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Werkstorprinzip in der gesetzlichen Unfallversicherung?

Eine kritische Betrachtung des Versicherungsfalls Wegeunfall

von Patrick Zahnbrecher (Autor:in)
©2014 Dissertation 238 Seiten

Zusammenfassung

Seit jeher wird von Arbeitgeberseite gefordert, den Wegeunfall aus der gesetzlichen Unfallversicherung auszugliedern. Die Unternehmer tragen mit ihren Beiträgen das Risiko der Arbeitswege von Arbeitnehmern, obwohl diese dem Einfluss der Unternehmer weitgehend entzogen sind. Durch Einführung des Werkstorprinzips im Steuerrecht wird diese Ansicht bekräftigt. Die Entfernungspauschale wurde abgeschafft und die Arbeitswege der Privatsphäre zugeordnet. Das Werkstorprinzip wurde jedoch für verfassungswidrig erklärt. Der Autor macht deutlich, dass hinsichtlich der Versicherung des Wegeunfalls Reformbedarf besteht und geht der Frage nach, ob auch in der Unfallversicherung das Werkstorprinzip denkbar ist, sofern die Verfassungswidrigkeit des steuerrechtlichen Werkstorprinzips dem nicht entgegensteht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Vorwort
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsübersicht
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einführung
  • A. Die Regelung des § 8 Abs. 2 Nr. 1 - 4 SGB VII
  • I. Begriffe und Abgrenzungen
  • 1. Einordnung des Wegeunfalls
  • 2. Abgrenzung zum Betriebsweg
  • 3. Beschränkung der Haftung der Unternehmer
  • 4. Echte und unechte Unfallversicherung
  • II. Historische Entwicklung der Versicherung des Wegeunfalls
  • 1. Erste Diskussionen um die Einführung des Wegeunfalls
  • 2. Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes
  • 3. Überführung der Unfallversicherung in die RVO
  • 4. Einführung des Wegeunfalls im Jahr 1925
  • 5. Einschränkungen der gesetzlichen Regelung seit der Einführung des Wegeunfalls bis zum Ende des Dritten Reichs
  • 6. Änderungen des Wegeunfalls während des Dritten Reichs
  • 7. Erweiterungen des Versicherungsschutzes in der Folgezeit
  • 8. Erneute Diskussionen um die Existenz des Wegeunfalls
  • III. Zahlen und Kosten für Wegeunfälle
  • IV. Allgemeine Voraussetzungen
  • V. Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit
  • 1. Grenzpunkte des versicherten Weges
  • a) Beginn und Ende des Weges am Ort der Tätigkeit
  • b) Beginn und Ende des Weges am häuslichen Wirkungskreis
  • aa) Allgemeines
  • bb) Sonderfälle
  • cc) Wohnung und Arbeitsstätte im selben Gebäude
  • c) Sonstige Endpunkte des Weges
  • aa) Dritter Ort
  • bb) Abgrenzung zum Zwischenort
  • cc) Wegeunterbrechung
  • (1) Rechtlich erhebliche Wegeunterbrechung - Änderung der Rechtsprechung des BSG mit Urteil vom 09.12.2003
  • (2) Geringfügige Unterbrechung
  • 2. Wahl der Wegstrecke
  • 3. Wegeabweichungen
  • a) Umweg
  • b) Abweg
  • 4. Mehrere Wege je Tag
  • a) Mehrere Schichten je Tag
  • b) Umkehr auf dem Weg
  • c) Eingeschobene Wege
  • 5. Art des Zurücklegens des Weges
  • a) Wahl des Verkehrsmittels
  • b) Werkverkehr
  • 6. Konkurrierende Ursachen
  • a) Alkohol
  • aa) Leistungsausfall
  • bb) Leistungsabfall
  • (1) Absolute Fahruntüchtigkeit
  • (2) Relative Fahruntüchtigkeit
  • cc) Betriebsbedingter Alkoholgenuss
  • dd) Krankheitsbedingter Alkoholgenuss
  • ee) Versicherungsschutz des Beifahrers
  • b) Drogen und Medikamente
  • aa) Drogenkonsum
  • bb) Medikamenteneinnahme
  • c) Übermüdung
  • d) Unfälle aus innerer Ursache
  • e) Selbstgeschaffene Gefahr
  • f) Verurteilung wegen Gefährdung des Straßenverkehrs
  • g) Selbsttötung
  • h) Überfälle
  • 7. Ergänzende Tätigkeiten
  • a) Vorbereitende Tätigkeiten
  • b) Tanken und Reparaturarbeiten
  • c) Sicherungsmaßnahmen und Regulierungsgespräche nach einem Unfall
  • d) Tätigkeiten während der Wartezeit
  • e) Gemischte Tätigkeiten
  • VI. Abweichende Wege zur Unterbringung von Kindern
  • 1. Kinder von Versicherten
  • 2. Fremder Obhut anvertrauen
  • 3. Berufliche Tätigkeit des Versicherten, Ehegatten oder Lebenspartners
  • 4. Rechtsfolge
  • 5. Analoge Anwendung der Norm
  • a) Wege der Aufsichtsperson
  • b) Anwendbarkeit auf Betriebswege
  • VII. Fahrgemeinschaften
  • 1. Berufstätige oder Versicherte
  • 2. Fahrgemeinschaft
  • 3. Rechtsfolge
  • VIII. Abweichende Wege von Kindern
  • IX. Familienheimfahrten
  • 1. Versicherte
  • 2. Familienwohnung
  • a) Allgemeine Voraussetzungen
  • b) Familienwohnung bei verschiedenen Personengruppen
  • aa) Verheiratete
  • bb) Ledige
  • cc) Gastarbeiter
  • 3. Unterkunft
  • 4. Rechtsfolge
  • X. Zusammenfassung und Stellungnahme
  • B. Sozialpolitische Reformdiskussion
  • I. Folgerungen aus der historischen Entwicklung
  • 1. Zusammenfassung der historischen Entwicklung
  • 2. Rechtspolitische Aspekte
  • II. Gründe gegen die Einbeziehung der Wegeunfälle in die gesetzliche Unfallversicherung
  • 1. Auslegungs- und Abgrenzungsprobleme
  • 2. Unmöglichkeit der Prävention
  • 3. Sinn und Zweck der Unfallversicherung
  • 4. Eigenwirtschaftliche Tätigkeit -kein Betriebszusammenhang
  • 5. Weitere Argumente
  • III. Gründe für die Einbeziehung der Wegeunfälle in die gesetzliche Unfallversicherung
  • 1. Entwicklung der Gesetzgebung
  • 2. Prävention von Wegeunfällen
  • 3. Betriebsbezogenheit
  • 4. Soziales Schutzprinzip
  • 5. Weitere Argumente
  • IV. Abwägung und Schlussfolgerung
  • 1. Abwägung der Argumente
  • 2. Zuweisung des Wegeunfallrisikos
  • C. Das Werkstorprinzip im Steuerrecht
  • I. Einführung
  • 1. Wesen des Einkommensteuerrechts
  • 2. Nettoprinzip
  • 3. Werbungskosten
  • 4. Zusammenfassung
  • II. Historische Entwicklung der Entfernungspauschale
  • 1. Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts in Staatssteuersachen
  • 2. Einführung der Abzugsfähigkeit von Fahrtkosten im Jahr 1920
  • 3. Änderungen durch Gesetz zur Neuordnung von Steuern 1954
  • 4. Neufassung durch Steueränderungsgesetz 1966
  • 5. Änderungen in der Folgezeit
  • 6. Einführung einer Entfernungspauschale im Jahr 2001
  • 7. Abschaffung und Wiedereinführung der Entfernungspauschale
  • 8. Änderungen ab VZ 2014
  • 9. Zusammenfassung
  • III. Die Regelung des § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG
  • 1. Regelung bis VZ 2013
  • 2. Regelung ab VZ 2014
  • IV. Das Werkstorprinzip und dessen Verfassungswidrigkeit
  • 1. Einführung des Werkstorprinzips
  • 2. Reaktionen in Literatur und Rechtsprechung
  • a) Vergleich mit ausländischen Regelungen
  • b) Diskussion der Verfassungsmäßigkeit
  • aa) Objektives Nettoprinzip
  • bb) Subjektives Nettoprinzip
  • cc) Gebot der Folgerichtigkeit
  • dd) Sachliche Rechtfertigung
  • ee) Sonstiges Verfassungsrecht
  • c) Zusammenfassung
  • 3. Urteil des BVerfG
  • a) Äußerung der Bundesregierung
  • b) Urteilsbegründung
  • aa) Veranlassungsprinzip
  • bb) Keine sachlichen Gründe
  • cc) Gemischte Aufwendungen
  • dd) Gebot der Folgerichtigkeit
  • ee) Zusammenfassung
  • c) Anmerkung
  • 4. Wiedereinführung der Entfernungspauschale
  • V. Exkurs: Absetzbarkeit von Unfallkosten
  • 1. Einführung
  • 2. Aktuelle Rechtslage
  • a) Berufliche Veranlassung
  • b) Unfallschaden
  • D. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Reform der Regelung des Wegeunfalls
  • I. Verfassungsrechtliche Bewertung der aktuellen Regelung
  • 1. Fremdlasten in der Sozialversicherung
  • a) Begriff der Fremdlasten
  • b) Beispiele für Fremdlasten
  • aa) Ausweitung des Kreises der Berechtigten
  • bb) Ausdehnung des Leistungsspektrums
  • cc) Ausgleich zwischen Sozialversicherungsträgern
  • c) Verfassungsmäßigkeit von Fremdlasten im Allgemeinen
  • aa) Gesetzgebungskompetenz
  • bb) Grundrechtseingriff und Legitimation
  • 2. Rechtfertigung der Fremdlasten im Allgemeinen
  • a) Versicherungsprinzip
  • b) Solidarprinzip
  • c) Schlussfolgerung
  • 3. Verfassungsmäßigkeit der Einbeziehung des Wegeunfalls
  • a) Wegeunfall als Fremdlast?
  • b) Rechtfertigung
  • c) Ergebnis
  • 4. Exkurs: Verfassungsmäßigkeit des Arbeitgeberanteils in der Pflegeversicherung
  • 5. Zusammenfassung
  • II. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Reform
  • 1. Vergleich der Regelung des Wegeunfalls mit der Entfernungspauschale
  • a) Vergleich in Literatur, Rechtsprechung und Politik
  • b) Eigener Vergleich
  • aa) Historische Entwicklung
  • bb) Politische Bewertung
  • cc) Aufgaben des jeweiligen Rechtsgebiets
  • dd) Sinn und Zweck der jeweiligen Regelung
  • ee) Voraussetzungen der jeweiligen Regelungen
  • ff) Zusammenfassung
  • c) Folgerungen für die Regelung des Wegeunfalls
  • 2. Vergleich der Regelung des Wegeunfalls mit der Absetzbarkeit von Unfallkosten
  • a) Sinn und Zweck der jeweiligen Regelung
  • b) Voraussetzungen der jeweiligen Regelung
  • aa) Innerer Zusammenhang - Veranlassung
  • bb) Familienheimfahrten und Fahrgemeinschaften
  • cc) Dritter Ort
  • dd) Wege in der Mittagspause
  • ee) Fahren unter Alkoholeinfluss
  • ff) Verstoß gegen Verkehrsvorschriften
  • gg) Tanken
  • hh) Abweichende Wege zur Unterbringung von Kindern
  • ii) Zusammenfassung
  • c) Rechtsfolgen der jeweiligen Regelung
  • d) Zusammenfassung
  • e) Folgerungen für die Regelung des Wegeunfalls
  • 3. Konsequenzen der Verfassungswidrigkeit des Werkstorprinzips für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Reform des Wegeunfalls
  • 4. Zusammenfassung
  • E. Zusammenfassung und Ausblick
  • I. Zusammenfassung der Ergebnisse
  • II. Reformmöglichkeiten
  • 1. Vorschläge in der Literatur
  • a) Ausgliederung der Wegeunfälle
  • b) Beitragsrechtliche Lösung innerhalb der gesetzlichen Unfallversicherung
  • c) Anpassung des § 8 Abs. 2 Nr. 1 - 4 SGB VII
  • d) Privatversicherungsrechtliche Lösung
  • e) Sonstige Lösungsvorschläge
  • 2. Regelungen in anderen Ländern
  • a) Keine Versicherung des Wegeunfalls
  • b) Beitragspflicht des Unternehmers
  • c) Beitragspflicht des Arbeitsnehmers
  • d) Einschränkung des Versicherungsschutzes
  • 3. Bewertung der aufgezeigten Ausgestaltungsmöglichkeiten
  • a) Anforderungen an einen Reformvorschlag
  • b) Bewertung der Reformmöglichkeiten
  • c) Zusammenfassung
  • 4. Eigener Reformvorschlag
  • III. Ausblick
  • Literaturverzeichnis

← 16 | 17 → Einführung

„Secundum naturam est commoda cuiusque rei eum sequi, quem sequentur ­incommoda.“ Es erscheint naturgemäß, dass die Vorteile jeder Sache denjenigen treffen, der die Nachteile hat. Dieses Rechtsprinzip galt bereits in den Digesten1 (D 50, 17, 10) im römischen Recht und wurde ebenfalls in das Corpus iuris canonici aufgenommen (Liber Sextus 5, 13, 55): „Qui sentit onus, sentire debet commodum et contra.“ Wer die Lasten trägt, dem gebührt auch der Nutzen und umgekehrt.2

Noch heute gilt dieses Prinzip der Einheit von Lasten und Nutzen.3 Wer den Vorteil eines Geschäfts hat, muss auch den dabei entstehenden zufälligen Schaden tragen.4 Übertragen auf das Arbeitsrecht bedeutet dies, dass der Arbeitgeber die Haftung für etwaige Schäden tragen soll, wenn er den Nutzen aus der Arbeit der Arbeitnehmer hat.5 Hier greift die gesetzliche Unfallversicherung ein. Kommt es zu einem Arbeitsunfall, hat der Versicherte einen Anspruch gegen den Unfallversicherungsträger. Entsprechend wird der Unternehmer von der Haftung zwar grundsätzlich freigestellt, jedoch muss er im Gegenzug die Beiträge für die gesetzliche Unfallversicherung tragen.6 Damit scheint das Prinzip der Einheit von Nutzen und Lasten erfüllt.

Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass auch der Arbeitnehmer einen Nutzen aus der Arbeit hat, weil er damit seinen Lebensunterhalt verdient. Zudem gelten auch Unfälle auf den Arbeitswegen als Arbeitsunfälle (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 -­ 4 SGB VII). Das Zurücklegen eines solchen Weges ist jedoch nur eine Vorbereitungshandlung für die berufliche Tätigkeit und kommt dem Unternehmer nur mittelbar zugute.7 Daher stellt sich hinsichtlich dieser Wegeunfälle die ← 17 | 18 → Frage, ob das Lasten-­Nutzen-­Prinzip noch gewahrt ist, wenn der Arbeitgeber keinen direkten Nutzen aus den Arbeitswegen hat. Daher wird seit Jahren von Arbeitgeberseite gefordert, den Wegeunfall aus der gesetzlichen Unfallversicherung auszugliedern.8

Gem. § 150 Abs. 1 S. 1 SGB VII sind in der gesetzlichen Unfallversicherung allein die Unternehmer beitragspflichtig, für die die Versicherten tätig sind oder zu denen Versicherte in einer besonderen, die Versicherung begründenden Beziehung stehen. Unternehmer ist dabei derjenige, dem das Ergebnis unmittelbar zum Vor-­ oder Nachteil gereicht (§ 136 Abs. 3 Nr. 1 SGB VII), wobei auch Kapital-­ und Personengesellschaften Unternehmer9 und somit beitragspflichtig sein können10.

Hierin liegt ein bedeutender Unterschied zu den anderen Sozialversicherungszweigen, in welchen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Beiträge grundsätzlich teilen11 (vgl. §§ 346 Abs. 1 S. 1 SGB III, 249 Abs. 1 S. 1 SGB V, 168 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI, 58 Abs. 1 S. 1 SGB XI). Diese Besonderheit ergibt sich aus den Grundprinzipien der gesetzlichen Unfallversicherung12, welche bereits bei der Einführung des Unfallversicherungsgesetzes von 1884 zum Tragen kamen13. Zum einen sollte der Schutz des Arbeitgebers und seiner Familie durch einen verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruch gegen eine leistungsfähige Genossenschaft der Unternehmer bestimmter Industriezweige sichergestellt werden. Zum anderen sollten innerbetriebliche Konfliktsituationen vermieden werden, indem zugleich die zivilrechtliche Haftpflicht von Unternehmern und Unternehmensangehörigen ausgeschlossen wird (vgl. §§ 104 ff. SGB VII).14 Die alleinige Beitragspflicht des Unternehmers geht somit mit der Haftungsfreistellung einher.15

← 18 | 19 → Jedoch ist zu berücksichtigen, dass das Unfallversicherungsgesetz von 1884 den Wegeunfall nicht als Versicherungsfall anerkannte.16 Diesen hat der Gesetzgeber erst 1925 eingeführt.17 Daher existierten als Versicherungsfälle zunächst nur Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, welche der Risikosphäre des Unternehmers zuzuordnen sind18, was wiederum die alleinige Beitragspflicht rechtfertigte. Beim Wegeunfall hingegen ist eine zivilrechtliche Haftung des Unternehmers kaum denkbar.19 Trotzdem finanziert er mit seinen Beiträgen auch Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung infolge von Wegeunfällen. Damit trägt der Unternehmer gewissermaßen das Risiko der Arbeitswege von Arbeitnehmern. Diese sind jedoch dem Einfluss des Arbeitgebers weitgehend entzogen,20 da jeder Arbeitnehmer selbständig entscheiden kann, welchen Weg er zwischen Wohnung und Arbeitsstätte wählt21, welches Verkehrsmittel er nutzt22 und insbesondere, wie groß die Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ist, indem er seinen Wohnort selbst wählt23. Aus diesen Gründen wurde vor etwa hundert Jahren die Einbeziehung des Wegeunfalls in die Reichsversicherungsordnung noch abgelehnt.24

Diesen Überlegungen entsprechend wurde ab 2007 im Steuerrecht das sog. Werkstorprinzip eingeführt. Dadurch wurden die zunächst betrieblich veranlassten Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte fortan der Privatsphäre zugeordnet und die Entfernungspauschale abgeschafft. Das Bundesverfassungsgericht hat das Werkstorprinzip jedoch für verfassungswidrig erklärt, sodass die Entfernungspauschale rückwirkend wieder eingeführt wurde.

Es ist daher Ziel der vorliegenden Arbeit, private und betriebliche Tätigkeiten voneinander abzugrenzen und auf den Versicherungsfall Wegeunfall zu übertragen. Wie wenig griffig die Abgrenzung in juristischer Sicht sein kann, soll die Analyse der Rechtsprechung zum Wegeunfall zeigen. Die sozialpolitische Reformdiskussion, die hieraus folgt, wird im Anschluss dargestellt und soll klären, ← 19 | 20 → ob die alleinige Finanzierung und damit Risikotragung des Wegeunfallrisikos durch die Arbeitgeber (noch) gerechtfertigt ist. Vielleicht ist es denkbar, auch in der gesetzlichen Unfallversicherung das Werkstorprinzip einzuführen. Bei dieser Überlegung wird allerdings zu diskutieren sein, ob dem die Verfassungswidrigkeit des steuerrechtlichen Werkstorprinzips entgegensteht. Dazu wird das Werkstorprinzip im Steuerrecht dargestellt und sodann auf die Frage eingegangen, ob eine Reform der Regelung des Wegeunfalls verfassungsrechtlich zulässig wäre. Abschließend werden verschiedene Reformmöglichkeiten aufgezeigt und bewertet.

_______________

1Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, Rn. 115; Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, § 1, Rn. 20: Lateinisch für „Geordnetes“; auch Pandekten genannt, griechisch für „Allumfassendes“.

2Thüsing, SGb 2000, 595 (599).

3Thüsing, SGb 2000, 595 (599); Ulrici, Arbeitnehmerurheberrecht, S. 41.

4Baldschun, Solidarität, S. 64; Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, S. 35.

5Thüsing, SGb 2000, 595 (599).

6Schlegel/Voelzke/Ebsen, § 104 SGB VII, Rn. 8.

7Thüsing, SGb 2000, 595 (600).

8Vgl. nur BDA, KND (Kurz-­Nachrichten-­Dienst) Nr. 33, 30.09.2004, S. 2; Colella/Kranig, BG 2008, 388 (389); Hoffmann, SZ vom 13.05.2006, S. 25; Neumann, Die Welt vom 30.05.2007, S. 9; Riedel, Handelsblatt vom 11.05.2006, S. 3; Schäfers, FAZ vom 11.05.2006, S. 1; Voßhoff, PKM Information, Sonderveröffentlichung vom 01.06.2005, S. 11 f.

9Schmitt, § 136 SGB VII, Rn. 25.

10Schlegel/Voelzke/Scholz, § 150 SGB VII, Rn. 16, 18.

11Muckel/Ogorek, Sozialrecht, § 10, Rn. 20.

12Schlegel/Voelzke/Scholz, § 150 SGB VII, Rn. 4.

13Gitter, Schadensausgleich, S. 38.

14BVerfGE 34, 118 (132); Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht, § 32, S. 507; Gitter, Schadensausgleich, S. 38; Jantz, FS Lauterbach I, S. 16.

15Muckel/Ogorek, Sozialrecht, § 10, Rn. 20; Schlegel/Voelzke/Scholz, § 150 SGB VII, Rn. 4.

16RGBl. I 1884, S. 69 ff.

17Zweites Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 14.7.1925 (RGBl. I 1925, S. 97).

18Kranig/Aulmann, NZS 1995, 203 (209 f.).

19Kranig/Aulmann, NZS 1995, 203 (208).

20Kranig/Aulmann, NZS 1995, 203 (210).

21BSGE 4, 219 (222); 57, 222 (224).

22BSGE 4, 219 (222); 10, 226 (227); 20, 219 (221).

23Becker/Burchardt u.a./Krasney, § 8 SGB VII, Rn. 181.

24Bericht der 16. Reichstagskommission über den Entwurf einer Reichsversicherungsordnung, Drittes Buch, Unfallversicherung, 1911, S. 25.

Details

Seiten
238
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653051421
ISBN (ePUB)
9783653976007
ISBN (MOBI)
9783653975994
ISBN (Paperback)
9783631657393
DOI
10.3726/978-3-653-05142-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Schlagworte
Arbeitsweg Unfallkosten Entfernungspauschale Objektives Nettoprinzip
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 238 S.

Biographische Angaben

Patrick Zahnbrecher (Autor:in)

Patrick Zahnbrecher studierte Rechtswissenschaft an der Universität Regensburg mit der begleitenden Zusatzausbildung Unternehmenssanierung. Anschließend arbeitete er als Dozent für Zivilrecht an der Juristischen Fakultät der Universität Regensburg. Derzeit ist er am LG Regensburg tätig.

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