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Quo vadis, DaF? II

Betrachtungen zu Deutsch als Fremdsprache in den Ländern der Visegrád-Gruppe Mit Beiträgen von Magdalena Białek, Silke Gester, Julia Haußmann, Erika Kegyes und Iveta Kontríková

von Silke Gester (Band-Herausgeber:in) Erika Kegyes (Band-Herausgeber:in)
©2015 Sammelband 428 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch ist eine aktuelle Studie zu Deutsch als Fremdsprache in den Ländern der Visegrád-Gruppe. Es behandelt die Stellung von DaF in den einzelnen Bildungsstufen von der Vorschule bis hin zur Universität und widmet sich zudem der Thematik des lebenslangen Lernens. Aufgrund von starken ökonomischen Verflechtungen zwischen den deutschsprachigen Ländern und Polen, Tschechien, Ungarn sowie der Slowakei befasst sich ein Kapitel speziell mit Fremdsprachen in der Wirtschaft. Für die Arbeit wurden zahlreiche europäische sowie nationale Dokumente und Studien ausgewertet, darüber hinaus sind die eigenen Forschungsergebnisse der Autorinnen in die Betrachtungen eingeflossen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Vorwort
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Allgemeines
  • 1.2 Die Länder der Visegrád-Gruppe
  • 1.3 Die Bildungssysteme in den Ländern der Visegrád-Gruppe
  • 1.3.1 Das Bildungssystem in Polen
  • 1.3.2 Das Bildungssystem in Tschechien
  • 1.3.3 Das Bildungssystem in Ungarn
  • 1.3.4 Das Bildungssystem in der Slowakei
  • 2 Deutsch in der Lernbiografie
  • 2.1 Frühkindliche Bildung
  • 2.1.1 Frühkindliche Bildung in Polen
  • 2.1.2 Frühkindliche Bildung in Tschechien
  • 2.1.3 Frühkindliche Bildung in Ungarn
  • 2.1.4 Frühkindliche Bildung in der Slowakei
  • 2.1.5 Untersuchung – Fremdsprachenunterricht im Kindergarten
  • 2.2 Grundschulbildung
  • 2.2.1 Grundschulbildung in Polen
  • 2.2.2 Grundschulbildung in Tschechien
  • 2.2.3 Grundschulbildung in Ungarn
  • 2.2.4 Grundschulbildung in der Slowakei
  • 2.2.5 Fremdsprachenunterricht in der Grundschule
  • 2.2.5.1 Untersuchung – Fremdsprachenunterricht in der Grundschule, Befragung der Eltern
  • 2.2.5.2 Untersuchung – Fremdsprachenunterricht in der Grundschule, Befragung der Schüler
  • 2.3 Mittelschulbildung
  • 2.3.1 Mittelschulbildung in Polen
  • 2.3.2 Mittelschulbildung in Tschechien
  • 2.3.3 Mittelschulbildung in Ungarn
  • 2.3.4 Mittelschulbildung in der Slowakei
  • 2.3.5 Untersuchung – Fremdsprachenunterricht in der Mittelschule
  • 2.4 Tertiäre Bildung, lebenslanges Lernen
  • 2.4.1 Tertiäre Bildung, lebenslanges Lernen in Polen
  • 2.4.2 Tertiäre Bildung, lebenslanges Lernen in Tschechien
  • 2.4.3 Tertiäre Bildung, lebenslanges Lernen in Ungarn
  • 2.4.4 Tertiäre Bildung, lebenslanges Lernen in der Slowakei
  • 2.4.5 Untersuchung – Fremdsprachen auf dem Arbeitsmarkt
  • 3 Deutsch in der Wirtschaft
  • 3.1 Allgemeines
  • 3.1.1 Deutsch in der Wirtschaft Polens
  • 3.1.2 Deutsch in der Wirtschaft Tschechiens
  • 3.1.3 Deutsch in der Wirtschaft Ungarns
  • 3.1.4 Deutsch in der Wirtschaft der Slowakei
  • 3.2 Untersuchung – Fremdsprachenbedarf in der Wirtschaft in den Ländern der Visegrád-Gruppe
  • 4 Zusammenfassung und Ausblick
  • Abstract
  • Streszczenie
  • Resumé
  • Összefoglaló
  • Resumé
  • Literaturverzeichnis
  • Internetquellen
  • Anhang
  • Verzeichnis der Abbildungen
  • Verzeichnis der Tabellen
  • Namensverzeichnis von polnischen Behörden und Institutionen
  • Namensverzeichnis von tschechischen Behörden und Institutionen
  • Namensverzeichnis von ungarischen Behörden und Institutionen
  • Namensverzeichnis von slowakischen Behörden und Institutionen
  • Verzeichnis der in der Arbeit verwendeten polnischen Dokumente
  • Verzeichnis der in der Arbeit verwendeten tschechischen Dokumente
  • Verzeichnis der in der Arbeit verwendeten ungarischen Dokumente
  • Verzeichnis der in der Arbeit verwendeten slowakischen Dokumente
  • Fragebogen 1 – Fremdsprachen im Kindergarten
  • Fragebogen 2 – Fremdsprachen in der Grundschule (Eltern)
  • Fragebogen 3 – Fremdsprachen in der Grundschule (Schüler)
  • Fragebogen 4 – Fremdsprachen in der Mittelschule (Schüler)
  • Fragebogen 5 – Fremdsprachenbedarf in der Wirtschaft
  • Über die Autorinnen

← 16 | 17 → 1 Einleitung

1.1 Allgemeines

Europa ist vielsprachig, denn auf diesem Kontinent gibt es viel mehr als nur die 24 offiziellen Amtssprachen der Europäischen Union. Die menschliche Sprache ist nicht allein das Verständigungsmittel zwischen den Angehörigen einer Sprachengemeinschaft, sie ist mehr – sie ist Heimat, Kultur, sie ist das Sein an sich. Jede Sprache hat in unserer Welt ihren ganz besonderen Platz. Trotz der Sprachenvielfalt ist das Wissen um ein gemeinsames Kommunikationsmittel für die Begegnung von Kulturen und deren Verständigung wesentlich. Und es lohnt sich auch aus anderem Grund, über die eigene Muttersprache hinauszuschauen. Die Kulturmitglieder1 erschließen sich Fremdsprachen einerseits, um sich verständigen zu können, andererseits jedoch auch, um sich einander zu öffnen, um voneinander zu lernen. Die Interaktion mit dem „Fremden“ hilft dem Menschen, seine eigene Muttersprache zu reflektieren, sich seines eigenen kulturellen Hintergrunds, seiner eigenen Existenz besser bewusst zu werden. Fremdsprachen haben sich jedoch nicht nur zur Notwendigkeit der Verständigung zwischen den Kulturen, sondern auch zu einem in der globalisierten Welt unerlässlichen Erfordernis für die Entwicklung der modernen Wirtschaft und für eine Vielzahl von Kultur- und Bildungsfeldern entwickelt.

Die Annäherung verschiedenster Völker und Kulturen erfordert einen breiten Dialog sowie aktive Fremdsprachenkenntnisse weiter Teile der Bevölkerung. Bei der Beschäftigung mit Sprache und Bildung werden also unweigerlich Staat und Gesellschaft im Zusammenhang mit der Umsetzung des Bildungsauftrags in den Diskurs eingeführt. „Die Qualifikation der Bevölkerung ist aus ökonomischer Sicht von besonderer Bedeutung, da sie sich positiv auf das Leistungsvermögen der Volkswirtschaft auswirkt. Für den Einzelnen verbessert ein hoher Bildungsstand die Chancen auf dem Arbeitsmarkt und die aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ (Statistisches Bundesamt 2014).2 Mit ihrer Fremdsprachenpolitik ← 17 | 18 → verfolgen die Staaten spezifische ökonomische und außenpolitische Ziele. Bei Grin findet sich folgende Definition: „Sprachenpolitik ist die Gesamtheit systematischer, vernünftiger und theoretisch fundierter Bemühungen, die eine Sprachsituation im Hinblick auf das Gesamtwohl der betreffenden Gemeinschaft der Sprachbenutzer verbessern soll. Sie wird von offiziellen Körperschaften ausgeführt und richtet sich auf die Bevölkerung (oder einen Teil von ihr), die der Jurisdiktion dieser Organe unterliegt“ (Grin 2003: 30 zitiert in Dovalil 2010: 43). Die nationale Fremdsprachenpolitik der in der vorliegenden Publikation untersuchten Länder der Visegrád-Gruppe können jedoch nicht isoliert betrachtet werden, denn hier spielt in der heutigen Zeit vor allem eine europäische Dimension mit hinein.

Nicht allein die fortschreitende Vernetzung der Welt, Migration, grenzübergreifende Zusammenarbeit, sondern auch der sich verschärfende globale Wettbewerb bedingen, dass den Menschen eine solche Bildung zuteil werden muss, die sie in die Lage versetzt, die Herausforderungen des neuen Jahrtausends erfolgreich zu meistern. Die Fremdsprachen nehmen hierbei eine besondere Stellung ein. Auch die Europäische Union hat den Handlungsbedarf erkannt und gleich mehrere Dokumente zur Sprachenpolitik auf den Weg gebracht, so beispielsweise die 2005 in Brüssel verabschiedete „Neue Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit“, die den Ausgangspunkt der Forderung nach Muttersprache plus zwei Fremdsprachen (Eins plus zwei) bildet. Die Mitteilung ergänzt den „Aktionsplan der Kommission zur Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt (2004 – 2006)“. Sie beinhaltet drei Grundlinien der EU-Politik im Bereich Mehrsprachigkeit: (1) den Zugang zu Rechtsprechung, Verfahren und Informationen der EU für alle Bürgerinnen und Bürger in der jeweiligen Landessprache, (2) die Betonung und weitere Stärkung der wichtigen Rolle der Sprachen und der Mehrsprachigkeit in der europäischen Wirtschaft sowie (3) die Ermutigung aller Bürgerinnen und Bürger, mehr Sprachen zu lernen und zu sprechen, um das gegenseitige Verstehen und die Kommunikation zu verbessern. Eine der zu erlernenden Fremdsprachen sollte der globalen Verständigung dienen, die zweite legt den Fokus auf lokale Kommunikation (Sprache der Nachbarländer, innerhalb multinationaler Regionen usw.). In beiden Dokumenten wird explizit darauf hingewiesen, dass „Englisch allein nicht genügt“. Die Staaten sind aufgefordert, nationale Pläne auszuarbeiten, den Aktionen zugunsten der Mehrsprachigkeit eine Struktur zu geben, ihre Kohärenz zu sichern und ihnen die Richtung vorzugeben.

Im Bericht über die Durchführung des Aktionsplans „Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt“ von 2007 heißt es, von der Kommission und den Mitgliedsstaaten seien signifikante Fortschritte bei der Umsetzung ← 18 | 19 → der im Aktionsplan ausgewiesenen Maßnahmen gemacht worden. Es wird allerdings angemahnt, dass gerade bei der Lehrerweiterbildung der Fokus immer noch zu stark auf der englischen Sprache liege.

Am 18. September 2008 gab die Kommission eine Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen mit dem Titel „Mehrsprachigkeit: Trumpfkarte Europas, aber auch gemeinsame Verpflichtung“3 heraus, in der Maßnahmen aufgezeigt sind, die ergriffen werden sollten, um sicherzustellen, dass die Mehrsprachigkeit zur Förderung von sozialem Zusammenhalt und Wohlstand in allen Politikbereichen, in denen dies erforderlich ist, zu einem Querschnittsthema wird. Das Ziel „Eins plus zwei“ bildet nach wie vor die Grundlage der Initiativen, wenngleich festgestellt wird, dass „die Mitgliedsstaaten noch weit von diesem Ziel entfernt sind“. Noch im gleichen Jahr, nämlich am 21. November 2008, kam es zur Verabschiedung der Entschließung des Rates zu einer europäischen Strategie für Mehrsprachigkeit4. Darin wurden Schritte formuliert, welche die EU im Interesse der Förderung des Fremdsprachenunterrichts und zum Schutz der sprachlichen Vielfalt unternehmen sollte.

Mit den „Schlussfolgerungen des Rates zu einem strategischen Rahmen für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung“ („ET 2020“)5, die ein Jahr später auf den Weg gebracht wurden, soll auf die Herausforderungen reagiert werden, die bei der Schaffung eines wissensbasierten Europas und bei der Verwirklichung von lebenslangem Lernen noch zu bewältigen sind. Die Europäische Kommission wird explizit dazu aufgerufen, den Fremdsprachenunterricht stärker zu fördern. Außerdem beinhaltet das Dokument erneut die Forderung, dass alle Bürger der EU die Möglichkeit haben sollten, die in der Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Ra← 19 | 20 → tes von 2006 definierten notwendigen acht Schlüsselkompetenzen6 zu erwerben, im Einzelnen: muttersprachliche Kompetenz, fremdsprachliche Kompetenz, mathematische Kompetenz und grundlegende naturwissenschaftlich-technische Kompetenz, Computerkompetenz, Lernkompetenz, soziale Kompetenz und Bürgerkompetenz, Eigeninitiative und unternehmerische Kompetenz sowie Kulturbewusstsein und kulturelle Ausdrucksfähigkeit.

In den folgenden Jahren erscheint das Thema Mehrsprachigkeit nicht selten im Zusammenhang mit einer höheren Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt, so beispielsweise in den „Schlussfolgerungen des Rates über Sprachkompetenz zur Förderung der Mobilität“7 vom November 2011, die im Ergebnis der Tagung des Bildungsministerrates angenommen wurden. Hier finden sich Benchmarks für die Mobilität in den Bereichen Hochschule und berufliche Bildung, die besagen, dass bis 2020 durchschnittlich 20 Prozent der Hochschulabsolventen eine mindestens dreimonatige Ausbildungsphase im Ausland absolvieren sollen; für 6 Prozent derjenigen jungen Menschen, die einen Beruf erlernen, besteht der Auslandsaufenthalt in einem zweiwöchigen Praktikum.

Globalisierung ist und bleibt das magische Zauberwort, das allerorts für die zunehmende weltweite Verflechtung in allen nur denkbaren Bereichen steht. Sie bringt jedoch nicht nur Positives für die Menschen. Angesichts der immer noch spürbaren Auswirkungen der Eurokrise beispielsweise, die Europa eher paralysiert als voranbringt, vor allem jedoch aufgrund der hohen Jugendarbeitslosigkeit, die im EU-Durchschnitt aktuell bei etwa 23 Prozent liegt, kamen in den zurückliegenden Monaten nicht zuletzt die Bildungssysteme in den Mitgliedsländern auf den Prüfstand. Im Ergebnis dessen stellte die Kommission am 20. November 2012 eine neue Strategie mit dem Titel „Neue Denkansätze für die Bildung“ vor. Androulla Vassiliou, EU-Kommissarin für Bildung, Kultur, Mehrsprachigkeit und Jugend, erklärte:

„Bei den neuen Denkansätzen für die Bildung geht es nicht allein um die Finanzierung: Zwar muss sicherlich mehr in die allgemeine und berufliche Bildung investiert werden, doch ebenso notwendig ist es, die Bildungssysteme zu modernisieren und in die Lage zu versetzen, flexibler auf die realen Bedürfnisse unserer heutigen Gesellschaft zu reagieren.“

← 20 | 21 → Den Fremdsprachen kommt in diesem Papier eine besondere Rolle zu, Zitat: „Neue Benchmark zum Erlernen von Fremdsprachen: Bis 2020 sollten mindestens 50 Prozent der 15-Jährigen über hinreichende Kenntnisse in einer Fremdsprache verfügen (derzeit sind es 42 Prozent), und mindestens 75 Prozent sollten eine zweite Fremdsprache erlernen (derzeit 61 Prozent).“8

Wie die in den Dokumenten formulierten Ziele und Prinzipien in den Bildungssystemen der untersuchten Länder implementiert wurden und inwieweit sich die erwarteten Ergebnisse einstellen, soll in der vorliegenden Arbeit näher beleuchtet werden. Dabei wird vor allem die Stellung der Fremdsprachen zu betrachten sein, mit besonderem Blick auf die deutsche Sprache, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des markanten Rückgangs der Lernerzahlen in den ehemaligen Ostblockstaaten.

Deutsch ist in der Europäischen Union mit 16 Prozent die meistgesprochene Muttersprache. Englisch hingegen ist in 19 von 25 Ländern, in denen es nicht den Status der offiziellen Amtssprache innehat, die auf Platz eins rangierende Fremdsprache9 und gehört in fast allen Ländern Europas fest zum Curriculum der Schulen. Dem Eurydice-Bericht von 2012 zufolge lernen im europäischen Vergleich beispielsweise über 70 Prozent der Kinder an den Grundschulen Englisch. Französisch und Deutsch werden als „weit abgeschlagen“ in Bezug auf die in dieser Bildungsstufe unterrichteten Fremdsprachen bezeichnet.10 Für die Länder der Visegrád-Gruppe, die ausnahmslos eine Außengrenze mit mindestens einem deutschsprachigen Land verbindet, dürfte diese Kategorisierung allerdings nur bedingt zutreffen. Dennoch weisen einschlägige Statistiken auch in Mittel- und Osteuropa schon seit Jahren einen Abwärtstrend bei den Zahlen derjenigen Menschen, die sich Deutsch als Fremdsprache aneignen, aus. So publiziert das Netzwerk Deutsch, das aus Vertretern des Auswärtigen Amtes, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), des Goethe-Instituts (GI) und der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA) zur Förderung von Deutsch als Fremdsprache besteht, alle fünf Jahre die umfangreichste und aktuellste Erhebung zu Deutsch als Fremdsprache.11 Diese Statistik verzeichnete im Jahr 2010 weltweit insgesamt 14.042.789 Deutschlerner. Das bedeutet um 2.675.912 weniger als noch im Jahr 2005. In den Ländern des ehemaligen ← 21 | 22 → Ostblocks gab es dabei einen besonders markanten Rückgang an Lernerzahlen. Die nächsten Erhebungen folgen 2015. Es ist nicht davon auszugehen, dass sich dann dieser Trend umgekehrt haben wird. Ein deutliches Anzeichen dafür stellt nicht zuletzt die sinkende Anzahl von Hochschuleinrichtungen für klassische Germanistik dar.

Erfreulicherweise ist jedoch die Zahl der Staaten mit Deutschunterricht weltweit auf 119 angewachsen. Diese Ausbreitung wird vor allem durch die sogenannten Kulturmittler als Ausgestalter der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik Deutschlands12, zu denen das Goethe-Institut, die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen des Bundesverwaltungsamtes (ZfA), die Alexander von Humboldt-Stiftung der Bundesrepublik Deutschland sowie der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) gehören, gefördert. Der DAAD, die weltweit größte Förderorganisation ihrer Art, ermöglicht seit 85 Jahren jedes Jahr Akademikerinnen und Akademikern aus der ganzen Welt, internationale Erfahrungen zu sammeln. Eines der wichtigsten Anliegen des Vereins ist die Stärkung der Germanistik und der deutschen Sprache im Ausland, indem er DAAD-Lektorenprogramme vermittelt oder Sprachassistenzprogramme anbietet. Darüber hinaus verfügt er über ein weltweites Netz von 54 Informationszentren, die für den Bildungs- und Forschungsstandort Deutschland werben. Der DAAD wird aus Mitteln verschiedener Ministerien, vor allem des Auswärtigen Amtes, und der Europäischen Union finanziert.13

Die ZfA mit Sitz in Köln betreut weltweit etwa 1.000 Schulen personell und finanziell, an denen die Schüler u.a. die Möglichkeit haben, das Deutsche Sprachdiplom der Kultusministerkonferenz (DSD)14 zu erwerben. Das 1972 ins Leben gerufene DSD ist eine schulische Sprachprüfung, die auf allen drei Niveaustufen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR)15 abgelegt werden kann.

← 22 | 23 → Großer Beliebtheit erfreuen sich zudem die international anerkannten Sprachprüfungen des Goethe-Instituts, die ebenfalls auf allen Niveaustufen des GeR angeboten werden, so z.B. die Goethe-Zertifikate Fit in Deutsch (für Jugendliche) und Start Deutsch (für Erwachsene), Deutsch für den Beruf oder TestDaF, das vor allem als Sprachnachweis für den Hochschulzugang dient.16 Das 1951 gegründete Goethe-Institut, ein gemeinnütziger Verein mit Hauptsitz in München, besitzt weltweit ein Netzwerk aus insgesamt 149 Goethe-Instituten, 39 Goethe-Zentren, 141 deutsch-ausländischen Kulturgesellschaften, zahlreichen Lesesälen sowie Prüfungs- und Sprachlernzentren. Auch in den Ländern der Visegrád-Gruppe wurde ein dichtes Netz geknüpft. So gibt es in Polen17 gleich 2 Goethe-Institute, und zwar eines in Kraków und eines in Warschau, darüber hinaus 6 Kooperationspartner, 8 Lesesäle bzw. Kooperationsbibliotheken und 12 Prüfungspartner. In Tschechien befindet sich das Goethe-Institut in der Hauptstadt Prag, außerdem gibt es 3 Kooperationspartner sowie 5 Lesesäle. Landesweit haben Interessenten die Möglichkeit, bei einem der 12 Partner eine DaF-Prüfung abzulegen. Das ungarische Goethe-Institut hat seinen Sitz in Budapest, außerdem sind 2 Kooperationspartner, 11 Partnerbestände in Bibliotheken und 8 Prüfungspartner um die Förderung der deutschen Kultur und Sprache bemüht. In der Slowakei sitzt das Goethe-Institut in Bratislava, darüber hinaus findet man im Land 2 Lesesäle und 7 Prüfungspartner. Besonders erwähnenswert sind die vom Goethe-Institut initiierten landesweiten Imagekampagnen mit zahlreichen Partnern, wie beispielsweise „Šprechtíme“ in Tschechien oder die „Deutsch-Wagen-Tour“ in Polen.18 In Ungarn konnten sich Interessenten aus Anlass der Fußballweltmeisterschaft 2014 an einer spannenden Übungsreihe rund um den Ballsport beteiligen.

Groß angelegte Projekte, wie die Initiative des Auswärtigen Amtes in Zusammenarbeit mit der ZfA, dem Goethe-Institut, dem DAAD und dem Pädagogischen Austauschdienst (PAD) „Schulen: Partner der Zukunft“ (PASCH) oder „Sprachen ohne Grenzen“ des Goethe-Instituts verfolgen ebenfalls das Ziel, den Abwärtstrend der Lernerzahlen zu mindern, indem sie das Ansehen der deutschen Sprache stärken und Lernanreize schaffen. Die folgende Tabelle zeigt das aktuelle Engagement Deutschlands in den Ländern der Visegrád-Gruppe.

← 23 | 24 → Tab. 1: PASCH-Schulen in den Ländern der Visegrád-Gruppe (Quelle: http://www.pasch-net.de/)

Die Bundesrepublik Deutschland steht jedoch mit ihrem Bemühen um die Verbreitung der deutschen Sprache nicht allein da. Drei von vier Ländern der Visegrád-Gruppe grenzen an Österreich, folglich gibt es auch zahlreiche österreichische institutionelle Förderer. Auf staatlicher Ebene kümmert sich das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit dem Referat „Kultur und Sprache“ um den Bereich Deutsch als Fremdsprache. Hier werden Weiterbildungsmaßnahmen organisiert, Landeskundematerialien produziert und verschiedene Projekte durchgeführt.19 Darüber hinaus ist das Ministerium auch für die Österreichischen Schulen im Ausland zuständig. Von den derzeit 8 Auslandsschulen befinden sich 3 in den V4-Ländern, und zwar das Österreichische Gymnasium in Prag sowie die Österreichische Schule und die Österreichisch-Ungarische Europaschule in Budapest.20 Zudem entsendet die 1961 von der österreichischen Rektorenkonferenz gegründete österreichische Agentur für internationale Mobilität und Kooperation in Bildung, Wissenschaft und Forschung (OeAD GmbH) mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft (BMWFW) Österreich-Lektoren an ausländische Hochschulen, vor allem an Germanistikinstitute. Daneben bietet die OeAD DaF-Praktika und Sprachassistenzprogramme in Österreich an.21

Die Auslandskulturpolitik der Republik Österreich wird konzeptiv und organisatorisch vom Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (BMEIA) gestaltet. Zur Erreichung ihrer Ziele steht ein umfassendes Netz von Vertretungsbehörden und speziellen Institutionen zur Verfügung. Eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der auslandskulturpolitischen Ziele des Bundesministeriums spielen die derzeit weltweit 30 unterhaltenen Österreichischen ← 24 | 25 → Kulturforen. Sie sind auf die spezifischen Anforderungen der jeweiligen lokalen Nutzer und Partner ausgerichtet und arbeiten inhaltlich eigenverantwortlich. In Polen gibt es zwei: in Warschau und in Kraków. Das 1965 gegründete Österreichische Kulturforum in Warschau war das erste, was hinter dem Eisernen Vorhang entstand. Das Österreichische Kulturforum in Budapest blickt ebenfalls auf ein fast vierzigjähriges Bestehen zurück, das in Prag entstand 1993. Darüber hinaus befindet sich ein Kulturforum in der Hauptstadt der Slowakei. Hauptziele der Einrichtungen sind die Präsentation der Kultur Österreichs und die Pflege der kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen zwischen den Ländern.22

Auf Initiative der Kulturpolitischen Sektion des österreichischen Bundesministeriums für Europa, Integration und Äußeres entstanden die Österreich-Bibliotheken, um die deutsche Sprache in den Ländern des ehemaligen Ostblocks nach 1989 zu verbreiten. Mittlerweile gibt es sie an 62 Standorten in mehr als 25 Staaten. In der Tschechischen Republik befinden sich derzeit 7, und zwar in Brno, České Budějovice, Liberec, Olomouc, Opava, Pilsen und Znojmo, in Polen 6 (Warschau, Wrocław, Kraków, Opole, Poznań, Przemyśl), in Ungarn 5 (Budapest, Pécs, Debrecen, Szeged, Szombathely) und in der Slowakei 2 (Bratislava und Košice).23 Darüber hinaus hilft der gemeinnützige Verein Österreich Kooperation in Wissenschaft, Bildung und Kunst (Österreich-Kooperation) mit Sitz in Wien bei der Auswahl, Entsendung und Betreuung der österreichischen Lektoren und Praktikanten an ausländischen Universitäten.24

Eine weitere, vom Außenministerium betriebene Einrichtung, die sich speziell der Lehre von Deutsch als Fremdsprache verschrieben hat, sind die Österreich-Institute, die aktuell im Ausland an 9 Standorten vertreten sind, darunter in allen Visegrád-Ländern mit Niederlassungen in Warschau, Wrocław, Kraków, Brno, Budapest und Bratislava. Das Österreich-Institut wurde 1997 als gemeinnützige Gesellschaft mbH zur Durchführung von Deutschkursen, zur Unterstützung und Förderung des Deutschunterrichts im Ausland sowie zur Kooperation mit nationalen und internationalen Organisationen gegründet. Eigentümer der Gesellschaft ist die Republik Österreich, die Vertretung des← 25 | 26 → Eigentümers nimmt das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten wahr.25

Das Österreichische Sprachdiplom (ÖSD) ist ein gemeinnütziger Verein und wurde 1994 auf Initiative der österreichischen Bundesministerien für auswärtige Angelegenheiten, für Unterricht und Kultur sowie für Wissenschaft und Forschung eingeführt. Es stellt ein mehrstufiges, am Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR) orientiertes Prüfungssystem dar, dessen Grundlage eine plurizentrische Sprachauffassung des Deutschen ist. Weltweit gibt es derzeit über 200 lizensierte Prüfungszentren in mehr als 30 Ländern, 16 davon befinden sich in Ungarn, 15 in Tschechien, 9 in Polen und 8 in der Slowakei.26

Die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik beider Staaten27 dient übergeordneten Zielen, wie z.B. der Förderung und Pflege internationaler Partnerschaften, die wiederum die deutsche bzw. österreichische Export- und Importwirtschaft und den Gewinn hoch qualifizierter Arbeitskräfte unterstützen. Nicht zuletzt ist sie auch ein Mittel, Werte und Ideen zu vermitteln und durch Austausch und Verständigung den Frieden in der Welt zu stärken.

1.2 Die Länder der Visegrád-Gruppe

Die Visegrád-Gruppe (nach der ungarischen Stadt Visegrád), auch als V4 bezeichnet, entstand am 15. Februar 1991 mit der Unterzeichnung eines gemeinsamen Abkommens durch die damalige Tschechoslowakei, Polen und Ungarn. In erster Linie ging es um die Lösung gemeinsamer Probleme sowie die Integration in die europäischen Strukturen. Auch die kulturelle Zusammenarbeit stellte von Beginn an eines der wichtigsten Anliegen dar. Darüber hinaus unterhalten die V4-Länder diplomatische Vertretungen im Ausland. Im Folgenden werden die Eckdaten der einzelnen Länder hinsichtlich ihrer Geografie, Bevölkerungsstruktur und Sprachen angeführt.28

← 26 | 27 → Tab. 2: Die Länder der Visegrád-Gruppe im Überblick 29 30

Das bevölkerungsreichste Land in der V4-Gruppe ist die Republik Polen (in der Landessprache: Rzeczpospolita Polska) mit 38.533.299 Einwohnern, dahinter folgen die Tschechische Republik (in der Landessprache: Česká republika) mit 10.516.125 Einwohnern und die Republik Ungarn (in der Landessprache: Magyarország) mit 9.908.798 Einwohnern. Die Slowakische Republik (in der Landessprache: Slovenská republika) weist mit 5.410.836 Einwohnern die ← 27 | 28 → geringste Bevölkerungszahl auf. In allen vier Ländern gingen die Geburtenraten seit 2008/2009 wieder zurück, nachdem sie nach der Jahrtausendwende einen leichten Aufwärtstrend erfahren hatten. Dies wird vor allem mit der Wirtschaftskrise ab 2007 in Zusammenhang gebracht und bleibt auch im Bildungswesen nicht ohne Konsequenzen.31

Bezogen auf die territoriale Ausdehnung der Länder ergibt sich eine andere Reihenfolge: Polen: 312.700 Quadratkilometer, Ungarn: 93.000 Quadratkilometer, Tschechien: 77.300 Quadratkilometer, Slowakei: 49.000 Quadratkilometer. Die Länder der Visegrád-Gruppe umfassen also zusammen genommen eine Fläche von 532.000 Quadratkilometern (etwa so groß wie Frankreich – ohne seine Überseegebiete). Alle vier Länder haben Außengrenzen mit mindestens einem deutschsprachigen Land. Mit den deutschsprachigen Nachbarn verbinden die Länder nicht nur die gemeinsame Geschichte oder kulturelle Kontakte, sondern vor allem die wirtschaftliche Zusammenarbeit, der wir in der vorliegenden Arbeit ein separates Kapitel widmen. Dadurch wird die deutsche Sprache auch im Zeitalter der allgegenwärtigen englischen Sprache als ein wichtiges Kommunikationsmittel empfunden, und die Beherrschung von Deutsch ist auf dem Arbeitsmarkt von Vorteil.

Nicht zuletzt aufgrund des allerorts beklagten Rückgangs von Lernerzahlen in den Ländern Ostmitteleuropas, sondern auch aufgrund starker Parallelen der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung vor der Wende 1989 lohnt sich an dieser Stelle ein kurzer Blick zurück auf die Situation des Fremdsprachenlernens in den hier betrachteten Staaten. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Tschechoslowakische Sozialistische Republik, die Volksrepublik Polen und die Volksrepublik Ungarn dem Warschauer Pakt angehörten, spielte Deutsch als Fremdsprache in den offiziellen Curricula keine besondere Rolle. Aus bündnispolitischen Gründen heraus wurde Russisch nicht nur in den Ländern der Visegrád-Gruppe zur ersten und einzigen Pflichtfremdsprache erklärt, es blieb jedoch weitgehend unpopulär und wurde nicht selten bewusst gemieden. Vielmehr stieg Deutsch zu jener Zeit zum wichtigsten Verständigungsmittel im Ostblock auf.32 Für die Bürger der V4-Gruppe bedeutete dies, dass sie die Sprache des Bruderlandes Deutsche Demokratische Republik erlernten. Sie hatten die Möglichkeit, durch vielfältige, auf allen Ebenen großzügig geförderte Programme und Kontakte die Sprache zu erleben, wohingegen die Alltagsanwendung der ← 28 | 29 → russischen Sprache kaum möglich war. Englisch lag zu jener Zeit in der Rangliste der Fremdsprachen weit hinter Deutsch. Es wurde, wie alle westlichen Sprachen, aus ideologischen Gründen nicht nur im Bildungswesen gewollt marginalisiert.

Der Systemwechsel und die Öffnung der Länder brachten zu Beginn der 1990er Jahre ein enormes Interesse an Fremdsprachen aller Art. Diese Zeit eines fast euphorischen Aufsaugens allen Wissens in überfüllten Klassenräumen mit völlig veraltetem Lehrmaterial und wenigen technischen Hilfsmitteln ist noch weitgehend geprägt von einem ausgewogenen Interesse zwischen Englisch und Deutsch. In den folgenden Jahren sollte sich dieses Verhältnis jedoch immer stärker in Richtung der englischen Sprache verschieben. Mittlerweile hat sich Englisch weitgehend seinen Platz als universelles Kommunikationsmittel des 21. Jahrhunderts erobert. Englisch ist in 40 Ländern der Erde Amtssprache, weltweit sprechen es etwa 350 Millionen Menschen als Muttersprache, und in der Europäischen Union sind 88 Prozent der Menschen der Ansicht, Englisch sei eine der beiden für sie persönlich wichtigsten Sprachen.33

Alle vier Länder sind im Jahre 2004 der Europäischen Union beigetreten, wodurch die offiziellen Amtssprachen dieser Länder, nämlich Polnisch, Tschechisch, Ungarisch und Slowakisch, zu Amtssprachen der EU wurden. Die polnische Sprache (polszczyzna, język polski), die tschechische Sprache (čeština, český jazyk) und die slowakische Sprache (slovenština, slovenský jazyk) gehören zum westslawischen Zweig der indogermanischen Sprachfamilie, die ungarische Sprache (magyar nyelv) wird dem finnougrischen Zweig der uralischen Sprachfamilie zugerechnet. Die meisten Einwohner der V4-Länder sprechen die Amtssprache ihres Landes als Muttersprache (Ungarn: 99 Prozent, Tschechien: 98 Prozent, Polen: 95 Prozent, Slowakei: 88 Prozent).34 Alle Sprachen außer Polnisch gelten im europäischen Maßstab als „kleine Sprachen“35, das heißt, es sind Kultursprachen mit relativ wenigen natürlichen Sprachträgern, im Vergleich etwa zum Deutschen oder zum Polnischen, der nach Russisch weltweit am häufigsten gesprochenen slawischen Sprache. In Ländern wie Tschechien, Ungarn oder der Slowakei kommt dem Erwerb und der Kenntnis von Fremdsprachen traditionell ein hoher Stellenwert zu. Unter den Mitgliedern der Nation herrscht ein tiefes Bewusstsein darüber, dass man sich nur in seltenen ← 29 | 30 → Fällen der Muttersprache bedienen kann, wenn es um die Kommunikation mit Angehörigen anderer Völker geht.

In den untersuchten Ländern leben ethnische und nationale Minderheiten, denen auf der Grundlage nationaler und europäischer Gesetze36 verschiedene Individual- und Gruppenrechte zustehen. Damit haben die Mitglieder der Minderheitengruppen oft auch das (nationale) Recht auf Schul- und Ausbildung in ihrer Muttersprache oder verfügen sogar über ein eigenes Schulsystem. Da dies sowohl die Lernerzahlen als auch die Lerneinstellung Fremdsprachen gegenüber beeinflussen kann, wollen wir an dieser Stelle auf die Minderheiten in den V4-Ländern näher eingehen.

In Polen leben insgesamt neun nationale Minderheiten: Weißrussen, Tschechen, Litauer, Deutsche, Armenier, Russen, Slowaken, Ukrainer und Juden, wobei die deutsche Minderheit mit 144.238 Mitgliedern die größte ist, gefolgt von Weißrussen (43.880) und Ukrainern (38.797).37 Verfassungsgemäß haben die nationalen Minderheiten in Polen u.a. das Recht auf Verhaltensfreiheit sowie die Bewahrung und Entwicklung der eigenen Sprache, Tradition und Kultur. Nicht alle Minderheiten nehmen jedoch ihre Rechte in Anspruch. Bis heute haben Russen und Tschechen auf polnischem Gebiet keinen Unterricht in ihren Sprachen organisiert. Führend dagegen sind hier die Deutschen. Im Jahre 2011 nahmen 37.538 Schüler am Unterricht in Deutsch als Sprache der deutschen Minderheit teil. Zum Vergleich lassen sich die wesentlich geringeren Zahlen für Weißrussland und die Ukraine anführen: 30.541 weißrussische Schüler werden in ihrer Muttersprache unterrichtet, 2.642 auf Ukrainisch.38 Die meisten Schulen mit Deutsch als Minderheitensprache befinden sich in Opole (dt. Oppeln) und Umgebung.

Die zahlenmäßig größten Gruppen der zwölf anerkannten ethnischen Minderheiten in Tschechien stellen die Slowaken (knapp 200.000 Menschen) und die Roma (nach Schätzungen etwa eine Viertel Millionen Menschen) dar, außerdem ← 30 | 31 → Polen und Deutsche, deren Anteil knapp 0,4 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes ausmacht.39 Die übrigen Minderheiten erreichen nur einen Bruchteil der Bevölkerungszahl der Tschechischen Republik. Da Tschechien den Schutz der Minderheiten in der Verfassung verankert und einschlägige internationale Abkommen ratifiziert hat, steht den Minderheiten u.a. das Recht auf Bildung in ihrer Muttersprache zu. Aktuell gibt es einige Kindergärten und Schulen mit Polnisch als Unterrichtssprache, die größtenteils entlang der polnischen Grenze zu finden sind.

In Ungarn leben insgesamt 13 ethnische Minderheiten: Roma, Deutsche, Slowaken, Kroaten, Serben, Polen, Armenier, Rumänen, Griechen, Bulgaren, Slowenen, Russen und Ukrainer, wobei die deutsche Minderheit mit heute etwa 132.000 Mitgliedern neben der Minderheit der Roma die größte darstellt.40 Die Minderheiten haben Anspruch auf Unterricht in ihrer Muttersprache. Dies gibt den Minderheitenverwaltungen das Recht, eigene Bildungseinrichtungen auf allen Bildungsstufen zu unterhalten, in denen die Minderheitensprache als Haupt- oder Nebenunterrichtssprache gilt. Auch viele Nicht-Mitglieder der Minderheiten nutzen derartige Angebote, um eine intensivere Ausbildung im Bereich der Fremdsprachen zu erhalten.

In der Slowakei leben neben Slowaken (85,8 Prozent der Bevölkerung) auch mehrere nationale Minderheiten und Ethnika, und zwar Ungarn (9,5 Prozent), Roma (1,8 Prozent), Tschechen (0,8 Prozent), Ruthenen (0,4 Prozent), Ukrainer (0,2 Prozent) und Deutsche (0,1 Prozent), die auch hier das Recht auf Bildung in ihrer Muttersprache haben. So gibt es in den Gebieten, wo der Bevölkerungsanteil an Angehörigen von Minderheiten höher liegt, Kindergärten, Grundschulen, Mittelschulen und Gymnasien mit der jeweiligen Muttersprache als Unterrichtssprache. Die ungarische Minderheit besitzt sogar eine Universität (János-Selye-Universität in Komárno). Es kann folglich behauptet werden, dass mehr als 10 Prozent der Bewohner ← 31 | 32 → der Slowakei zweisprachig sind, sie also neben Slowakisch auch die Sprache einer Minderheit sprechen.41

Dem jüngsten Eurobarometer „Die europäischen Bürger und ihre Sprachen“ aus dem Jahre 2012 zufolge können sich etwas mehr als die Hälfte aller Menschen in der EU (nämlich 54 Prozent) in mindestens einer weiteren Sprache unterhalten. Insgesamt 25 Prozent sprechen zwei Sprachen und 10 Prozent sind in der Lage, in drei Sprachen zu kommunizieren. Im Vergleich zur letzten Erhebung aus dem Jahre 2005 ist für die EU ein leichter Abwärtstrend in Bezug auf die Beherrschung von Fremdsprachen zu beobachten. Zwar wurde in einigen Ländern ein Zuwachs in der Anzahl der Menschen, die mindestens eine Fremdsprache beherrschen (z.B. Finnland, Österreich), und in manchen Ländern unter denjenigen, die zwei Fremdsprachen sprechen (z.B. Italien, Irland), verzeichnet, für die Länder der Visegrád-Gruppe stellt sich diese Situation jedoch nicht so optimistisch dar. Im Gegenteil: Hier sanken die Anteile an Befragten, die mindestens eine Fremdsprache beherrschen, und zwar in der Slowakei um 17 Prozentpunkte auf 80 Prozent, in der Tschechischen Republik um 12 Punkte auf 49 Prozent, in Polen um 7 Punkte auf 50 Prozent sowie in Ungarn um 7 Punkte auf 35 Prozent. Auch in der Gruppe derjenigen Länder, in denen nach eigener Aussage der Befragten der Anteil an Personen, die zwei Fremdsprachen beherrschen, deutlich zurückgegangen ist, rangieren mit Ungarn mit -14 Prozentpunkten auf 13 Prozent und Polen mit -10 Prozentpunkten auf 22 Prozent zwei V4-Staaten auf den vorderen Plätzen. Unter den Ländern, in denen die geringste Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Menschen eine Fremdsprache sprechen, ist laut der Studie Ungarn sogar Spitzenreiter mit 65 Prozent, gefolgt von Italien (62 Prozent) sowie Großbritannien und Portugal (jeweils 61 Prozent). Wie sich dieser deutliche Abwärtstrend bei den einzelnen Fremdsprachen in den Ländern der Visegrád-Gruppe darstellt, zeigt die folgende Tabelle. Bei der Fremdsprache (FS) handelt es sich jeweils um einen Grad der Sprachbeherrschung, der eine Unterhaltung möglich macht. Die Vergleichszahlen beziehen sich auf die vorhergehende Eurobarometer-Studie 243 aus dem Jahre 2005. Zum besseren Verständnis haben wir die Werte der V4-Länder denen von Deutschland (D) und Österreich (A) gegenübergestellt.

← 32 | 33 → Tab. 3: Aktuelle Tendenz der Sprecherzahlen von Fremdsprachen in den V4-Ländern, Deutschland und Österreich (Quelle: Eurobarometer 386)

Die rückläufigen Zahlen für die Visegrád-Gruppe werden von den Autoren der Eurobarometer-Studie mit der ‘verloren gegangenen’ Generation in den postkommunistischen Ländern begründet. Gemeint ist damit, dass viele Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Lage gewesen waren, Deutsch zu sprechen bzw. die in der Schule Russischunterricht hatten, inzwischen verstorben sind oder im Laufe der Zeit die Sprache verlernt haben.42 Von Interesse erscheint weiterhin die Tatsache, dass die Menschen in Ungarn (12 Prozent), in Tschechien (17 Prozent), in Polen (18 Prozent) und in der Slowakei (18 Prozent) diejenigen sind, die mit besonders geringer Wahrscheinlichkeit Englisch ausreichend gut verstehen können, um Presseartikel in dieser Sprache zu lesen.43 Demgegenüber fallen die Ergebnisse sowohl für Deutschland als auch für Österreich erheblich besser aus. Österreich weist im Vergleich zur Erhebung von 2005 die höchsten Steigerungsraten aus. Auch in Bezug auf den Anteil der Menschen, die zwei oder ← 33 | 34 → drei Fremdsprachen sprechen, haben beide Länder die Nase vorn. Einzige Ausnahme ist hier die Slowakei. Die ausgesprochen guten Werte basieren jedoch darauf, dass die slowakischen Befragten Tschechisch als Fremdsprache angaben, umgekehrt die Tschechen Slowakisch jedoch nicht.

Die Auflistungen und Vergleiche des statistischen Zahlenmaterials ließen sich noch weiter fortsetzen, dennoch wird bereits aus der vorstehenden Tabelle eines deutlich: In den V4-Ländern sind – abgesehen von einigen geringfügig positiven Werten beim Zuwachs der Englischkenntnisse in Polen und Tschechien – in allen Kategorien für die zurückliegenden Jahre negative Tendenzen deutlich erkennbar, und dies trotz der Tatsache, dass die EU zahlreiche Dokumente und Initiativen auf den Weg gebracht hat, um das Niveau der fremdsprachlichen Kompetenzen der EU-Bürger anzuheben und in den Nationalstaaten ebenfalls erhebliche Anstrengungen unternommen werden, um die hochgesteckten Ziele zu erreichen. Wir werden in der vorliegenden Arbeit versuchen, einige Gründe für die entstandene Situation zu benennen und – wenn uns dies möglich erscheint – Lösungswege aufzuzeigen.

1.3 Die Bildungssysteme in den Ländern der Visegrád-Gruppe

In den vorangegangenen Abschnitten haben wir allgemeine Daten zu den Ländern der Visegrád-Gruppe zusammengestellt und uns mit den Ergebnissen der Eurobarometer-Studie von 2012 zu den Fremdsprachenkenntnissen der Bürger in der Europäischen Union befasst. In Bezug auf Deutsch als Fremdsprache wurden des Weiteren institutionelle Förderer aus Deutschland und Österreich sowie deren Engagement vorgestellt. Aufgrund der Relevanz für die Bildungssysteme in den einzelnen Ländern widmeten wir uns außerdem Dokumenten zur Mehrsprachigkeit und zur Förderung des Sprachenlernens, die in den zurückliegenden Jahren von der EU auf den Weg gebracht wurden. Im Folgenden soll nun der Fokus auf die nationalen Bildungssysteme gelegt werden. Insbesondere wollen wir der Frage nachgehen, inwieweit die Vorgaben aus Brüssel in den einzelnen Ländern umgesetzt werden und welchen Stellenwert die Fremdsprachen mit besonderem Blick auf Deutsch in den nationalen Dokumenten einnehmen. Dabei soll jedoch keineswegs schematisch vorgegangen werden; wir möchten vielmehr die aus unserer Sicht relevanten Sachverhalte der gegenständlichen Problematik länderspezifisch herausarbeiten.

1.3.1 Das Bildungssystem in Polen

Nach den Ergebnissen der Eurobarometer-Studie 386 vom Juni 2012 sind die Fremdsprachenkenntnisse der Polen mit denen der Tschechen vergleichbar. Genau die Hälfte der polnischen Bevölkerung ist nach eigener Einschätzung in der Lage, ← 34 | 35 → in einer Fremdsprache zu kommunizieren, was im Vergleich zur vorhergehenden Erhebung aus dem Jahr 2005 einen Rückgang um 7 Prozentpunkte bedeutet. 22 Prozent der Polen sind imstande, sich in zwei Fremdsprachen zu unterhalten, 7 Prozent in drei Sprachen. Genau die Hälfte der Polen erklärt, keine Fremdsprache zu sprechen.44 Diesen Zustand muss man als Folge der Wirkung des Schulsystems verstehen.

Die Idee vom polnischen Schulsystem geht bis ins Jahr 1555 zurück. Damals postulierte der polnische Dichter und Königliche Sekretär Andrzej Frycz Modrzewski, der sich sehr intensiv mit politischen Themen auseinandersetzte, die Einführung der Schulpflicht. Aber die eigentliche Gesetzgebung kam erst, als sich Polen unter Besatzung befand. Im Jahre 1825 wurde die Schulpflicht in Großpolen und Pommern eingeführt, im Jahre 1873 in Galizien. Was für die Entstehung des polnischen Schulsystems symptomatisch zu sein scheint, sind die hartnäckigen Versuche der Bevölkerung, sich gegen die Bildung in der damaligen Form zu wehren, denn die Schule unter der Besatzung wurde zum Werkzeug der Germanisierung und Russifizierung. Auch viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Russisch und Deutsch an den polnischen Schulen unverändert als einzige Fremdsprachen unterrichtet.

Details

Seiten
428
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653050998
ISBN (ePUB)
9783653975604
ISBN (MOBI)
9783653975598
ISBN (Hardcover)
9783631657607
DOI
10.3726/978-3-653-05099-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Dezember)
Schlagworte
Sprachenpolitik Bildungspolitik Bildungsstufen deutschsprachige Länder
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 428 S., 6 farb. Abb., 2 s/w Abb., 127 Tab.

Biographische Angaben

Silke Gester (Band-Herausgeber:in) Erika Kegyes (Band-Herausgeber:in)

Silke Gester ist Germanistin und Übersetzerin mit Erfahrung in Mittelosteuropa sowie Autorin zahlreicher Veröffentlichungen zur Sprachenpolitik und zu Deutsch als Fremdsprache. Erika Kegyes ist Germanistin mit langjähriger Erfahrung in der Deutschlehrerausbildung. Sie forscht und publiziert zu aktuellen Themen des Fachsprachenunterrichts.

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Titel: Quo vadis, DaF? II
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