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Die gerichtliche Kontrolldichte bei der Überprüfung von Entscheidungen der Europäischen Kommission auf dem Gebiet der Fusionskontrolle

von Laura Börger (Autor:in)
©2014 Dissertation 496 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin untersucht das Spannungsfeld von gerichtlicher Kontrolldichte und behördlichem Beurteilungsspielraum auf dem Gebiet der europäischen Fusionskontrolle. Mittels einer rechtsvergleichenden Untersuchung der gerichtlichen Kontrolldichte im französischen, englischen und deutschen Recht wird das Begriffspaar Kontrolldichte – Beurteilungsspielraum auf europäischer Ebene definiert. Eine geringe Kontrolldichte kann nicht durch Erwägungen wie z. B. komplexe wirtschaftliche Beurteilungen, Prognoseentscheidungen oder das institutionelle Gleichgewicht gerechtfertigt werden. Ausgehend vom Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 47 Grundrechtecharta entwickelt die Autorin ein eigenes Konzept zur gerichtlichen Kontrolldichte von fusionskontrollrechtlichen Entscheidungen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort und Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Kapitel 1 Einleitung
  • A. Problemstellung
  • B. Gang der Untersuchung
  • C. Beschränkung des Themas
  • D. Terminologie
  • I. Kontrolldichte
  • II. Die Unionsgerichte
  • E. Der Schutz des Wettbewerbs im Unionsrecht
  • I. Das Verhältnis der Fusionskontrolle zum sonstigen europäischen Kartellrecht
  • II. Europäische Fusionskontrolle vor Erlass der VO Nr. 4064/8940
  • III. Ergebnis
  • Kapitel 2 Beurteilungsspielräume und gerichtliche Kontrolldichte in ausgewählten Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten
  • A. Einführung
  • B. Gerichtliche Kontrolldichte und administrative Entscheidungsspielräume im französischen Verwaltungsrecht
  • I. Verfassungsrechtliche Vorgaben zur Stellung der Judikative und Exekutive
  • II. Die verwaltungsgerichtliche Kontrolle von Handlungen der Verwaltung
  • III. Die französische Fusionskontrolle
  • C. Gerichtliche Kontrolldichte und administrative Entscheidungsspielräume im englischen Verwaltungsrecht
  • I. Verfassungsrechtliche Vorgaben zur Stellung der Judikative und Exekutive
  • II. Die verwaltungsgerichtliche Kontrolle von Handlungen der Verwaltung
  • III. Die englische Fusionskontrolle
  • D. Gerichtliche Kontrolldichte und administrative Entscheidungsspielräume im deutschen Verwaltungsrecht
  • I. Verfassungsrechtliche Vorgaben zur Stellung der Judikative und Exekutive
  • II. Allgemeines Verwaltungsrecht
  • 1.) Die Lehre vom Beurteilungsspielraum
  • (a) Prüfungs- und prüfungsähnliche Entscheidungen
  • (b) Beamtenrechtliche Entscheidungen
  • (c) Entscheidungen verwaltungspolitischer Art
  • (d) Entscheidungen durch weisungsfreie, sachverständige und/oder pluralisitsch besetzte Gremien
  • (e) Prognostische und wertende Entscheidungen
  • 2.) Ermessen
  • 3.) Die planerische Gestaltungsfreiheit
  • 4.) Das Regulierungsermessen
  • 5.) Zwischenergebnis
  • III. Die deutsche Fusionskontrolle
  • 1.) Umfang der gerichtlichen Kontrolle bei Verfügungen des Bundeskartellamts
  • 2.) Umfang der gerichtlichen Kontrolle bei Entscheidungen des Bundeswirtschaftsministers
  • 3.) Fazit
  • E. Zusammenfassung
  • Kapitel 3 Allgemeine und normative Vorgaben zur Kontrolldichte bei Verfahren vor den Unionsgerichten
  • A. Einführung
  • B. Überblick über das Rechtsschutzsystem der EU
  • I. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Nichtigkeitsklage
  • 1.) Der Klagegegenstand
  • 2.) Die Klagebefugnis
  • II. Begründetheit und Rechtsfolgen der Nichtigkeitsklage
  • III. Der Einfluss prozessualer Normen auf die Kontrolldichte
  • IV. Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV
  • V. Art. 261 AEUV i. V. m. Art. 16 VO Nr. 139/2004
  • 1.) Vergleich von Art. 261 AEUV mit Art. 19 Abs. 1 EUV
  • 2.) Vergleich mit der Rechtslage im EGKS-Vertrag
  • 3.) Bloße Rechtmäßigkeitskontrolle außerhalb von Zwangsmaßnahmen
  • VI. Die Nichtigkeitsgründe der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV
  • 1.) Der Nichtigkeitsgrund der Unzuständigkeit
  • 2.) Der Nichtigkeitsgrund der Verletzung wesentlicher Formvorschriften, insbesondere der Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV
  • 3.) Der Nichtigkeitsgrund der Verletzung des Vertrages oder einer bei seiner Durchführung anzuwendende Rechtsnorm
  • 4.) Der Nichtigkeitsgrund des Ermessensmissbrauchs
  • 5.) Zwischenergebnis
  • VII. Verfahrensgrundsätze
  • 1.) Der Verhandlungs- und Untersuchungsgrundsatz
  • 2.) Die Abhängigkeit der Kontrolldichte vom Parteivorbringen
  • 3.) Die Darlegungs- und Beweislast
  • 4.) Ergebnis
  • VIII. Ergebnis zum Abschnitt B.
  • C. Die gerichtliche Kontrolldichte bei anerkannten Beurteilungsspielräumen der Kommission
  • I. Anerkannte Beurteilungsspielräume der Kommission außerhalb der Fusionskontrolle
  • II. Herleitung der Figur des offensichtlichen Beurteilungsfehlers
  • 1.) Exkurs zu Art. 33 Abs. 1 Satz 2 2. HS. EGKSV
  • (a) Bedeutungsgehalt des Auschlusses der gerichtlichen Kontrolle
  • (b) Rückausnahme bei Ermessensmissbrauch und offensichtlicher Verkennung des Vertrages
  • (c) Übertragbarkeit der Aussagen des Art. 33 EGKSV auf die heutige Rechtslage
  • III. Die Kontrolldichte im Rahmen des offensichtlichen Beurteilungsfehlers
  • IV. Ergebnis
  • D. Vergleich der Ergebnisse des Rechtsvergleichs aus Kapitel 2 mit den Vorgaben des Unionsrechts zur Kontrolldichte
  • E. Begriffsbestimmung Ermessen, Beurteilungsspielraum, Entscheidungsspielraum im Unionsrecht
  • Kapitel 4 Beurteilungsspielräume der Kommission bei der Anwendung der FVKO – eine Untersuchung der hierzu ergangenen Rechtsprechung
  • A. Aufbau des Abschnitts
  • B. Überblick über die europäische Fusionskontrolle als Untersuchungsgegenstand
  • I. Die Fusionskontrollverordnung VO Nr. 139/ 2004
  • II. Die Aufgreifkriterien
  • 1.) Der Zusammenschlussbegriff
  • 2.) Die Umsatzschwellen
  • III. Ausnahmen von der exklusiven Zuständigkeit der Kommission
  • IV. Eingreifkriterien
  • 1.) Die Marktabgrenzung
  • 2.) Die materielle Prüfung: Wettbewerbliche Würdigung der Auswirkungen des Zusammenschlusses
  • 3.) Wettbewerbliche Würdigung und der more economic approach
  • 4.) Kausalität
  • V. Das Prüfungsverfahren der Kommission unter besonderer Berücksichtigung der gerichtlich überprüfbaren Entscheidungen
  • 1.) Die Phase I
  • 2.) Die Phase II
  • 3.) Entscheidungen der Kommission, die keiner der beiden Phasen zugeordnet werden können
  • (a) Die Vereinbarkeitsfiktion des Art. 10 Abs. 6 FKVO
  • (b) Befreiung vom Vollzugsverbot
  • VI. Fazit
  • C. Rechtssprechung bis zum Jahr 2002
  • I. Air France I/Kommission
  • II. SIV u. a./Kommission
  • III. Kali & Salz/Kommission
  • IV. Gencor Ltd./Kommission
  • V. Endemol Entertainment Holding BV/Kommission
  • VI. Kesko/Kommission
  • VII. RJB Mining/Kommission
  • VIII. Auswertung der Rechtsprechung
  • D. Exkurs: Kontrolldichte im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung von Entscheidungen nach Art. 101 AEUV
  • I. Beurteilungsspielraum der Kommission bei Art. 101 Abs. 3 AEUV
  • II. Beurteilungsspielraum der Kommission bei Art. 101 Abs. 1 AEUV
  • III. Zwischenergebnis
  • E. Rechtsprechung ab dem Jahr 2002
  • I. Airtours/Kommission
  • II. Exkurs: Amtshaftungsklage My Travel
  • III. Schneider Electric/Kommission
  • IV. Exkurs: Amtshaftungsklage Schneider Electric
  • V. Tetra Laval/Kommission
  • 1.) Entscheidung des EuG
  • 2.) Entscheidung des EuGH
  • 3.) Zwischenfazit
  • VI. Royal Philips Electronics/Kommission und BaByliss/Kommission
  • VII. Petrolessence & SG2R/Kommission
  • VIII. Verband der freien Rohrwerke u.a/Kommission
  • IX. Cableuropa u. a./Kommission
  • X. ARD/Kommission
  • XI. EDP/Kommission
  • XII. General Electric/Kommission
  • XIII. Cementbouw Handel & Industrie/Kommission
  • XIV. easyJet Airline Co. Ltd./Kommission
  • XV. Impala/Kommission
  • 1.) Entscheidung des EuG
  • 2.) Entscheidung des EuGH
  • XVI. Sun Chemical Group u. a./Kommission
  • XVII. Omya AG/Kommission
  • XVIII. NVV u. a./Kommission
  • XIX. Qualcomm/Kommission
  • XX. Ryanair Holdings plc./Kommission
  • F. Zusammenfassung, Vergleich und Auswertung der Rechtsprechung
  • G. Die Durchführung der beschränkten gerichtlichen Kontrolle bei Beurteilungsspielräumen der Kommission durch das EuG
  • I. Der offensichtliche Beurteilungsfehler als Leerformel in der fusionskontrollrechtlichen Rechtsprechung
  • II. Die Remia-Formel in der fusionskontrollrechtlichen Rechtsprechung
  • III. Trennung zwischen Sachverhaltsfeststellung und Sachverhaltswürdigung nicht durchführbar
  • H. Die Begründung von Beurteilungsspielräumen der Kommission und einer damit korrespondierenden zurückgenommenen gerichtlichen Kontrolldichte im Lichte der Rechtsprechung und der Literatur
  • I. Einleitung
  • 1.) Die Kali & Salz-Formel
  • 2.) Komplexe wirtschaftliche Beurteilungen
  • 3.) Unterschiedliche Rechtschutzkonstellationen
  • 4.) Unterschiedliche Zusammenschlusstypen
  • 5.) Geringe normative Dichte fusionskontrollrechtlicher Normen
  • 6.) Prognostische Elemente der Fusionskontrolle
  • 7.) Wettbewerbspolitischer Spielraum der Kommission
  • 8.) Das institutionelle Gleichgewicht
  • (a) Das Modell der funktionsgerechten Aufgabenverteilung im Rahmen des Kartellverbots von Fritzsche
  • (b) Kritik
  • 9.) Die Übertragung anderer Konzepte auf die europäische Fusionskontrolle
  • 10.) Ökonomische Ansätze
  • 11.) Der Begründungsansatz von Kröninger
  • II. Fazit
  • Kapitel 5 Eine umfassende gerichtliche Kontrolle auf dem Gebiet der Fusionskontrolle als Gewährleistung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz
  • A. Das Gebot einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle als Element eines Rechts auf effektiven Rechtschutz
  • I. Vorüberlegung: Die Herleitung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz
  • 1.) Die Entwicklung der ungeschriebenen Grundrechte in der Rechtsprechung des EuGH
  • 2.) Die drei Quellen des Grundrechtsschutzes in der EU seit dem Vertrag von Lissabon
  • (a) Bedeutung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
  • (b) Bedeutung der EMRK
  • (c) Bedeutung der Grundrechte als Allgemeine Grundsätze i. S. d. Art. 6 Abs. 3 EUV
  • 3.) Die zukünftige Rolle der Unionsgrundrechte
  • II. Art. 47 GrCh als Entscheidung für ein subjektiv-rechtliches Rechtsschutzmodell zur Stärkung des Rechtsschutzes
  • (a) Das Recht auf effektiven Rechtsschutz als Leistungsgrundrecht
  • (b) Ursprünglich lediglich ausgestaltet als allgemeiner Rechtsgrundsatz
  • (c) Juristische Personen des Privatrechts als Grundrechtsträger
  • (d) Eingeschränkte Bedeutung des Art. 47 GrCh wegen der Erläuterungen der Präsidien der Konvente?
  • (e) Kein Bedeutungsverlust des Rechtschutzgebotes durch den verfahrensrechtlichen Gehalt der Unionsgrundrechte
  • III. Reichweite und Bedeutung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz
  • 1.) Das Recht auf effektiven Rechtsschutz beinhaltet verschiedene Teilgewährleistungen
  • 2.) Umfassende gerichtliche Kontrolle als Ausdruck des effektiven Rechtsschutzes im Bereich der Nichtigkeitsklage
  • 3.) Hohe gerichtliche Kontrolldichte als Ausgleich schwacher „checks and balances“ innerhalb der Kommission
  • 4.) Exkurs: Garantien des Art. 6 EMRK
  • 5.) Umfassenderer Grundrechtsschutz durch die Grundrechtecharta gestattet
  • 6.) Kein Gebot der Eigenständigkeit der Verwaltung aus Art. 41 GrCh
  • 7.) Mangelnde Verankerung einer umfassenden gerichlichen Kontrolle in den Verfassungen der Mitgliedstaaten unschädlich
  • 8.) Einschränkbarkeit des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz
  • 9.) Beurteilungsspielräume der Unionsorgane weiterhin denkbar
  • 10.) Inhalt des Gebots einer umfassenden Kontrolle
  • 11.) Fähigkeit des EuG zur umfassenden gerichtlichen Kontrolle im Bereich der Fusionskontrolle
  • 12.) Aber: Das EuG ist keine Widerspruchsbehörde
  • 13.) Auch keine Notwendigkeit von Beurteilungsspielräumen durch den More Economic Approach in Fusionskontrolle
  • 14.) Zwischenergebnis
  • B. Die Durchführung der gerichtlichen Kontrolle durch das EuG
  • I. Eigener Vorschlag
  • II. Kann-Bestimmungen in der VO Nr. 139/2004
  • III. Keine Flucht des EuG in ein zu hohes Beweismaß und zu hohe Beweisanforderungen
  • 1.) Umgehung der Kontrollaufgabe
  • 2.) Gefahr der Ineffektivität der Fusionskontrolle bei zu hohen Beweisanforderungen
  • 3.) Das Verhältnis von Beweismaß und Kontrolldichte zueinander
  • IV. Ausnutzung der Möglichkeiten des Prozessrechts durch das EuG
  • V. Einschaltung von Sachverständigen
  • VI. Reform der Unionsgerichtsbarkeit: Ein europäisches Fachgericht für Wettbewerb in der Zukunft?
  • Literaturverzeichnis

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Kapitel 1 Einleitung

A. Problemstellung

Die Bedeutung der europäischen Fusionskontrollverordnung1 als effektives Instrument zur Gewährleistung wirksamen Wettbewerbs nimmt seit ihrem Inkraftreten im Jahr 1989 stetig zu.2 Die Freigabe oder Untersagung eines Zusammenschlussvorhabens hat weitreichende Auswirkungen u. a. auf die beteiligten Unternehmen, Wettbewerber und Verbraucher. Daher kommt es in vielen Fällen im Anschluss zu einer gerichtlichen Überprüfung der Kommissionsentscheidung. Entweder wenden sich die am Zusammenschluss Beteiligten gegen die (Teil-) Untersagung ihres Vorhabens oder betroffene Dritte, wie z.B. Wettbewerber, klagen gegen die Freigabe eines Zusammenschlusses, der nach ihrer Auffassung hätte untersagt werden müssen, weil er den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt behindert.

In den ersten Jahren nach Inkrafttreten gab es so gut wie keine gerichtlichen Verfahren gegen Entscheidungen der Kommission im Bereich der Fusionskontrolle. Erst seit 1993 nehmen die Unternehmen vermehrt die Möglichkeit wahr, gerichtlichen Rechtsschutz gegen Entscheidungen der Kommission in Anspruch zu nehmen. In den ersten Verfahren beschäftigten sich die Richter fast ausschließlich mit dem Verfahrensrecht und der formellen Rechtmäßigkeit der Entscheidung.3 Klagen, die sich gegen materiellrechtliche Feststellungen in der Kommissionsentscheidung richteten, blieben zunächst ohne Erfolg.4 Dem ← 17 | 18 → EuG wurde vorgeworfen, es prüfe die Feststellungen der Kommission und ihre Würdigungen der Tatsachen nur unzureichend nach.5

Die Chancen eines gerichtlichen Vorgehens waren aus Sicht der Unternehmen aussichtslos.6 Versucht wurde entweder durch Verpflichtungszusagen eine Untersagung des Zusammenschlussvorhabens abzuwenden oder das Zusammenschlussvorhaben wurde ganz aufgegeben.7 Die ineffiziente gerichtliche Kontrolle, führte zu der Redewendung über der Kommission wache nur „der blaue Himmel“.8 Auch die Kommission selbst hatte die Probleme erkannt.9

Eine Wende stellt das Jahr 2002 dar. In diesem Jahr hob das EuG mit den Rechtssachen Airtours10, Schneider Electric11 und Tetra Laval12 erstmals drei Untersagungsentscheidungen der Kommission auf und löste damit eine ← 18 | 19 → Diskussion in Praxis und Wissenschaft über die Intensität des gerichtlichen Rechtsschutzes im Bereich der europäischen Fusionskontrolle aus, die bis heute anhält.13 Die drei Entscheidungen wurden u. a. als „sog. Schwarze Serie“14, „Prügel für die Kommission“15, „Tiefschlag für die Kommission“16, „Menetekel für die Kommission“17, „Wende der Kontrolldichte“18, „Desaster“19, „schmerzliche juristische Niederlage“20, „scathing slap-downs of the Competition Commission“21, „spektakuläre Misserfolgsserie“22, „schallende Ohrfeige aus Luxemburg“23 und das Jahr 2002 als „annus horribilis“24 für die Kommission bezeichnet. Manche sahen in den Entscheidungen bereits „eine neue Ära des gerichtlichen Rechtsschutzes“.25 Insbesondere in der Airtours-Entscheidung wird eine Absage des EuG an das bisher faktisch geltende „Fusionsprivileg“ der Kommission gesehen.26 ← 19 | 20 →

Das Gericht rügte in den Entscheidungen vor allem die mangelhafte Tatsachenermittlung der Kommission, ihre unzureichende Beweiswürdigung und ihre voreiligen Schlussfolgerungen.27 Die Akribie der Prüfung des EuG wurde als bemerkenswert empfunden.28 Ob jedoch tatsächlich die Kontrolldichte der europäischen Gerichte im Vergleich zu früheren Entscheidungen zugenommen und das EuG die „Kontrollschrauben erheblich angezogen“29 hat, ist umstritten.30

Vielfach wurde die Stärkung des effektiven Rechtsschutzes durch die Urteile begrüßt.31 Jedoch wird von anderer Seite kritisiert, dass die Anforderungen an die Kommission um ein Zusammenschlussvorhaben zu untersagen, zu hoch gelegt wurden, um einen effektiven Wettbewerbsschutz zu erzielen.32 Die Kommission selbst bemängelte, dass das EuG seine institutionellen Kompetenzen überschritten hätte und damit das institutionelle Gleichgewicht zwischen den Organen der Europäischen Union gestört wurde.33

Im Rahmen erstinstanzlicher verwaltungsgerichtlicher Prozesse vor dem EuG ist damit die Frage aufgeworfen, inwieweit d.h. mit welcher Intensität Kommissionsentscheidungen kontrolliert werden dürfen. Anders formuliert, ist umstritten, ob die Unionsrichter die Entscheidung in vollem Umfang überprüfen dürfen oder, ob es Bereiche gibt, in denen der Kommission ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zusteht. Vollkommen ← 20 | 21 → gerichtsfreie Räume der Verwaltung sind mit dem Rechtsprinzip34 und dem unionsrechtlichen Grundsatz des effektiven Rechtschutzes nicht vereinbar.35 Diese Untersuchung will diesen Fragen nachgehen und sie beantworten. Es wird dabei gezeigt werden, dass gerichtlich nur eingeschränkt kontrollierbare Beurteilungsspielräume der Kommission im Bereich der Fusionskontrolle weder notwendig für einen effizienten Wettbewerbsschutz noch sinnvoll sind. Vielmehr haben die beteiligten Zusammenschlussparteien und betroffene Dritte einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh).36 Effektiver Rechtsschutz kann nur gewährleistet werden, wenn den Unionsgerichten die Möglichkeit gegeben wird, die Entscheidung der Kommission umfassend zu kontrollieren.

Die Diskussion um die Intensität (verwaltungs-)gerichtlicher Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen ist nicht neu und beschäftigt Rechtsprechung und Literatur schon seit den Anfängen des nationalen Verwaltungsrechts.37 Auch ← 21 | 22 → auf europäischer Ebene ist die Kontrolldichte der europäischen Gerichte permanenter Gegenstand der Diskussion.38 Als Dauerthema des Verwaltungs- und Verfassungsrechts ist die verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte gegenüber Handlungen der Verwaltung ständig im Fluss.

Die Arbeit beschränkt sich auf die Kontrolldichte in der europäischen Fusionskontrolle. Gerichtliche Kontrolldichte hängt maßgeblich vom Sachgebiet ab und jedes Sachgebiet weist bereichsspezifische Besonderheiten auf.39 Eine Arbeit zur Kontrolldichte im Unionsrecht könnte nur schwerlich eine vernünftige und praxistaugliche Lösung bieten. Nur unter Vergröberungen und Verallgemeinerungen ließen sich allgemeingültige Kontrollparameter40 bestimmen. Das tatsächliche Ausmaß gerichtlicher Kontrolle ist abhängig von der Vernetzung diverser Kontrollparameter, die sich aus verschiedenen sachverhaltlichen, materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Gesichtspunkten ergeben können.41

Die Fusionskontrolle ist mit ihrer Verzahnung von Rechts- und Wirtschaftswissenschaften,42 bei deren Anwendung die Kommission u. a. komplexe Prognosen über Marktentwicklungen erstellen muss, anfällig für den Ruf nach besonders strenger aber auch besonders eingeschränkter gerichtlicher Kontrolle.43 ← 22 | 23 → Überdies ist der Bereich Kontrolldichte im Unionsrecht aufgrund der lückenhaften Gesetzgebung und dem Fehlen einer europäischen Verwaltungsrechtstradition besonders reizvoll.44 Wie noch gezeigt werden wird, unterscheiden sich die Kontrolldichtekonzepte in den einzelnen Mitgliedstaaten erheblich. So ist z.B. die Unterscheidung im deutschen Recht nach Freiräumen der Verwaltung auf der Tatbestands- oder der Rechtsfolgenseite einer Norm und die daraus korrespondiere unterschiedliche gerichtliche Überprüfung einzigartig im Vergleich zu den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten. Für das Unionsrecht darf daher nicht einfach die bekannte Dogmatik aus dem nationalen Recht übernommen werden, sondern es müssen zunächst einmal die Grundlagen des unionsrechtlichen Rechtsschutzes herausgearbeitet und dargestellt werden.45

Auch außerhalb des Fusionskontrollrechts wird die Intensität der gerichtlichen Kontrolle im Unionsrecht intensiv diskutiert. Insbesondere in folgenden Rechtsgebieten werden Beurteilungsspielräume der Kommission erwogen: im Außenwirtschaftsrecht, besonders bei Anti-Dumping- und Anti-Subventions-maßnahmen und Außenzöllen, im Agrarrecht sowie im Dienstrecht.46 Ein ← 23 | 24 → Vergleich mit der Kontrolldichte in diesen Rechtsgebieten würde jedoch den Umfang der Arbeit sprengen und ist wegen der jeweiligen bereichsspezifischen Besonderheiten auch nicht sinnvoll.

Es bietet sich allerdings ein Exkurs zu Entscheidungsspielräumen der Kommission und gerichtlicher Kontrolldichte im Rahmen des Kartellverbotes an. Die Kommission steht bei der Anwendung des Kartellverbotes vor vergleichbaren Schwierigkeiten, wie bei der Fusionskontolle. Aufgrund der Komplexität der Materie und der Vielgestaltigkeit von Wettbewerbsprozessen sind das Kartellrecht und auch die Fusionskontrolle von einem hohen Anteil unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln gekennzeichnet.47 Hierdurch wird die Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung erheblich erschwert.

Die Thematik der Kontrolldichte im Rahmen gerichtlichen Rechtsschutzes gibt im Ergebnis Aufschluss über das institutionelle Verständnis im modernen Rechtsstaat und dem Verhältnis zwischen judikativer und exekutiver Gewalt und ihren jeweiligen Grenzen der Eigenständigkeit und Letztverbindlichkeit. So wird vielfach argumentiert, die Unionsgerichte seien keine „Oberbehörde“ oder „Super-Kommission“ und dürften nicht den Ehrgeiz entwickeln an der Stelle der Kommission tätig zu werden.48

Aus Sicht der beteiligten Unternehmen geht es um die Gewährung effektiven Rechtsschutzes gegen Verwaltungsentscheidungen und Wahrung ihrer grundrechtlich geschützten unternehmerischen Handlungs- und Eigentumsfreiheit.

Die Arbeit behandelt das letzte Stadium einer Verwaltungsentscheidung, die gerichtliche Kontrolle. Art und inhaltliche Tiefe der gerichtlichen Kontrolle setzten jedoch auch Maßstäbe für die vorherigen Stationen einer Verwaltungsentscheidung.49 ← 24 | 25 →

B. Gang der Untersuchung

Die gerichtliche Kontrolle und die Einräumung von Entscheidungsspielräumen zugunsten der Verwaltung können in verschiedenen Rechtsordnungen höchst unterschiedlich ausgestaltet sein. Grund hierfür sind insbesondere unterschiedliche Verwaltungs- und Verfassungstraditionen des jeweiligen Staates. Das unionsrechtliche Rechtsschutzsystem ist durch mehrere nationale Rechtsordnungen beeinflusst. Vor einer Darstellung des Rechtsschutzsystems der Europäischen Union und seinen normativen und allgemeinen Vorgaben zur Kontrolldichte ist es für ein besseres Verständnis erforderlich, administrative Entscheidungsspielräume und ihre gerichtiche Kontrolle in ausgewählten Mitgliedstaaten, die besonders prägend für das unionsrechtliche Rechtsschutzsystem waren, darzustellen und rechtsvergleichend zu untersuchen. Diese Untersuchung erfolgt in Kapitel 2.

Zunächst sollen jedoch noch im Kapitel 1 besonders prägende Begriffe für diese Untersuchung auf ihren Aussagegehalt hin untersucht werden und ihre Verwendung in dieser Untersuchung festgelegt werden (Kapitel 1 D). Im Anschluss erfolgt eine Darstellung der europäischen Fusionskontrolle im System des Wettbewerbsschutzes in der Europäischen Union (Kapitel 1 E).

Im Anschluss an die rechtsvergleichende Darstellung in den Mitgliedstaaten erfolgt eine Untersuchung des Rechtsschutzsystems der Europäischen Union (Kapitel 3). Wichtigste Klageart im Bereich der Fusionskontrolle ist die Nichtigkeitsklage. Es werden daher ihre Voraussetzungen dargestellt und insbesondere die Klagegründe einer näheren Überprüfung unterzogen. Hieran anschließend werden die Vorgaben des europäischen Primärrechts sowie allgemeine Vorgaben wie z.B. die Prozessmaximen auf ihre Aussagen und Anforderung an die gerichtliche Kontolldichte bei der Überprüfung von Entscheidungen der Kommission hin untersucht. (Kapitel 3 B IIff.)

Sodann soll ein Blick darauf geworfen werden, auf welche Art und Weise den Unionsorganen Beurteilungsspielräume zugestanden werden können und aus welchen Gründen den Organen im sonstigen Unionsrecht außerhalb des Wettbewerbsrechts Beurteilungsspielräume gewährt werden. (Kapitel 3 C I und II)

In einem nächsten Schritt wird untersucht, anhand welcher Kontrollparameter die Unionsgerichte anerkannte Beurteilungsspielräume der anderen Unionsorgane gerichtlich kontrollieren. (Kapitel 3 D)

Die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse über die grundsätzliche Ausgestaltung des gerichtlichen Rechtsschutzes in der EU und die Vorgaben zur Kontrolldichte werden als Abschluss von Kapitel 3 mit den Erkenntnissen des Rechtsvergleiches in Kapitel 2 verglichen. (Kapitel 3 E) ← 25 | 26 →

Nach der allgemeinen Darstellung der Kontrolldichteproblematik im nationalen und allgemeinen Unionsrecht, soll in Kapitel 4 die Rechtsprechung der europäischen Gerichte im Bereich der europäischen Fusionskontrolle auf ihre Kontrolldichte hin untersucht werden. Zentrale Fragen sind, wann und aus welchen Gründen die Unionsgerichte einen Beurteilungsspielraum gewähren und wie sie diese Spielräume kontrollieren im Unterschied zu Bereichen, in denen der Kommission kein Spielraum zugestanden wird (Kapitel 4 C). Zuvor wird die Fusionskontrolle als Untersuchungsgegenstand kurz dargestellt und insbesondere untersucht gegen welche Maßnahmen oder Handlungen, die die Kommission im Laufe der Prüfung eines Zusammenschlussvorhabens trifft, überhaupt die Möglichkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes offensteht (Kapitel 4 B). Die Darstellung der Rechtsprechung erfolgt in zwei verschiedenen Abschnitten. Zunächst wird die Rechtsprechung bis zum Jahr 2002 (Kapitel 4 C) dargestellt und im Anschluss daran, die Rechtsprechung seit 2002. (Kapitel 4 E) Dazwischen erfolgt ein Exkurs zur gerichtlichen Kontrolldichte im Rahmen von Entscheidungen zum Kartellverbot nach Art. 101 AEUV. (Kapitel 4 D)

Anschließend werden die einzelnen Begründungsansätze für einen Beurteilungsspielraum der Kommission dargestellt und gezeigt, dass diese Ansätze nicht in der Lage sind, einen Beurteilungsspielraum ausreichend zu rechtfertigen und das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz einzuschränken (Kapitel 4 H). Im letzten Kapitel wird daher das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz hergeleitet und aufgezeigt, dass insbesondere Art. 47 GrCh das Gebot einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle verlangt und die Durchführung einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle möglich ist.

C. Beschränkung des Themas

Rechtlich spannende Fragen bezüglich der Fusionskontrolle und der Kontrolldichte im verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz existieren zuhauf. Sie können nicht alle in dieser Untersuchung beantwortet werden, so dass der Untersuchungsgegenstand im Folgenden eingeschränkt werden muss.

Prozessrechtliche Beschränkungen wie Klagefristen oder Anforderungen an die Klagebefugnis können den Kontrollumfang des Gerichtes verkürzen, ohne dass die Frage nach exekutiven Beurteilungsspielräumen tangiert wird. Jeder Rechtsstreit muss im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens irgendwann beendet sein, daher kennt jede Prozessordnung Klagefristen und Präklusionsvorschriften. Ist zum Beispiel eine Klage verfristet oder fehlt dem potentiellen Kläger die subjektive Betroffenheit ist die Klage unzulässig. Es findet bereits gar keine materiellrechtliche Kontrolle der Klage durch das Gericht ← 26 | 27 → statt. Kontrolldichtereduzierungen allein aufgrund prozessualer Beschränkungen werden daher nicht untersucht.50

Viele Mitgliedstaaten haben ein eigenes Fusionskontrollrecht, welches von nationalen (Wettbewerbs-)behörden angewendet wird und gerichtlich nur von nationalen Gerichten überprüft wird. Anders als im Kartellrecht wenden nationale Wettbewerbsbehörden nicht die FKVO an. Daher gibt es im Bereich der FKVO auch keine Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 AEUV.51 Folglich ist nicht zu thematisieren, ob eine bestimmte Prüfdichte vor den europäischen Gerichten Folgen für den Prüfdichtemaßstab nationaler Gerichte hat.52 Konkrete Vorgaben für das nationale Recht könnten aus dem unionsrechtlichen Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes oder dem effet utile Prinzip folgen, welches mitgliedstaatliche Organe und Institutionen zum gleichmäßigen und wirksamen Vollzug verpflichtet.53 Diese Gebote stellen Vorgaben für die Kontrolldichte nationaler Gerichte bei der Kontrolle von unionsrechtlich beeinflussten Rechtspositionen auf und fordern ein geeignetes nationales Verfahrens- und Prozessrecht, welches den mitgliedstaatlichen Gerichten die Möglichkeit gibt, ← 27 | 28 → das Unionsrecht effektiv zur Geltung und Durchsetzung zu bringen.54 Dem steht teilweise der Grundsatz verfahrensrechtlicher Autonomie der Mitgliedstaaten entgegen.55

Ebenfalls ausgespart wird die gerichtliche Überprüfung bei der Festsetzung von Bußgeldern nach Art. 14, 15 FKVO. Art. 16 FKVO sieht in diesem Fall i. V. m. Art. 261 AEUV eine unbeschränkte Ermessensprüfung durch den Unionsrichter vor. Der Unionsrichter hat die Möglichkeit, seine Entscheidung an die Stelle der Kommission zu setzen und Bußgelder herab- oder heraufzusetzen.56

Weiterhin nicht untersucht wird die Kontrolldichte der europäischen Gerichte bei Klagen im einstweiligen Rechtsschutz.57 Die Arbeit befasst sich auch nicht mit der Abgrenzung richterlicher Befugnisse von EuG als Tatsachen- und dem EuGH als Rechtsmittelinstanz und der Kontrolldichte im Rechtsmittelverfahren.58 Im Anschluss an fehlerhafte Untersagungsentscheidungen der Kommission haben einige Zusammenschlussparteien Amtshaftungsklage auf Schadensersatz gegen die Europäische Union erhoben. Diese Entscheidungen werden nur auf ihren Aussagegehalt für Beurteilungsspielräume der Kommission hin untersucht und nicht hinsichtlich den Voraussetzungen und der Kontrolldichte in Amtshaftungsverfahren. ← 28 | 29 →

D. Terminologie

Viele der in der Untersuchung verwendeten Begriffe haben in den unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen unterschiedliche Bedeutungen. Eine Verwendung ohne vorherige Bestimmung ihrer Bedeutung für diese Untersuchung könnte zu Missverständnissen führen. Es werden daher im folgenden Abschnitt der Begriff der Kontrolldichte und die Bezeichnungen der Unionsorgane bestimmt. Ebenfalls hochgradig unbestimmt sind die Begriffe Ermessen, Beurteilungsspielraum und Entscheidungsfreiraum. Ihr Gehalt kann jedoch erst nach der rechtsvergleichenden Darstellung des nationalen Rechts und des Unionsrechts bestimmt werden.59 Vorläufig soll jedoch festgehalten werden, dass mit einer Verwendung der Begriffe Ermessen und Beurteilungsspielraum nicht an die deutsche Dogmatik angeknüpft werden soll, sondern ganz allgemein Entscheidungsspielräume der Verwaltung gemeint sind.

I. Kontrolldichte

Statt des Terminus „Kontrolldichte“60 werden im deutschen Sprachgebrauch vielfach auch folgende Begriffe verwendet: „Kontrollschärfe“, „Kontrollintensität“61, „Kontrollgenauigkeit“62, „Prüfdichte“, Nachprüfungsintensität“63, „Intensität des ← 29 | 30 → verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes“64, „Grad der richterlichen Kontrolle“65 „Nachprüfungsradius der Verwaltungsgerichte“66, „Reichweite verwaltungsgerichtlicher Kontrolle“67, „Nachprüfungsweite“68, „Kontrollniveau“69 sowie „innere Grenzen der richterlichen Kontrollbefugnis“70.

Mit dem Begriff „Kontrolldichte“ wird ein bestimmtes Ausmaß an gerichtlicher Überprüfungsintensität umschrieben.71 Wer der „Erfinder“ des Begriffs Kontrolldichte ist, ist unklar.72 Es handelt sich dabei nicht um einen exakten juristischen Begriff, sondern um eine „vage Sammelbezeichnung für zum Teil sehr unterschiedliche Erscheinungen“.73

Das Ausmaß der gerichtlichen Kontrolle ist abhängig von den angewandten Kontrollparametern, bzw. Kontrolltopoi oder der jeweiligen Fehlertypologie anhand welcher ein bestimmter Lebenssachverhalt überprüft wird. Der Terminus darf insoweit nicht missverstanden werden, es geht nicht um eine möglichst dichte Kontrolle, sondern um Rechtsschutz durch richterliche Rechtskontrolle.74 ← 30 | 31 → Es handelt sich um einen prozessrechtlichen Begriff75, welcher hauptsächlich im Rahmen verwaltungsgerichtlicher Überprüfung administrativer Rechtsanwendung verwendet wird, weil hier anders als im Zivilprozess, der betroffene Lebenssachverhalt bereits durch ein anderes staatliches Organ ermittelt und rechtlich bewertet wurde. Verwaltungsgerichte sind somit zur nachträglichen Kontrolle von behördlichen Entscheidungen berufen.76 Die administrative Rechtsanwendung soll „aus einer bestimmten Distanz“ untersucht werden.77

Mit dem Thema Kontrolldichte ist daher auch immer die Frage der Gewaltenteilung zwischen Behörde und (Verwaltungs-)gericht direkt verbunden.78 Es geht um die Bestimmung der horizontalen Kompetenzverteilung zwischen dem EuG und der Kommission. Der Konflikt bzw. das Kompetenzproblem entsteht dadurch, dass beide Organe über dieselbe Fragen nacheinander entscheiden.79

Ebenfalls Aspekt einer bestimmten Kontrolldichte ist die Frage, ob die behördliche Entscheidung bloß für nichtig erklärt wird oder, ob das Gericht ← 31 | 32 → die behördliche Entscheidung durch eine eigene ersetzen darf.80 Kein Aspekt der Kontrolldichte ist die Entscheidung, ob das Verwaltungshandeln überhaupt einer gerichtlichen Kontrolle unterliegt, also die Frage nach dem Zugang zur gerichtlichen Kontrolle.

Der Begriff ist eigentlich neutral und beschreibt nur, dass verschiedene Formen der Überprüfungsintensität bestehen können, allerdings wird der Begriff in der juristischen Diskussion oftmals je nach Blickwinkel positiv oder negativ besetzt, um auszudrücken, dass das Gericht oder die Behörde zu wenig oder zu viel Kompetenzen besitzt.81

Im englischen Sprachgebrauch wird der Begriff „judicial review“ als Oberbegriff für procedural und substantive judicial review verwendet.82 Vereinzelt wird ebenfalls in der deutschen Literatur der Begriff Kontrolldichte nur für die gerichtliche Kontrolle der materiellrechtlichen Rechtsanwendung verwendet.83

Typische Kontrolldichteformen sind neben der Vollkontrolle, die Willkür-, Plausibilitäs- und die Evidenzkontrolle.

Abzugrenzen ist der Begriff der Kontrolldichte vom dem im Rechtsmittelverfahren üblichen Begriff des Prüfungs- oder Kontrollumfangs, der die Zulässigkeit des Rechtsmittels bestimmt, während die Kontrolldichte sowohl im erstinstanzlichen Prozess als auch im Rechtsmittelprozess die Begründetheit betrifft.84 Der Kontrollumfang im Rechtsmittelverfahren bestimmt, ob durch das Rechtsmittelgericht nur Rechtsfragen oder auch Tatsachenfragen überprüft werden dürfen und wie diese beiden Bereiche abgegrenzt werden. In dieser Untersuchung, die sich nur mit der Kontrolldichte im erstinstanzlichen Verfahren beschäftigt, werden die Begriffe Kontrollintensität und Kontrollumfang synonym für den Begriff Kontrolldichte verwendet. ← 32 | 33 →

II. Die Unionsgerichte

Durch den Vertrag von Lissabon85 wurden die Namen der Unionsgerichte gerändert. Die Neubenennung gilt als wenig gelungen.86 Allerdings wurden die Begriffe Gerichtshof, europäischer Gerichtshof auch schon vor dem Vertrag von Lissabon uneinheitlich verwendet.87 Nach Art. 19 Abs. 1 EUV umfasst der Gerichtshof der Europäischen Union den Gerichtshof, das Gericht sowie die Fachgerichte. Im weiten Sinne wird mit dem Begriff „Gerichtshof der Europäischen Union“ das gesamte Organ der Rechtsprechung mit seinen Gerichten „Gerichtshof“, „Gericht“ und „Fachgerichten“ beschrieben,88 wodurch auch deutlich wird, dass es sich bei dem Gericht oder den Fachgerichten nicht um eigenständige Organe der EU handelt.89 Der Begriff Gericht erster Instanz wurde mit dem Vertrag von Lissabon abgeschafft und ersetzt durch den Begriff „Gericht“.90 Mit ← 33 | 34 → Art. 19 EUV werden die bisherigen gerichtlichen Kammern nach Art. 225a EGV a. F. sprachlich treffender von nun an als Fachgerichte bezeichnet.91 Zum besseren Verständnis werden die Begriffe Europäischer Gerichtshof und EuGH nur für die oberste Instanz des Gerichtshofes der Europäischen Union verwendet.92 Für die Eingangsinstanz des Gerichtshofs der EU, – das ehemalige Gericht erster Instanz – werden in dieser Arbeit die Begriffe „Gericht“ oder „EuG“ verwendet, es sei denn es handelt sich um Entscheidungen des Gerichts vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon. Der Begriff Unionsgerichte umschreibt im Folgenden ausschließlich die Gerichte des Organs Gerichtshof der Europäischen Union und nicht auch nationale Gerichte der Mitgliedstaaten, soweit sie Unionsrecht anwenden und kontrollieren.

E. Der Schutz des Wettbewerbs im Unionsrecht

Im folgenden Abschnitt wird ein Überblick über das europäische Wettbewerbsrecht und insbesondere das Recht der Fusionskontrolle93 als Untersuchungsgegenstand gegeben.

Der 1952 geschlossene Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKSV) und der 1958 geschlossene Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) waren die ersten völkerrechtlichen Verträge, die zwingende Vorschriften zum Schutz des Wettbewerbs enthielten.94

Ziel der Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist es durch Steuerung des Wettbewerbs, die Funktionsfähigkeit der marktwirtschaftlichen Ordnung zu erhalten bzw. wiederherzustellen.95 Die Fusionskontrolle ist ein Teilbereich des Wettbewerbsrechts. ← 34 | 35 →

Bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 war eine der vorrangigen Aufgaben der Europäischen Gemeinschaft die Errichtung eines Systems, dass den Wettbewerb im Binnenmarkt vor Verfälschungen schützt (Art. 3 Abs. 1 lit. g EG a. F.). Die europäischen Wettbewerbsregeln96 als Teil der europäischen Wirtschaftsverfassung dienten dieser Verwirklichung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs.97 Mit der Neuordnung der Ziele der Europäischen Union98 durch den Vertrag von Lissabon fehlt ein vergleichbares Ziel im Vertrag. Erwähnt wird das System des unverfälschten Wettbewerbs nur noch im Protokoll über den Binnenmarkt.99 Wie und ob überhaupt sich die Streichung aus dem Vertrag und die Verschiebung des Zieles eines unverfälschten Wettbewerbs auf die europäische Wettbewerbspolitik und die Praxis der Behörden und Gerichte auswirken werden, ist umstritten.100 ← 35 | 36 →

Die Europäische Union garantiert ein System der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, Art 119 AEUV ohne einem bestimmten ordnungspolitischem Leitbild anzuhängen. Der Einfluss verschiedener wettbewerbspolitischer Leitbilder auf die Fusionskontrolle, insbesondere die der Harvard101 und Chicago School102 lässt sich sowohl in den Auf- und Eingreifkriterien als auch in der Entscheidungspraxis der Kommission und der Unionsgerichte nachweisen.

Schutzzweck der europäischen Wettbewerbsregeln ist nicht nur der Schutz der wirtschaftlichen Freiheit der Marktteilnehmer, sondern des Wettbewerbs als Institution in allen seinen Erscheinungsformen.103 Das System eines unverfälschten ← 36 | 37 → Wettbewerbs ist jedoch kein Selbstzweck, sondern dient der Verwirklichung der allgemeinen Vertragsziele der Europäischen Union.104 Daneben besitzen die Wettbewerbsregeln eine integrationspolitische Funktion durch Förderung und Sicherung der Verschmelzung der Einzelmärkte zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum durch Wettbewerb (Marktintegrationsfunktion). Diese Schlüsselrolle hat sowohl historische wie systematische Gründe.

I. Das Verhältnis der Fusionskontrolle zum sonstigen europäischen Kartellrecht

Das europäische Wettbewerbsrecht ist unterteilt in Bestimmungen für Unternehmen, bei denen Unternehmen die Verbotsadressaten sind und solche über staatliche Beihilfen, bei denen die Mitgliedstaaten Verbotsadressaten sind.

Zweck der Fusionskontrolle ist es, die Wirkungen, die von veränderten Unternehmens- und Marktstrukturen ausgehen, zu kontrollieren und den mit einer Marktbeherrschung105 verbundenen Gefahren vorbeugend zu begegnen. Es soll verhindert werden, dass Unternehmen Verhaltensspielräume eröffnet werden, die durch Wettbewerb nicht kontrolliert werden können. Art. 101 AEUV verbietet horizontale und vertikale wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und gleichwirkende Maßnahmen zwischen zwei oder mehreren Unternehmen, weil hierdurch die Dispositionsfreiheit der Unternehmen im Wettbewerb beschränkt wird. Maßgebliches Abgrenzungskriterium zwischen Kartellabsprachen und Unternehmenszusammenschlüssen ist das Mittel der Unternehmenspolitik: bei Kartellen der Vertrag, bei Unternehmenszusammenschlüssen die gesellschaftsrechtliche Strukturveränderung.106 Ziel des Kartells ist die Wettbewerbsbeschränkung als solche, womit eine ← 37 | 38 → Preisgestaltung bezweckt wird, während der Unternehmenszusammenschluss die Wettbewerbsbeschränkung nur als zwangsläufigen Nebeneffekt durch die veränderte Unternehmensstruktur bewirkt.107

Die Missbrauchsaufsicht durch Art. 102 AEUV verbietet die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung. Ziel der ex post Kontrolle ist der Schutz des „in seiner Handlungsfreiheit geschützten Personenkreises gegenüber der Unausweichlichkeitswirkung von Marktmacht bei ganz bestimmten, konkreten Einzelverhaltensweisen“.108 Die Erfassung von Behinderungs- und Ausbeutungsstrategien ist Ordnungsaufgabe des Missbrauchsverbots. Ziel der Fusionskontrolle ist nach der Auffassung von Möschel eine Unternehmenskonzentration zu verhindern, „die die strukturellen Wettbewerbsbedingungen auf dem Markt derart verändert, dass die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs nicht mehr gewährleistet wird oder aber die Chance für ein Wiederaufleben des erlahmten Wettbewerbs sich noch mehr verschlechtert.“109 Die Regeln zur Fusionskontrolle befassen sich mit Änderungen der Marktstruktur während die Missbrauchsaufsicht das Marktverhalten reguliert.110 Durch eine Zusammenschlusskontrolle sollen die Wettbewerbsvorsprünge aufgrund überragender Marktmacht verhindert werden, welche durch eine Verhaltenskontrolle nicht wirksam erfassbar wären.111

Unternehmenszusammenschlüsse haben Auswirkungen auf die vorhandene Wettbewerbsstruktur, in dem die Zahl der in der Volkswirtschaft tätigen Akteure verringert wird und so grundsätzlich Monopolisierungstendenzen gefördert werden.112 Neben den Wirkungen auf den Wettbewerb haben Zusammenschlüsse ← 38 | 39 → auch einzel- und gesamtwirtschaftliche113 Effekte.114 Zusammenschlüsse sind jedoch nicht per se unerwünscht, sondern können auch positive Wirkungen entfalten.115 Als Mittel zur Kostensenkung erhöhen sie die wirtschaftliche Effizienz und steigern die Wettbewerbsfähigkeit der beteiligten Unternehmen.116 Die Parteien eines Zusammenschlusses wollen einen Konkurrenzvorsprung erzielen. Auf europäischer Ebene ist ein weiterer positiver Aspekt, dass grenzüberschreitende Zusammenschlüsse die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und damit die Europäische Integration vorantreiben.117

Details

Seiten
496
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653051162
ISBN (ePUB)
9783653975482
ISBN (MOBI)
9783653975475
ISBN (Hardcover)
9783631657676
DOI
10.3726/978-3-653-05116-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Januar)
Schlagworte
Nichtigkeitsklage Effektiver Rechtsschutz Art. 47 GrChr Beurteilungsspielraum der Kommission Rechtsschutz vor den europäischen Gerichten
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 496 S.

Biographische Angaben

Laura Börger (Autor:in)

Laura Börger ist Richterin in Berlin. Sie studierte Rechtswissenschaften in Berlin und in Paris. Das Referendariat absolvierte sie am Kammergericht Berlin mit Station u.a. im Referat für Prozessführung vor den Europäischen Gerichten im Bundeswirtschaftsministerium. 2014 erfolgte die Promotion an der FU Berlin.

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Titel: Die gerichtliche Kontrolldichte bei der Überprüfung von Entscheidungen der Europäischen Kommission auf dem Gebiet der Fusionskontrolle
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