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Das Gen und seine Geschichte

Naturwissenschaftliche und philosophische Hintergründe der modernen Genetik- Lebewesen im Spiegel der Wissenschaftshistorie

von Kurt Otto Plischke (Autor:in)
©2015 Dissertation 319 Seiten

Zusammenfassung

Gene steuern Pflanze, Tier und Mensch. Das Gen ist das Atom der Biologie. Wie kam es zu diesem Modell, das 1953 mit dem Nobelpreis gekrönt wurde? Welche Einwände gibt es gegen das Modell? Dieses Buch verfolgt erstmalig in den Originaltexten der beteiligten Forscher die Ursprünge der Vorstellung aus der Entstehung der Biologie im Jahr 1800 über die Gründung der Genetik 1906 bis in die Gegenwart. Die Auffassung von der Lebendigkeit des Lebenden wandelte sich entsprechend dem Selbstverständnis der Wissenschaft. Eine physiologische Biologie ersetzte die Naturphilosophie. Leben, Organismen und Gene werden definiert in den Gesetzen von Chemie und Physik. Das Gen und seine Geschichte beleuchtet die Folgen für unser Bild von Mensch und Natur.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • I. Ergebnisse der Forschung und Problemstellung
  • II. Das Problem einer biologischen Vererbungslehre
  • III. Beschreibungen der Fortpflanzung, die das spätere biologische Verständnis der Vererbung prägten
  • IV. Die veränderte Auffassung einer Wissenschaft vom Leben
  • IV.1 Spencer: Physiologische Einheiten. Lebewesen als belebte Materie
  • IV.2 Darwin: Tätigkeitszentren der Pangenesis. Eine Provisorische Hypothese
  • IV.3 Haeckel: Theorie der Plastide
  • IV.4 Nägeli: Idioplasma. Eine mechanisch-physiologische Theorie
  • IV.5 Eine neue Perspektive für den Umgang mit Natur
  • IV.6 Hertwig und Strasburger: Der Aufenthaltsort des Vererbungsplasmas
  • IV.7 Weismann: Determinanten und Biophoren
  • IV.8 Weigert: Aktivierung von Anlagen
  • IV.9 De Vries: Intrazelluläre Pangenesis
  • IV.10 Haacke: Zelleib als Vererbungsträger: Eine oppositionelle Lehre
  • V. Die erste experimentell entwickelte Vererbungslehre. Mendel: Merkmale sind zusammengesetzt aus Elementen
  • VI. Die Entstehung eines entteleologisierten Vererbungsbegriffs
  • VII. Das Schicksal der Entdeckungen Mendels
  • VIII. Die Ausgestaltung des Genbegriffes in seiner modernen Form
  • VIII.1 Begründung des heutigen Terminus technikus durch Wilhelm Johannsen
  • VIII.2 Die beginnende Differenzierung des Genbegriffs bis 1939: klassische Genetik
  • VIII.3 Das Gen erhält eine biochemische Charakteristik
  • VIII.3A Eiweiss oder Nukleinsäure?
  • VIII.3B Der Gedankengang von Watson und Crick
  • VIII.3C Die Vorstellung der Ergebnisse 1953
  • VIII.3D Erweiterung der Kenntnisse bis 1962
  • VIII.3E Das Jahr der Nobelpreisverleihung. Weiterführende Fragen
  • IX. Wissenschaftliche Einwände zum Genkonzept der Vererbung
  • X. Ergebnisse
  • XI. Die Frage der Erzeugung in Genetik und Technologie
  • XII. Schlussbetrachtung
  • Personenverzeichnis
  • Sachverzeichnis
  • Bibliographie
  • Weiterführende Literatur
  • Abbildungsverzeichnis

I.    Ergebnisse der Forschung und Problemstellung

Die Geschichte der Naturwissenschaften wird in ihrer fortschreitenden Disziplinierung in Teilgebiete begleitet von historischen und wissenschaftstheoretischen Reflexionen. Sie folgen der Spezialisierung und geben aus eigener Perspektive der jeweiligen Fachgebiete Rechenschaft über deren Geschichte. Hingegen sind allgemeine Einordnung, Vergleich, Übersetzung der Merkmale in der Begriffsentwicklung eine Aufgabe von Wissenschaftstheorie und -geschichte als solcher. Sie reichen bis in die Erkenntnistheorie. Die Kategorien zu diesem Zweck stammen nicht aus den Naturwissenschaften. Denn sie thematisieren deren Maßstäbe – eine Leistung, die, ehemals federführend von der Theologie erbracht, säkularisiert fortgeführt wird von Philosophie und allgemeiner Wissenschaftsgeschichte. Auch solche Arbeit kann sich der disziplinären Gliederung anschließen. Doch wird sie zugleich deren Grenzen beleuchten – worin sich die Medizingeschichte und Philosophie nahekommen, etwa in einer sich begriffs- und problemgeschichtlich ausrichtenden historischen Epistemologie. Hans-Jörg Rheinberger weist ihr die Methode zu, nach den Mitteln zu fragen,

„mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden, an denen der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnis in Gang gesetzt sowie in Gang gehalten wird“. (Rheinberger 2007: 11)

Zum Verständnis der Einflussgrößen in der Entstehung von Forschungszwecken sei es unverzichtbar, historische Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Hinsichtlich des Anscheins einer rein faktenbezogenen Empirie als dem modernen wissenschaftlichem Ideal merkt Lutz Geldsetzer grundsätzlich an: Das epistemische Moment der Wissenschaft liege vielmehr in der Theoriebildung, indem sie zwischen Daten, Fakten einen Zusammenhang stifte, Antworten auf die Warum-Frage bezüglich der Fakten gebe. Notwendigerweise wirke somit die Ebene der Theorie auf die Faktenebene zurück. Erst im Licht der Theorie entstehen die Was-Fragen nach den Fakten. (Geldsetzer 1982: 70). Geschichte werde in hermeneutischer Arbeit als ein ideelles Sinngebilde konstruiert. Deshalb bestehe das Wahrheitskriterium:

„in der logischen Kohärenz und Stimmigkeit sowie im Umfang der Integrationskraft geschichtlicher Theorien gegenüber den Sinngebilden aller Geschichtsforschungsbereiche“. ← 11 | 12 →

Wenn diese auf Widersprüche, Dunkelheiten, Irrtümer untersucht werden, sei wiederum die logische Stimmigkeit das beweisende Kriterium für Inkohärenzen. Wissenschaftliche Untersuchung bewege sich nicht außerhalb der Wahrheitsfrage, „keinesfalls jenseits von Idealismus oder Realismus“, sondern bringe verschärft die „Relevanz der philosophischen Letztorientierungen, eben die metaphysische Frage, ins Spiel“ (ibid. S. 86). So entsteht Orientierung mittels einer strikten Begriffslogik in ihrer historischen Entfaltung (Geldsetzer 1987).

Alfons Labisch äußert konsequent eine Auffassung von Wissenschaftsphilosophie, derzufolge das Geschichtsverständnis, um seinem Grundzug als Sinngebilde Rechenschaft zu tragen, kulturwissenschaftlich verankert sein müsse. Er kann auf diese Weise in der Epochenfolge idealtypische Abhängigkeiten im Wechsel von Sinngehalten für den europäischen Begriff der Gesundheit nachweisen (Labisch 1989; Labisch 1992; Labisch 2006). Auch zeigt er mit Vorsicht im Kulturvergleich Europa – China – Korea – Japan sehr verschiedene Paradigmen im Gesundheitsverständnis, ohne der Gefahr eurozentristischer Einebnung zu unterliegen (Labisch: Darstellung im Forschungsseminar, Wintersemester 2009/2010 des Instituts für Geschichte der Medizin an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf).

In der Quintessenz kann eine Wissenschaft, die sich ihrer Wurzeln bewusst bleibt, weiterhin wie Robert Spaemann und Reinhard Löw mit wissenschaftlichem Humor nach verdeckten teleologischen Implikationen im modernen Verständnis der Naturwissenschaften fragen und auf verbleibende Anthropomorphien nach Aufhebung aller Anthropozentrik deuten. Teleonomie ersetzt Teleologie:

Um so ungehinderter kann man dafür das Erbe der Teleologie antreten und sich ihrer ‚abkürzenden‘ Sprech- und Schreibweise bedienen. Jeder weiß, wie es gemeint ist: ‚zweckmäßig ohne Zweck‘ und: nicht-dogmatisch und metaphysisch, sondern hypothetisch und heuristisch. Bemerkenswerterweise wird die Ausdrucksweise um so teleologischer, je weiter man sich von Lebewesen entfernt, bei Maschinen, Elementarteilchen oder Wirbelstürmen. Es ist nur konsequent, daß sie auch Personennamen bekommen“ (Spaemann, Löw 2005: 197).

Wissenschaftsgeschichte und Philosophie begegnen sich bei gemeinsamen inhaltlichen und methodischen Ansätzen in ihrer Zielsetzung.

Über historisch selbstauferlegte Beschränkungen in der Bewahrheitung möge der folgende Hinweis dienen. Er betrifft den Betrachtungszeitraum der hiermit vorgelegten Untersuchung.

„Es hat auch den Anschein, daß das moderne Fortschrittsbewußtsein im Abendland ständig eine Art ‚blinden Fleck‘ hinsichtlich der jüngsten Vergangenheit hervorbringt. Das ← 12 | 13 → Neue profiliert sich gerne auf Kosten des gerade eben Überholten, das es in umso tiefere Vergessenheit abdrängt. Dies scheint heute besonders für die zweite Hälfte des 19. Jahhunderts zu gelten, welche daher in die zeitgeschichtliche Forschung aufzunehmen ist“ (Geldsetzer 1982: 98).

Im Folgenden werden zunächst Ergebnisse dargestellt, die von der Wissenschaftsgeschichte zur Frage der Entstehung und Entwicklung des Genbegriffs, eine Periode von Ursprüngen im 19. Jahrhundert bis zum Jahr der Vorstellung der DNS (1953) betrachtend, vorgelegt worden sind. Die Übersicht erstrebt nicht den einfachen Nachweis historischer Auflistungen unter der Voraussetzung eines etappenweise anwachsenden Schatzes gewisser oder nur vermeintlicher Erkenntnistatsachen. Das Augenmerk gilt methodischem Ansatz, Fragerichtung, Begründung für die Wahl des Betrachtungszeitraums und Art der Studie, als denjenigen Faktoren, welche auf das Ergebnis Einfluss nehmen. Auch berücksichtigt wird der Nachweis von Art und Weise des Quellenstudiums, wie eng Originaltexte herangezogen, ob und wie sie aufeinander bezogen, Kohärenzen, Weiterentwicklung oder Eliminierung von Begriffsmerkmalen daraus abgeleitet werden.

Der Chemiker und Wissenschaftshistoriker Stephen Finney Mason [(1923–2007); 1947–1953 am Museum for the History of Science/Oxford; 1956 University of Exeter; 1964 Gründer der Fakultät für Chemie der University of East Anglia; 1970 Kings College/London; 1988 Cambridge; 1991 Gründer der Historical Group of Science der Royal Society of Chemistry; Entdeckungen in experimenteller und theoretischer Spektroskopie u.a. von Spiralmolekülen zur Bestimmung der Konfiguration organischer Moleküle; Untersuchungen zu den schwachen Nuklearkräften von Biomolekülen] gibt in seiner „Geschichte der Naturwissenschaft in der Entwicklung ihrer Denkweisen“, nach Epochen und Fachwissenschaften gegliedert, ausführlich und mit vielfachen Querverweisen Einblick auch in die Biologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, als sich die Genetik zu einer selbständigen Wissenschaft zu formieren begann (Mason 1961). Nicht dargestellt werden die Einführung des Terminus Gen durch Wilhelm Johannsen und die begriffliche Entfaltung zur Vorstellung einer Doppelhelix als dem Genträger mit selbstreproduktiven Kräften, womit das Typische der belebten Stofflichkeit in die biochemische Darstellungsweise übersetzt war. Die Darstellung besteht in einer Geschichte wissenschaftlich positivistischer Faktenkunde. Sie verfolgt nicht die Absicht, eine Begriffsgeschichte darzulegen oder Relativitäten von Beschreibungsweisen nachzugehen. Textarbeit an Originaltexten wird nicht vorgestellt. ← 13 | 14 →

Eine mehrfach überarbeitete Geschichte der Biologie als Einzelwissenschaft gibt 1998 die Wissenschaftshistorikerin Ilse Jahn heraus. [(1922–2010); stellvertretende Direktorin des Museums für Naturkunde und Privatdozentin für Wissenschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität in Berlin]. Unter verschiedenen Aspekten wird beschrieben, wie sich das Teilgebiet der Genetik bildete (Jahn 1998). Brigitte Hoppe [(geb. 1935); Professorin für Geschichte der Naturwissenschaften in der Forschungsabteilung des Münchner Zentrums für Wissenschafts- und Technikgeschichte, Ludwig-Maximilians Universität München] behandelt darin die Entstehung der Vererbungswissenschaften im Rahmen der theoretischen und methodischen Neuansätze des 19. Jahrhunderts. Jörg Schulz, [Wissenschaftsphilosoph am Institut für Geschichtswissenschaft, Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte der Humboldt-Universität Berlin] legt die Phase der Wiederentdeckung der Mendelschen Regeln dar. Konrad Senglaub bespricht die noch im 20. Jahrhundert langwährenden Auseinandersetzungen um den Darwinismus. Hans- Jörg Rheinberger [(geb. 1946); ehemals Forschungsgruppenleiter für Molekularbiologie am Max-Planck-Institut für Biologie in Berlin-Dahlem, später Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte] schildert die Etablierung der Molekulargenetik bis hin zu den Aufgaben der Genom-Analyse.

Als historische Übersichtsarbeit der gesamten Biologie konzipiert, einsetzend mit den frühen Hochkulturen und Antike, über das Mittelalter in die Gegenwart führend, ist die Darstellung daran orientiert, die Ideenentwicklung in epochalen Perioden verständlich zu machen. Sie will nicht aus Einzelnachweisen und Begriffsvergleichen an den Originaltexten der beteiligten Forscher und einer Konzentration auf den Genbegriff dessen Entstehung ableiten, sie will nicht aus den Verästelungen, Kontinuitäten und Gegensätzen die Einzelheiten einer bis heute widerspruchsvollen Geschichte der Genvorstellung aufzeigen oder Gründe der Widersprüche aufsuchen, ebenso, wie eine Problematisierung der Vorstellung auf die Gegenwart hin nicht das Ziel einer solchen Untersuchung sein kann.

Mit „Grundzüge der Biologiegeschichte“ (1990) legt Jahn selbständig eine Geschichte aller Epochen vor, in der sie der Genetik einen ausführlichen Abschnitt widmet. Auch Entwicklungslinien dieser Wissenschaft aus den spekulativen Hypothesen des 19. Jahrhunderts sind dargestellt, über Mendelismus, Darwinismus, Mutationsforschung der klassischen Genetik noch vor der Phase des molekularen Genbegriffs. Die Durchsetzung der Evolutionstheorie gilt in dieser Darstellung als die Synthese der Einzelergebnisse der klassischen Periode und zugleich als die wesentliche Voraussetzung des späteren biochemischen Modells der Erbsubstanz, das jedoch nicht mehr in seinen Einzelheiten ← 14 | 15 → aus Vorläufervorstellungen hergeleitet wird. Ein zentrales Ziel der Darstellung besteht darin, Darwins Theorem als das organisierende Prinzip für die Erkenntnisarbeit von Biologie und Genetik zu erweisen. Angesprochen wird damit ein Problem, dem die Hypothetizität seiner Lösung von der Gegenwartsbiologie zunehmend bestritten wird.

Günter Wricke [(1928–2009); ehemals Leiter des Instituts für Angewandte Genetik der Technischen Universität Hannover] und Wolfgang Horn [(geb. 1940); Inhaber des Lehrstuhls für Zierpflanzenanbau der Technischen Universität München/Freising] stellen im Jahr 1978 aus dem Nachlass des Genetikers Hans Kappert [(1890–1976); Schüler von Carl Correns am Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie in Berlin-Dahlem] eine Facharbeit vor, die sich ausschließlich auf die Genetik konzentriert. Kappert habe für den Zeitraum von 1900 bis 1950 die „erste zusammenfassende Darstellung der Geschichte der Genetik aus deutscher Sicht“ gegeben (Kappert 1978:7). Der Autor gibt seinen Rückblick „Vier Jahrzehnte miterlebter Genetik“ aus der Sicht zweier Teildisziplinen der Genetik, Angewandter Genetik und Mutationsforschung. Sich auf den gewählten Zeitraum beschränkend wird für die Vorläufertheorien aus dem 19. Jahrhundert nur auf die Idioplasma-Theorie Carl Nägelis verwiesen, der Hinweis gegeben habe auf eine für das Erbgeschehen selbständige Substanz, welche schließlich strukturell mit dem Chromosom identifiziert worden sei. Begriffsentwicklung aus Gegenüberstellung von Originaltexten ist nicht das Ziel der Untersuchung. Vielmehr legt Kappert Wert darauf, solche Hypothesen zu schildern, die in den historischen Etappen zunächst den Mendelismus bestätigen, und solchen, anhand derer nachfolgend die Chromosomentheorie des Gens aufgestellt wurde. Der Einfluss physikalischer Sichtweise in der Nachfolge Ernst Schrödingers, obschon in den 40ziger Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzend, wird nicht thematisiert.

Für den englischen Sprachraum legt 1965 Leslie Cecil Dunn [(1893–1974); 1928 Gast am Kaiser-Wilhelm-Institut Berlin; 1934/1935 Gastprofessor Universität Oslo; 1928 Professor für Zoologie, Columbia-Universität USA; Mitglied der U.S. National Academy of Sciences] „A Short History of Genetics“ vor. Im ansonsten unveränderten Nachdruck 1991 ist ein Untertitel hinzugefügt, der die Zielsetzung andeutet: „The Development of Some of the Main Lines of Thought: 1864–1934“. Formulierung und zeitlicher Rahmen lassen eine Herleitung der Begrifflichkeit der klassischen experimentellen Genetik des 20. Jahrhunderts aus den spekulativen Vorarbeiten des 19. Jahrhunderts erwarten. Abweichend von der Mehrzahl der Autoren geht Dunn unmittelbar auf Originalpassagen weichenstellender Veröffentlichungen ein, welche er auszugsweise in ganzen Abschnitten zitiert. Doch vertritt er die Auffassung, die Periode 1900–1906 „can ← 15 | 16 → now be seen as the chief break in the continuity of ideas about the transmission system of heredity“. Was vor dieser Zeit entwickelt worden sei habe außer der Veröffentlichung Mendels nur geringen Einfluss auf den späteren Verlauf der Ideenentwicklung (Dunn 1991: 33). Diese Auffassung unterstützt 1991 Lindley Darden [(geb. 1945); seit 1992 Professorin für Philosophie an der Universität von Maryland College Park, USA]. Für sie liegt der entscheidende Bruch größter Tragweite in der Ersetzung von Merkmalseinheit durch Faktor, einer Folge des sich durchsetzenden Mendelismus in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts. Die Einführung des Genbegriffs und seine Entwicklung zum chromosomalen Gen sei nur die konsequente Entfaltung jenes Schrittes (Darden 1991: 178).

Dunn zeichnet den weiteren Weg in zwei Perioden nach. Auf die Epoche des Mendelismus (1900–1909) folge die klassische Gentheorie (1910–1939), die schließlich Gene auf dem Chromosom verortet und aus Mutationen auf deren Position und Nachbarschaftslagen geschlossen habe, ehe 1944 durch Oswald Avery, Colin MacLeod, Maclyn Mc Carty das übertragene Erbmaterial mit Desoxyribonukleinsäure identifiziert worden sei. Die historisch genaue und vielseitige Übersicht konzentriert sich, bis zu diesem Zeitpunkt führend, auf die späten Entwicklungslinien der betrachteten Periode, ohne sich in detaillierte begriffliche Vergleiche in den Originaltexten zu begeben, mit umfangreicher Bibliographie der Quellen. Für den Zeitabschnitt von 1864–1909 nimmt Dunn ausschließlich Bezug auf die Originalzitate, die Alfred Barthelmess 1952 in seiner Schrift „Vererbungswissenschaft“ gibt. Eine begrifflich vergleichende Textarbeit an den daraus entnommenen Textabschnitten entfällt.

Barthelmess [gest. 1987] wirkte 1957–1973 an der Universität München in einer außerplanmäßigen Professur über Botanik, Genetik, Entwicklungsphysiologie und Geschichte der Naturwissenschaften. In ausführlichen Originalzitaten stellt er Kerntexte aus der Geschichte der Vererbungslehre vor und verbindet sie durch eigene Zwischentexte, in denen er den gedanklichen Verlauf zusammenfasst. Der Autor beginnt mit Aristoteles und Hippokrates, den „Vätern der Vererbungswissenschaft“ und geht auch auf die historisch mit Linné, Lamarck, Darwin sich ergebende Auseinandersetzung um Artenkonstanz und Artenwandel ein. Mendels Lehre und die spekulativen Positionen Darwins, Nägelis, Weismanns, Strasburgers kommen in ihren eigenen Darstellungen ausführlich zu Wort. Mit Haeckel sei der erste, wenn auch misslungene Versuch einer Theorie gegeben, die es unternommen habe, alle bis dahin bekannten Phänomene zusammenzufassen. Barthelmess nennt die Methode seiner eigenen Darstellung eine „rein historische“ auf Basis von „repräsentativen Dokumenten“, nicht sei sie eine „kritische“. Die Phase der Physikalisierung und die Hinwendung zur Nukleinsäure ← 16 | 17 → als einer Desoxyribonukleinsäure sind von seiner Untersuchung nicht mehr erörtert, die mit der Epoche der klassischen Genetik endet, aber weitergehende Tendenzen über die im historischen Verlauf angenommenen Stoffklassen für das Erbmaterial andeutet. Insgesamt ist die Darstellung an einer Ideenentwicklung über Vererbungsvorgänge interessiert, nicht an den Einzelheiten der Herausbildung des Genbegriffs oder dessen Voraussetzungen in den frühen Theorien des 19. Jahrhunderts. Die Geschicklichkeit der Darstellung liegt darin, die beteiligten Forscher in ihren eigenen Darstellungen sprechen zu lassen, sie durch Kommentare zu verknüpfen, um auf diese Weise deutlich werden zu lassen, wie die im Zitat vorgestellten Forschungsergebnisse aufeinander Einfluss nahmen.

Wie Barthelmess und Kappert konnte auch Hans Stubbe, der damalige Direktor des Instituts für Kulturpflanzenzüchtung Gatersleben der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (DDR), auf eine langjährige eigene praktische Erfahrung in der biologischen Forschung zurückblicken [(1902–1989); 1946 Professor für landwirtschaftliche Genetik an der Universität Halle- Wittenberg; 1951–1967 Präsident der Deutschen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften; zahlreiche Ehrendoktorwürden; Vorstandsmitglied des Forschungsrates der DDR; Nationalpreis der DDR; parteiloser Abgeordneter der Volkskammer. In der Biologie bedeutsam ist seine experimentelle Widerlegung des Lyssenkoismus, der eine Vererbung erworbener Eigenschaften annahm].

1963 veröffentlicht er eine „Kurze Geschichte der Genetik bis zur Wiederentdeckung der Vererbungsregeln Gregor Mendels“. Das Werk führt in klassischer Epochenteilung kapitelweise von der Vorzeit durch Antike, Mittelalter und Neuzeit und widmet anschließend jeweils ein Kapitel dem 19. Jahrhundert, der Mutationslehre de Vries’ und der Zytologie dieser Zeit. Nach Darstellung der Wiederentdeckung der Mendelschen Regeln endet es in der Frühphase der klassischen Genetik mit „ersten Vorstellungen über eine Chromosomentheorie der Vererbung“. Wie der Verfasser vorausschickt, wolle er für die Vererbungswissenschaft ihre „großen Entwicklungslinien“ darstellen, „zumal eine solche Zusammenfassung in deutscher Sprache fehlt“ (Stubbe 1963: VII).

Dem Terminus Gen kommt in der Darstellung nur eine nebensächliche Bedeutung zu. Seine Einführung durch Johannsen wird nicht erörtert. Dennoch richtet sich das Augenmerk für das 19. Jahrhundert und die Jahrhundertwende auf Theorien, die singuläre Erbeinheiten entwerfen und deren Weitergabe, Entwicklung und Veränderung postulieren. Der Autor gibt Zitate aus Originalquellen mit Vorläuferbegriffen der Genvorstellung (Pangene, Gemmarien, Gemmules), wobei er die Vererbungslehren als Ganze dem Vergleich unterwirft. Nicht zur Frage erhoben wird, ob darin eine etwaige Tendenz der begrifflichen ← 17 | 18 → Entwicklung zum Genbegriff nachzuweisen ist. Untersucht wird nicht, wie der sich herausbildende Genbegriff Einfluss auf die Vorstellungen von Vererbung und Lebendigkeit der Lebewesen nimmt. Die Frage nach etwaigen begrifflichen Übergängen tritt zugunsten einer Betrachtung theoretischer Grundzüge der Lehren (Keimplasmatheorie, Micellar- Hypothese, intrazelluläre Pangenesis) in den Hintergrund.

1971 erscheint unter dem Titel „Gentheorie“ eine Aufsatzsammlung renommierter Genforscher. Herausgeber ist der amerikanische Genetiker und Wissenschaftshistoriker der University of California/Los Angeles, Elof Axel Carlson [(geb. 1931); 1958 promoviert durch Hermann Joseph Muller in Zoologie; lehrt gegenwärtig als Emeritus-Professor an der State University/New York]. Jeweils im Anschluss an einen historischen Überblick des Herausgebers werden behandelt, zusammengesetzt aus Einzelaufsätzen, die Kapitel Genstruktur, Genfunktion und Gentheorie, darunter Aufsätze von Seymour Benzer, Francis Crick, Richard Goldschmidt, Francois Jakob und Jaques Monod, Louis Stadler, James Watson. Der Herausgeber bezeichnet die Ausführungen als „moderne Auffassungen der Gentheorie“, einer Geschichte des Gens entspringend, die mit Darwin, Spencer und Mendel begonnen und nach Nichteinlösung „zahlloser Probleme“ zu Gegensätzen geführt habe.

„Selbst Genetiker widersprechen sich häufig in ihren Ansichten über das Gen und das selbst dann, wenn sie mit demselben Organismus experimentieren“ (Carlson 1971: Vorwort).

Details

Seiten
319
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653050097
ISBN (ePUB)
9783653976380
ISBN (MOBI)
9783653976373
ISBN (Paperback)
9783631657188
DOI
10.3726/978-3-653-05009-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Teleologie Anthropomorphie Evolutionstheorie Lebewesenhaftigkeit
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 319 S., 7 s/w Abb.

Biographische Angaben

Kurt Otto Plischke (Autor:in)

Kurt Plischke studierte Philosophie, Humanmedizin sowie Geschichte der Naturwissenschaften und der Medizin an den Universitäten Düsseldorf, München und Wien mit bundesdeutschem und US-amerikanischem Abschluss. Derzeit forscht der Autor im Bereich Philosophie und Geschichte der Wissenschaften und Medizin an der Universität Düsseldorf.

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Titel: Das Gen und seine Geschichte
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