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Leidenschaft und Ordnung

Romantiker und Realisten – Über deutsche Dichtungen 8

von Wolfgang Wittkowski (Autor:in)
©2015 Monographie 319 Seiten

Zusammenfassung

Manche Romantiker drücken Leidenschaft und deren Bändigung mit musikartigen Mitteln aus – hier Friedrich Schlegel und E.T.A. Hoffmann. Die psychologisch versierten Realisten tun es durch den rhythmischen Atem des Erzählens, des Dramas; ferner mit Skepsis, Resignation, Humor, den unvermeidlichen Konsequenzen: Keller, Raabe, Fontane – oder auch durch Kunst: Eichendorff und Mörike. Verhalten beschwört Stifter den Vulkanismus der Herzen und den Rückschlag der natürlichen Gesetze. Schockiert wird das Biedermeier-Bild durch Jedermannsfiguren, geliefert von dem Agnostiker Grillparzer in der Perspektive der Welttheaterbühne, von der katholischen Droste-Hülshoff und dem pietistischen Protestanten Büchner. In zunehmend glaubensloser Zeit verweisen alle drei mit versteckten Signalen der Liturgie auf den Sinn der umstrittenen Schlüsse.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Leidenschaft und Ordnung
  • Friedrich Schlegel (1772–1829): Lucinde – Musikartige Themen und Strukturen
  • E.T.A. Hoffmanns (1776–1822) musikalische Musikerdichtungen Ritter Gluck, Don Juan, Rat Krespel
  • Ritter Gluck (1809)
  • Don Juan (1813)
  • Rat Krespel (1817)
  • Die Jedermann-Figuren Woyzeck, Mergel und der arme Spielmann
  • Auf der Schwelle – Franz Grillparzer (1791–1872): Die Jüdin von Toledo
  • I
  • II
  • III
  • IV
  • V
  • VI
  • Der andere Eichendorff: Das Schloß Dürande
  • Volkstümlichkeit eines Unzeitgemäßen – Joseph Freiherr von Eichendorff (1788–1857)
  • Festrede, gehalten in Bad Godesberg März 1988 zu Eichendorffs 200. Geburtstag
  • „Von der alten schönen Zeit“ – Mozart auf der Reise nach Prag. Eduard Mörike (1804–1875) und Eichendorffs Zeitkritik
  • „Daß er als Kleinod gehütet werde“ – Adalbert Stifter (1805–1858): Der Nachsommer. Eine Revision
  • Abstufung und Antithetik
  • Der Rückblick: Gegenpol zum richtigen Leben und Erziehen
  • Zeitgenossen: Grillparzer, Stifter, Hebbel
  • Die Hebbel-Stifter-Kontroverse
  • Hebbel und Grillparzer (und Heine)
  • Stifter
  • Die Dichter und die Frauen
  • Erfüllung im Entsagen – Gottfried Keller (1819–1890): Der Landvogt vom Greifensee
  • I
  • II
  • III
  • IV
  • V
  • VI
  • VII
  • Erkennen, Reden, Tun im Zusammenhang der Dinge – Wilhelm Raabe (1830–1910): Das Horn von Wanza und Theodor Fontane (1819–1898): Irrungen Wirrungen – ethisch betrachtet
  • Das Horn von Wanza (1880)
  • Irrungen Wirrungen (1887)
  • Tun oder Reden

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Leidenschaft und Ordnung

Wie bei den letzten Bänden meiner Serie danke ich Frau Ute Winkelkötter und dem Peter Lang Verlag für die Veröffentlichung und Frau Sandra Hawrylchak für die Herstellung des Textes sowie für unzählige Hilfsdienste, die dazu nötig waren. –

Ich bitte, mich nicht als Vielschreiber zu klassifizieren. Ich trage ja nur zusammen, was in 40 Jahren zustandekam. Ich hatte das Glück, auf meinen Wunsch mit administrativen Aufgaben verschont zu werden, und konnte mich meinen Passionen, dem Unterricht, dem Forschen und Publizieren, nahezu uneingeschränkt überlassen. Nun, im Ruhestand, überarbeite und fasse ich in Bänden zusammen. Mehr ist es nicht.

Wer in dieser meiner Serie Über deutsche Dichtungen nunmehr einen Band zum 19. Jahrhundert erwartet, dürfte nur bedingt zufrieden sein. Büchner und Hebbel hatten bereits eigene Bände erhalten; letzerer ist nicht wieder dabei, außer in dem Kapitel „Zeitgenossen“ mit Grillparzer und Stifter. Eine neue Studie zu dem Versepos Mutter und Kind war vorgesehen; schien mir dann aber doch zu bieder und ebenbürtig weder dem vorgeschriebenen Vorbild, dem Epos Goethes, noch etwa dem Woyzeck, der Judenbuche und dem armen Spielmann.

Diese umstrittenen Meisterwerke noch einmal und diesmal zusammen zu behandeln und durch Vergleiche womöglich zu erhellen: dieser Verlockung widerstand ich nicht. Gemeinsam erweisen sie mitten in der Epoche, die sich anschickte, Religion hinter sich zu lassen, die intensive Religiosität des protestantischen Pietisten Georg Büchner, des angeblichen Atheisten, sowie der katholischen Annette von Droste-Hülshoff – für den klugen Agnostiker Franz Grillparzer immerhin die skeptisch-pietätvolle Anerkennung der Geltung von Religion und Religiosität damals. Dabei führe ich nochmals die u.a. an diesen drei Autoren von mir entdeckte Dichtungs-Methode vor, mit religiös relevanten Daten des Missale Romanum die Texte über den immanenten Eindruck hinaus oder sogar gegen ihn zu kommentieren; eine Technik, deren sich m.W. alle drei unabhängig voneinander bedienen. Diesmal ist meine Perspektive die der Bühne, des Welttheaters, mit einer Jedermann-Figur im Zentrum: dem Menschen samt seinen elementaren Möglichkeiten.

Befremden erregen mag der große Umfang, den ich Stifter ein­räume. Die Interpretation des „Rückblicks“ aus dem Nachsommer in ihrer Überlänge und ihrer minutiösen Detailliertheit wurde mir in­des geradezu aufgedrängt von den geläufigen oft einzeiligen kriti­schen Erledigungen des Kapitels, das in Wahrheit weit mehr als alle anderen die ausführliche Analyse braucht – allerdings als ← 9 | 10 → Revision und Umkrempeln der konventionellen Sicht des Nach­som­mer-Pro­blems. Dieses Nebenprodukt der Betreuung einer Stifter-Disserta­tion verschaffte mir den Auftrag, für Reclams Deutsche Dichter statt eines der mir näheren Autoren eben Stifter vorzustellen.

Mit „Leidenschaft und Ordnung“ erfasse ich ein weitgespanntes Themengebiet, das Romantiker wie Realisten (und wohl fast alle Schriftsteller) beschäftigt hat. Der Fall des stifterschen „Rückblicks“ illustriert freilich, daß man da doppelt achtzugeben hat: 1. bezeichnete Stifter, wie man es spätestens seit Lessing tat, als „Leidenschaften“ mehr solche heftigen Passionen, die man ‚ erlitt‘ als Angriff auf das ethische Selbstverständnis. 2. übersah man bei Stifter fast gänzlich, daß solch unselige „Leidenschaft“ gar nicht das junge Paar, sondern die Eltern der Mathilde packt, und zwar als emotional rationalisierende Unterwerfung unter Dogmen von autoritativer Geltung; und 3. übersah man Stifters Nachsommerprinzip: die Ordnung bewahrende oder wiederherstellende Rettung durch naturwissenschaftlich diszipliniertes, gewissenhaftes Prüfen und Bedenken der Phänomene, um allem Leben sorge- und liebevoll gerecht zu werden und zumal den Mitmenschen zu hüten als „Kleinod.“

Leidenschaft schon mehr in unserem heutigen Sinne faszinierte die Romantiker. Sie gaben ihr Ausdruck und bändigten sie mit Hilfe u.a. von Musik und Metaphysik. Friedrich Schlegel und E.T.A. Hoffmann sind meine Beispiele. Eichendorff war zunächst Gegenstand eines Auftrags; einer Festrede für die deutschen Vertriebenen. Sie machte Bundeskanzler Kohl nicht glücklich. Der Dichter hatte mich mit seinem aufsässigen Eintreten für Recht und Wahrheit angesteckt. Andererseits nutze ich Kategorien des konservativen Romantikers als hoffentlich erhellenden Kontrast zu Mörikes Mozart.

Nach dem religiösen Zwischenspiel von Restauration und Biedermeier, nach Stifters und Eichendorffs Kampf gegen die Ernüchterung in der industriellen Welt umspielten dann die Realisten Leidenschaft und deren Bändigung zu moralisch-gesellschaftlicher Ordnung. Religion wird nun – bei Keller, Raabe und Fontane – weitgehend ersetzt durch Humor und Resignation. Am liebsten hätte ich auch C.F. Meyers Leiden eines Knaben interpretiert. Doch ich sah ein, daß diese zwischen Leidenschaft und Ordnung vibrierende, hinreißende Erzählung nicht angewiesen ist auf mich. Ich empfehle die genußreiche Lektüre. Wie denn überhaupt die eingehende Kenntnis der hier erörterten Texte Voraussetzung sein dürfte für einen ersprießlichen Austausch mit meinen Interpretations-Versuchen.

Diesen 8. und letzten Band meiner Serie „Über deutsche Dichtungen“ widme ich Katharina Mommsen, der beredten Botschafterin Goethes und Mahnerin zur würdigen Erinnerung an die große deutsche Dichtung. Sie schrieb: „Ein ← 10 | 11 → Volk, das seine wahrhaft großen Geister nicht ehrt, hat keine Zukunft.“ Davon ist inzwischen schon gelegentlich die Rede.

Ein dankbares Gedenken gebührt endlich den drei Frauen, ohne die meine Serie nicht zustande und nicht zu diesem Ende gekommen wäre: Frau Ute Winkelkötter, Frau Sandra Hunt Hawrylchak und meine Frau Charlotte Wittkowski-Körner.

P.S. Das halbwegs neu-formatierte Kapitel über die „Jedermann“-Figuren leite ich ein mit einer Art Standpredigt, wie sie mir jetzt vorkommt, gerichtet an die Teilnehmer einer Büchner-Konferenz. Ich hielt es damals für angebracht, Mißgriffe der Deutung nicht immer dem jeweiligen Sünder, sondern der ganzen Gilde anzulasten, was natürlich so nicht stets den Tatsachen entsprach. Ich fand es zu umständlich und ungemütlich, jedes Mal den einzelnen namentlich zu präsentieren oder bloßzustellen. Ich bitte um Vergebung, Nachsicht und Verständnis.

Wolfgang Wittkowski

Slingerlands, New York, 1. Juli 2014

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Friedrich Schlegel (1772–1829):LucindeMusikartige Themen und Strukturen*

Im Folgenden geht es nicht um Musik als Begleitung und Erhöhung von Literatur; auch nicht um Musik als Stoff, Thema, Motiv der Dichtung; nicht um Wortmusik, Reim u. dgl. Es geht um einen Roman, der sich musikartiger Strukturen und Wirkungen bedient. Jocelyne Kolb und ich versuchten, das Gleiche zu demonstrieren an Geschichten E.T.A. Hoffmanns, die gleichzeitig Musik und Musiker zum Thema hatten, zumal an den Kreisleriana I.1 Häufig führten solche Vergleiche zwischen Dichtung und Musik zu unergiebigen, ja zweifelhaften Resultaten. Das mag mit einem Grund sein, weshalb man Lucinde noch nicht unter diesem Gesichtspunkt untersuchte. Ich tue es hier nicht, um die Zahl solcher Versuche zu vermehren, sondern weil ich glaube, man kann Form, Sinn und Wert des Werkes von hier aus besser einschätzen, und der Leser hat so mehr von dem Roman.

Mit seinem Konzept der „progressiven Universalpoesie“ meinte Friedrich Schlegel: Durchdringung von Dichtung mit dem „Geist einer andern Kunst;“2 mit Malerei, Architektur, aber auch Wissenschaft, Kritik und Philosophie, die er zu Künsten gesteigert sehen wollte, endlich „immer wieder“ mit Musik;3 und niemals nennt er sie häufiger als in seinem Notizbuch zur Zeit der Lucinde.4 Hans Eichner, der beide herausgegeben hat, benutzt zur Beschreibung der Form des Romans vor allem musikalische Ausdrücke und fügt einmal hinzu: „wie Schlegel sagen würde.“ Allerdings gibt er zu, man könne der Struktur des Werkes „nur in einer weit detaillierteren Analyse […] gerecht werden.“5 ← 13 | 14 →

Diese Ansätze nahm niemand auf. Wo man gründlich analysierte, griff man wie üblich zurück auf statische Modelle des Denkens und der Form. So wählte Karl Konrad Polheim die „Arabeske.“ Schlegel nannte sie die ahnungsweise Veranschaulichung der „unendlichen Fülle in der unendlichen Einheit,“ der „Vereinigung von […] Chaos und System, Realem und Idealem,“ ja sogar der Selbstdarstellung und Kritik von Poesie,6 die „überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie“ sein soll.7

Man fragt sich, wie die hier angesprochene Vielschichtigkeit und Steigerung durch Arabesken auszudrücken wären. Esther Hudgins spricht daher außer von der Arabeske von einer Dialektik zwischen dem unbestimmt-weiblichen und dem bestimmt-männlichen Prinzip, verbunden zu beider Synthese in der vollendeten Menschheit: und zwar vollzogen, sagt sie, durch „musikalische Gestaltungsweisen, für die die Lucinde viele Beweise liefern könnte.“8 Gegen Ende ihrer Untersuchung meint sie noch einmal, bei den vorausgehenden Beispielen ihrer Formanalyse könnte man mit „gleicher Berechtigung […] von einer musikalischen Gestaltung sprechen.“9 Niemals bestimmt sie jedoch genauer, wie sie das meint.

Im Sinne hat sie vor allem vier Prinzipien, die sich mir in den Kreisleriana ebenfalls ergeben haben und die untereinander zusammenhängen: 1. Die Sprache ist hochgradig abstrakt, 2. der Aufbau symmetrisch. Die „Lehrjahre der Männlichkeit“ bilden das Mittelstück. Die vorangehenden Abschnitte behandeln, wie Ernst Behler es formuliert, die selige Gegenwart, die nachfolgenden den künftigen Eintritt der Liebenden in die gesellschaftliche Welt.10 3. Die traditionelle Schilderung einer Begebenheit beschränkt sich auf die „Lehrjahre.“ Sonst drückt die Sprache Bewußtseinszustände aus, Gedanken und gedachte Gefühle. 4. Musikalisch ordnet sich das alles auffällig durch Wiederholungen, Variationen, Parallelen und Kontraste. Es ergeben sich Leitmotive und – das scheint mir nun am wichtigsten zu sein – Leitlinien der Entwicklung, der Steigerung und Potenzierung. In einem Brief an August Wilhelm vom 23. 3. 1798 kennzeichnet Friedrich die Einrichtung des ersten Heftes ihrer neuen Zeitschrift Athenäum als „Ouverture,“ „Potenzismus“ und „gigantische Synfonierung.“11 ← 14 | 15 →

Ein Beispiel: Die Selbstanalyse des Mannes, seine Analyse der Frau und ihrer beider Liebe gibt ihrem persönlichen Leben in der Ehe eine Dynamik, die ins gesellschaftliche Leben und darüber hinaus ins Mysterium des Universums wirkt. Das Verfahren prägt sogar die „Lehrjahre,“ so konventionell ihre Erzählweise anmutet. Die Episoden des Helden scheinen sich weitgehend zu wiederholen (hier paßt der Begriff der Arabeske); tatsächlich aber handelt es sich um fast unmerkliche Grade einer Erweckung und Entwicklung. Entsprechend verringert sich die Kritik des Erzählers Julius an Julius, dem Helden der „Lehrjahre,“ bis die Er-Erzählung in die Ich-Erzählung mündet, die Vorgeschichte der Roman-Situation in diese selbst, das Ich von damals ins gegenwärtige.12

Wenn die Nebenfiguren der „Lehrjahre“ dabei ohne Profil und reduziert bleiben auf das Minimum an Zügen, das nötig ist für ihre Funktionsbestimmung – so tritt hier wie in der fast monotonen Reihe der Affären die hohe Abstraktionstendenz des ganzen Werks hervor, die sich zuweilen – etwa beim Thema ‚Mythologie‘ – zur bloßen Nennung von Namen verdünnt.13 Sie eben erlaubt die von Schlegel hervorgehobene „künstliche“ Konstruktion: daß nämlich die Themen, Motive und Begriffe ihre Reihen unabhängig von den Wirklichkeitsgesetzen der Kausalität und Zeit, rein nach den Prinzipien der Steigerung und Potenzierung bilden.

„Bilden“ ist übrigens ein Kernwort des Romans. Es bedeutet ‚Bildung‘ im Sinne des Bildungsromans, auf den die Kapitelüberschrift der „Lehrjahre“ hinweist, wie denn Schlegel Goethes Meister so rezensiert, als habe er es mit einem Zwilling der Lucinde zu tun, nicht nur mit deren Vorläufer. Brieflich bezeichnet er schon die Rezension als seinen „Übermeister.“ In ihr benutzt er mehr als irgend sonst Kategorien der Musik. Ferner gebraucht er „gebildet“ im üblichen Sinn sowie endlich im Goetheschen und dem der Meister-Rezension von „organisiert,“14 ‚gebaut,‘ ‚gemacht,‘ wobei die gewisse Gegensetzung der beiden letzten Begriffe zum ersten („organ“) gewollt und synthetisierend aufgehoben ist.

Das alles und die Ähnlichkeit des ersten Briefes „Julius an Lucinde“ mit Goethes Gedicht „Die Metamorphose der Pflanzen“ veranlassen E. Hudgins, statt des Musikalischen doch lieber die Architektonik der Arabeske zum bestimmenden Formprinzip des Romans zu deklarieren. „Für die bewußte Umsetzung einer zeitlich determinierten Kunst“ wie Dichtung und Musik umgekehrt „in eine visuelle Figur durch die sprachliche Erzeugung von bildlichen oder räumlichen Vorstellungen spricht ja bereits,“ schreibt sie, „die Verdrängung des ← 15 | 16 → Zeitgerüsts durch die Architektonik des Aufbaus.“15 Zum gleichen Ergebnis gelangt eine Spezialuntersuchung der Zeit in Lucinde: Vergangenheit und Zukunft fungieren da nur als Erweiterungen des gegenwärtigen Augenblicks der Subjektivität. Die plötzlichen Sprünge zwischen ihnen und die enge Verknüpfung zeitlich weit getrennter Vorgänge heben die Zeiterfahrung auf, über welche die Phantasie in schöpferischer Willkür frei verfügt.16

All das trifft sicher zu für das Chaos der erzählten Zeit in der Abfolge der Briefe und Notizen des Julius. Die Erzählzeit des Ganzen selbst verläuft jedoch so kontinuierlich linear wie alle Kunst, welche gelesen und gehört sein will. In dieser am unmittelbarsten gegebenen Schicht des Werkes – die Lucinde-Interpreten überspringen sie durchweg – ist dessen Charakter einer musikartigen Literatur verankert. Und zu den Bildern und Raumvorstellungen, die E. Hudgins dagegen anführt, findet sich gerade im Musikalischen die beste künstlerische Basis und Erklärung.

Wo immer nämlich die Darstellung zu mythischen Bildern, allegorischen Personifikationen und räumlichen Szenen gerinnt, stellt sich wie dann bei Hoffmann die Vorstellung des Opernhaften ein. Die Konvention mythischer Bilder verbindet sich mit der vordergründig hallenden Konventionssprache des Librettos zur phantastischen Szenerie der Märchenoper. Am offenkundigsten ergibt sich das bei den Traumgrotesken der drei Romanarten in der „Allegorie der Frechheit“ und bei den Komödien-Auftritten eines gefesselten Prometheus und des Herkules in der „Idylle über den Müßiggang.“ Ja, es gilt für sämtliche Kapitel dieser „Suite von Bildungsstücken“ – so nannte Schlegel Goethes Meister –;17 und so hätte er seinen eigenen Roman bezeichnen können. Alle meine späteren Beispiele enthalten dieses opernhafte Element.

Das spezifisch Musikalische der Sprachgestaltung besteht darin, sagte ich, daß Leitmotive, -themen und -begriffe den Prinzipien der Steigerung und Potenzierung unterworfen werden, und zwar bei ostentativer Ignorierung der Wirklichkeitsgesetze von Kausalität und Zeit, aber – so ist hinzuzufügen – auch der Logik im allgemeinsten Sinne dessen, was man vernünftigerweise von einer Gedankenfolge erwarten darf. Die Logik dieser Kunst liebt die Überraschung durch ← 16 | 17 → Stilbrüche und Paradoxe. Polheim stellt das an Schlegels theoretischer Sprache gleichfalls fest. In seiner überaus gewissenhaften Studie zu Schlegels Poetik stößt er immerfort auf einen Umgang mit Begriffen, der der Logik des diskursiven Denkens und zumal des wissenschaftlichen Argumentierens zuwiderläuft. Ich fasse Polheims Befund zusammen:

Schlegel stellt Begriffe nebeneinander, die nicht zusammengehören. Er vertauscht Begriffe untereinander und durch andere, sagt Verschiedenes über einen Gegenstand, Gleiches über verschiedene Dinge. Er experimentiert mit immer neuen, analogen Begriffen in immer neuen Konstellationen.18 Die neuen Begriffe sind teils sinngleich mit den früheren, teils reicher oder sonst verschieden und werden ohne Erklärung eingeführt, ohne Definition. Formeln wie ‚Liebe ist die Wurzel der Phantasie‘ werden umgekehrt oder durch analoge ersetzt.19 Der Leser muß das Gesagte hinnehmen, ohne dem Gedankengang folgen zu können. Im wesentlichen gebraucht Schlegel immer die gleichen Begriffe. Ohne logische Verbindungen setzt er sie ein und wandelt sie ab. Er suggeriert dem Leser das Gemeinte durch Assoziationen, Analogien und durch die Konstruktion der Sätze.20

Polheim hält dieses Verfahren für Absicht. Es herrscht in der Lucinde ebenfalls und weitaus drastischer. Denn da ist es legitimes Formprinzip der Poesie, eben ein musikartiges, ein Formprinzip aus dem Geiste der Musik und nicht, oder weit weniger, aus dem der Sprachlogik in Literatur und Wissenschaft. Das ist mein eigentliches Thema. An dieser Stelle ergibt sich indessen ein Problem, dem in aller Kürze nachzugehen, vielleicht nicht überflüssig ist.

Wenn Schlegel sich in seiner Theorie einer irrationalen und musikalischen Schreibweise bedient, im Roman wiederum hauptsächlich reflektiert und sogar über Dichtung theoretisiert, so vermischen sich beidemale Dichtung und Philosophie. Schlegel hat ihre Synthese angestrebt: „Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt sein.“21 „Im Roman werden Poesie und Philosophie chaotisch synthetisiert.“22 Er behauptet eine „Tendenz aller reinen Instrumentalmusik zur Philosophie;“ sie müsse sich selbst „einen Text erfinden;“ und in ihr selbst werde ihr „Thema […] so ← 17 | 18 → entwickelt, bestätigt, variiert und kontrastiert, wie der Gegenstand der Meditation in einer philosophischen Ideenreihe.“23 Auch die „Methode des Romans ist die der Instrumentalmusik.“ Er behandelt seinen Stoff „so willkürlich […], wie die Musik ihr Thema.“24

Willkür also, Poesie, Musiktechnik in Wissenschaft und Philosophie und umgekehrt. E. Hudgins meint, all das mache Lucinde zu einem „Neuansatz der Prosagestaltung.“25 Das mag gelten für die Prosadichtung, zumal für den Roman. Daneben aber gibt es eben Schlegels theoretische Arbeiten. Und ihnen ging manches Ähnliche voran: Mystik und theologisch-philosophische Spekulation. Im Rahmen des Gesprächs über die Poesie heißt es in der Diskussion zur „Rede über die Mythologie:“ alle Künste begegneten sich in einem „Zentralpunkt“ und mündeten, wie die Physik, in „Kosmogonie,“ „Astrologie, Theosophie […], kurz, in eine mystische Wissenschaft vom Ganzen.“26

Als einen Vorläufer auf dem Wege dahin mag Schlegel Lessings Erziehung des Menschengeschlechts gelesen haben. Allen voran aber zu nennen wäre Schiller. Seine Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen und seine Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung haben Schlegels Produktivität entscheidend angeregt und ausgelöst. Und für beide ist kennzeichnend, daß sie die Konsistenz der Sachlogik und der Begriffe weithin den assoziativen Forderungen einer dynamisch-dialektischen Formstruktur unterwerfen.

In dem Aufsatzfragment Epoche der forcierten Talente von 1812 beklagte Goethe, Schillers Theoretisieren habe der Philosophie und der Reflexion einen unheilvollen Spielraum in der Poesie eröffnet. Ebenso gut hätte er beanstanden können, die philosophische Reflexion habe – weniger seit Schiller als vielmehr seit Schlegel, Schelling und anderen Romantikern (womöglich Hölderlin) – weniger wissenschaftlich als poetisch (oder eben ‚musikalisch‘) argumentiert. Das ist ein Erbübel bis heute und wurde schon von Schiller an sich selber kritisiert. Am 31. August 1794 schreibt er Goethe:

Mein Verstand wirkt eigentlich mehr symbolisierend [siehe dazu unten], und so schwebe ich, als eine Zwitter-Art, zwischen dem Begriff und der Anschauung, zwischen der Regel und der Empfindung, zwischen dem technischen Kopf und dem Genie. Dies ist es, was mir, besonders in früheren Jahren, sowohl auf dem Felde der Spekulation als der Dichtkunst ein ziemlich linkisches Ansehen gegeben; denn gewöhnlich übereilte mich der Poet, wo ich philosophieren sollte, und der philosophische Geist, wo ich dichten wollte. Noch jetzt begegnet es mir häufig genug […]. ← 18 | 19 →

Schiller blickt hier zurück auf seine Philosophischen Briefe (gedruckt 1786 und 1792) mit ihrem Kernstück, der „Theosophie des Julius“ vielleicht dem wichtigsten Vorläufer der Lucinde mit ihrem Helden und Erzähler Julius. Den Ausdruck „symbolisierend“ im ersten Satz des Zitats erklärt er Goethe im voraufgehenden Absatz:

Mein Bedürfnis und Streben ist, aus wenigem viel zu machen […]. Weil mein Gedankenkreis kleiner ist, so [kann ich] eine Mannigfaltigkeit, die dem Inhalt fehlt, durch die Form erzeugen. Sie bestreben sich, Ihre große Ideenwelt zu simplifizieren; ich suche Varietät für meine kleine Besitzungen. Sie haben ein Königreich zu regieren, ich nur eine etwas zahlreiche Familie von Begriffen, die ich herzlich gern zu einer kleinen Welt erweitern möchte.

Ebensogut oder besser paßt das auf Schlegel und grundsätzlich auf die romantische Musik. Schlegel definiert diese Tendenz der Kunst am Beispiel der Mythologie. Er spricht da von „Arabeske,“ und zwar weniger von ihrer statischen Figur als vielmehr von ihrem Werden, Fortschreiten, von der Dynamik, die er gerne mit Musik gleichsetzt und die ich hier als musikartig verstehe. Und er ‚musiziert‘ mit den Begriffen in der Theorie wie dann in Lucinde. Es ist dieselbe Stelle, auf die Polheim hauptsächlich seine Bemerkungen zur Arabeske und zugleich zu Schlegels logischem Umgang mit Begriffen stützt.

Zu beobachten und zu beachten sind das unauffällige assoziative Um- und Weiterbilden, das stufenweise Steigern der Gedanken, das Schlegel sogar selbst thematisiert (siehe das folgende Zitat, 2. Absatz). Die neue Stufe wird nicht logisch vorbereitet, sondern angekündigt mit dem Fanfarenstoß neuer Begriffe. Der Leser sieht sich von suggestiver Willkür überrumpelt:

Details

Seiten
319
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653049817
ISBN (ePUB)
9783653976540
ISBN (MOBI)
9783653976533
ISBN (Hardcover)
9783631657102
DOI
10.3726/978-3-653-04981-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Schlagworte
Biedermeier-Bild Jedermanssfiguren Welttheaterbühne
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 319 S.

Biographische Angaben

Wolfgang Wittkowski (Autor:in)

Wolfgang Wittkowski wurde 1925 in Halle an der Saale geboren. Er studierte in Göttingen und Frankfurt am Main und promovierte 1953 bei Kurt May über Hebbel. Auf Grund seiner international beachteten Veröffentlichungen während seines Schuldienstes in Bad Nauheim wurde er 1963 Associate und 1965 Full Professor an der Ohio State University, Columbus/Ohio, 1977 bis zur Emeritierung 1995 an der State University, Albany/New York. Seine Interpretationen deutscher Meisterwerke, besonders des 18. und 19. Jahrhunderts, erarbeiten im Kontext von Forschung und Politik, Literatur- und Geistesgeschichte phänomenologisch die ethisch-psychologische Motivation der Figuren und Autoren.

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Titel: Leidenschaft und Ordnung
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