polen zerfällt auch das Gebiet der heutigen Ukraine in der russischen (durchaus ideo­lo­gi­sier­ten) Wahrnehmung des 19. Jahrhunderts in mehrere Teile: Zum einen ist Kleinrussland im en­ge­ren Sinne zu nennen, wie es in Nikolaj Gogol’s Erzählungen in der Umgebung von Poltava ge­zeich­net wird. Den weiter westlich gelegenen Gebieten spricht man eine eher polnische Prägung zu. Die heutige Ost- und vor allem Südukraine (mit der Krim) aber ist Novorossija, Neurussland: ein Steppengebiet, das imperialrussisch geprägt ist und die oben genannten Kriterien für eine Einordnung als „Kolonie“ vielleicht am ehesten erfüllt. Will man den Bogen von den Staats­be­zeichnungen und Ethnonymen zurückfinden zur Fragestellung, wie Nicht-Russisches in russischsprachige Texte Eingang findet, so könnte man formulieren: Wie drückt sich in der russischen Literatur „Rossija“ aus? Gibt es neben der unbestrittenen „russkaja literatura“ eine „rossijskaja literatura“? Bevor ich aber zu einigen grundsätzlichen Überlegungen über den Zusammenhang von Literatur und Nation komme, stelle ich das Textkorpus vor.

3. Textkorpus und Gliederung der Arbeit

Die Auswahl eines geeigneten Textkorpus für die umrissene Fragestellung war nicht einfach. Viele Texte, die zentrale Aussagen zu den westlichen Reichsgebieten enthalten, sind nicht im engen Sinne fiktional und belletristisch bzw. poetisch, z.B. publizistische Arbeiten wie die Schriften von Nikolaj Danilevskij ← 24 | 25 → (vgl. Głębocki 2000), oder autobiografische Texte, z.B. Aleksandr Herzens Byloe i dumy (Gedachtes und Erlebtes, 1868) oder Vladimir Korolenkos Istorija moego sovremennika (Geschichte meines Zeitgenossen, 1905–21). Ich habe diese Werke aus dem Textkorpus ausgeschlossen, weil sie in Form und Anspruch nicht oder nur schwer mit im engen Sinne literarischen Texten vergleichbar sind. Das zweite Problem betraf die Sprache: Da im Zentrum meines Interesses die Frage steht, wie in der Literatur im Russischen Reich Alterität sichtbar wird, lag es nahe, russischsprachige Texte ins Zentrum zu stellen. Russisch war Verwaltungssprache, und wer für ein möglichst großes, über die (möglicherweise eigene) ethnische Gruppe herausgehendes Publikum schreiben wollte, musste das auf Russisch tun. Allerdings sind durchaus Einwände gegen diese Entscheidung gerechtfertigt. Mit dem Polnischen existierte im Westen des Reiches noch eine zweite Sprache, in der – zumindest potenziell – für ein imperiales, multiethnisches Publikum geschrieben wurde (man mag sich einen Ukrainer, Juden oder Litauer als Leser von Eliza Orzeszkowas Romanen vorstellen). Im späten 19. Jahrhundert kamen Weißrussisch, Jiddisch und Litauisch hinzu. Der Gebrauch des Ukrainischen unterlag viel stärker als der des Polnischen Restriktionen, die Entwicklung der ukrainischen Literatur wurde aktiv unterdrückt. Das Schreiben unter dem Druck des Imperiums führte aber gerade hier zur bewussten Wahl des Provinziellen (Koschmal 2014, 14), wie etwa bei Taras Ševčenko, durch den das Ukrainische als Literatursprache kulturell außerordentlich sichtbar und dank habsburgisch-lemberger Schmuggelware in Russland sehr präsent wurde. Mit dem Ukrainischen ist gewissermaßen die Kehrseite der Beschränkung auf russischsprachige Texte angesprochen: Die Sprache ist nur eines von vielen Kriterien, die den (nationalen oder imperialen) Rahmen abstecken, in dem ein literarisches Werk gesehen werden muss. Viele Autoren und Leser waren mehrsprachig, wechselten je nach Anlass, Form und Kontext die Sprache. Gra­bo­wicz (1992) hat für die ukrainische und die russische Literatur gezeigt, dass eine rein sprachliche Abgrenzung kein hinreichendes Unterscheidungskriterium für die Bestimmung von Textkorpora der jeweiligen Nationalliteratur darstellt. Er betont, dass allein das Funk­tio­nieren von Texten innerhalb des jeweiligen literarischen Systems Aufschluss darüber geben kann, ob ein Text Teil der russischen oder ukrainischen Literatur ist. Dies ist für das 19. Jahrhundert außerordentlich relevant, weil während dieser Epoche bestimmte literarische Praktiken und Themen zwischen der ukrainischen, jüdischen, polnischen und imperial­russischen Sprache und Kultur hin- und herwanderten und die Nationalliteraturen so in engem wechselseitigen Dialog standen.

Ich habe mich trotzdem für eine Konzentration auf russischsprachige Texte entschieden, weil angesichts der Menge der in Frage kommenden Texte eine ← 25 | 26 → Beschränkung unvermeidlich war und das Textkorpus bei Berücksichtigung der vielen Sprachen und ihrer Entwicklungskontexte zu uneinheitlich geworden wäre. Eine Ausnahme aus der Beschränkung auf russische Texte stellt der polnisch schreibende Pole Adam Mickiewicz dar, dessen dichterischer Dialog mit Aleksandr Puškin ein Ereignis von herausragender kulturhistorischer Bedeutung ist und den multiethnischen Charakter des Reiches in besonderer Weise illustriert.

Ich unterscheide drei Perioden der literarischen Auseinandersetzung mit den westlichen Reichsgebieten.

Teil I. Die Romantik – Das Reich wird problematisch: ästhetisch, ethisch, national

Der erste Teil der Arbeit ist der Romantik gewidmet und stellt eine Art Prolog zu den folgenden Abschnitten dar. Er zeigt die russische Literatur, bevor sie gegen die Mitte des Jahrhunderts eine im engen Sinne nationale Wendung nahm (Grabowicz 1992, 228). In der Romantik stehen die westlichen Reichsgebiete ganz im Zentrum der literarischen Entwicklung, um sie geht es in einigen der berühmtesten Werke der Epoche. Der künstlerische Dialog zwischen Mickiewicz und Puškin, beider „Freundschaft“ (oder sollte man formulieren: der reale Anlass für die Konstruktion eines romantischen Freundschaftsmythos? Vgl. Kośny 2003), ist vor dem Hintergrund des Petersburger aristokratischen Kosmopolitismus zu sehen. Puškins erster „polnischer Text“ ist Boris Godunov (1825), ein Drama über die Zeit der Wirren und pol­ni­sche sowie russische Wege in die neue Zeit. Sehr intensiv wird Puškins Auseinandersetzung mit Polen erst nach seinem Zusammentreffen mit Mickiewicz. Puškins „ukrainisches“ Poem Poltava (1828/29) setzt sich, genauso wie Mickiewiczs Konrad Wallenrod (1828), mit der Ethik des Verrats auseinander. Nach dem Polenaufstand 1830/31 dichtet Puškin apologetisch über russische Herrschaftsausübung und entwickelt einen nicht-nationalistischen Machtdiskurs. Mickiewiczs Dziady III (Die Ahnenfeier, 1832), ins­be­son­dere der „Ustęp“ (Digression), provozieren dann Puškins Reflexion über Staat und Macht, ihre Grenzen und Opfer im Mednyj vsadnik (Der eherne Reiter, 1834).

Details

Seiten
409
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653051261
ISBN (ePUB)
9783653975406
ISBN (MOBI)
9783653975390
ISBN (Hardcover)
9783631657737
DOI
10.3726/978-3-653-05126-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Romantik Realismus postkoloniale Studien multiethnische Region
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 409 S.

Biographische Angaben

Mirja Lecke (Autor:in)

Mirja Lecke ist Professorin für slavistische Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die russische Literatur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart als Imperialliteratur, jüdische Kultur in Osteuropa sowie die polnische Literatur der Aufklärung und der Gegenwart.

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Titel: Westland
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