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Die Friedensbedrohung gemäß Art. 39 UN-Charta im Libyen-Konflikt 2011

von Cristan Gerhold (Autor:in)
©2014 Dissertation XXIV, 336 Seiten

Zusammenfassung

Am 17. März 2011 erließ der UN-Sicherheitsrat Resolution 1973. In dieser Resolution ermächtigte er die UN-Mitgliedsstaaten dazu, militärisch im Libyen-Konflikt zu intervenieren. Nach Artikel 39 UN-Charta ist Voraussetzung für eine derartige Ermächtigung, dass eine Friedensbedrohung vorliegt. Aufgrund der Souveränität der Staaten ist eine solche ursprünglich nur angenommen worden, wenn zwischenstaatliche Konflikte vorlagen. Inwieweit und unter welchen Voraussetzungen mittlerweile auch innerstaatliche Konflikte als Friedensbedrohung angesehen werden können und ob der Konflikt 2011 in Libyen diese Kriterien erfüllt, ist Gegenstand dieser Untersuchung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • I. Problemstellung
  • II. Zentrale Fragestellung der Untersuchung
  • III. Gang der Untersuchung
  • Kapitel 1: Geschichte Libyens und Verlauf des Konfliktes 2011
  • A. Geschichte Libyens
  • I. Libyen vor der Kolonialisierung durch Italien
  • II. Die Eroberung und Kolonialisierung Libyens durch Italien
  • III. Libyen nach dem zweiten Weltkrieg
  • IV. Das Libysche Königreich, 1951–1969
  • V. Gaddafis Herrschaft
  • 1. Abschnitt: Die Phase der Umstrukturierung
  • 2. Abschnitt: Volksrevolution
  • 3. Abschnitt: Volks-Jamahiriya (Volks-Massenstaat)
  • 4. Abschnitt: Revolution der Revolution
  • B. Entstehung und Verlauf des Libyen-Konfliktes
  • I. Beginn des Konfliktes
  • II. Risse in den traditionellen Strukturen des Landes
  • III. Internationale Reaktionen auf den Konflikt in Libyen
  • IV. Verlauf des Konfliktes unter Beteiligung der UN-Mitgliedsstaaten
  • Kapitel 2: Die Rechtfertigung der zum Erfolg der Revolution führenden Gewalt
  • A. Das Recht des libyschen Volkes auf Gewalt
  • I. Das Selbstbestimmungsrecht der Libyschen Opposition
  • 1. Entwicklung des Selbstbestimmungsrechtes
  • 2. Libysche Opposition als „Volk“
  • 3. Umfang des Selbstbestimmungsrechtes der libyschen Freiheitsbewegung
  • II. Zwischenergebnis
  • B. Das Recht zur Anwendung von Gewalt durch die UN-Mitgliedsstaaten
  • I. Das Gewaltverbot gem. Art. 2 Abs. 4 UN-Charta
  • 1. Entwicklung des Gewaltverbotes
  • 2. Verstoß gegen das Gewaltverbot gem. Art. 2 Abs. 4 UN-Charta durch die Intervention der NATO-Staaten
  • a) Geltungsanspruch des Gewaltverbotes
  • b) Aufhebung des Gewaltverbotes aufgrund der Umgehungspraxis der Mitgliedsstaaten
  • c) Gewaltanwendung zur Durchsetzung fundamentaler Menschenrechte
  • 3. Der Tatbestand von Art. 2 Abs. 4 UN-Charta
  • a) Gewalt
  • b) Anwendung von Gewalt in Internationalen Beziehungen
  • c) Territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit
  • 4. Zwischenergebnis
  • II. Rechtfertigungsmöglichkeiten für den Verstoß der NATO-Staaten gegen das Gewaltverbot
  • 1. Intervention auf Einladung
  • 2. Kollektive Selbstverteidigung
  • a) Nothilfe bei Menschenrechtsverletzungen
  • b) Nothilfe bei Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes
  • c) Terroristische Aktivitäten Libyens als Angriff i.S.v. Art. 51 UN-Charta
  • d) Zwischenergebnis
  • 3. Humanitäre Intervention
  • 4. Responsibility to Protect
  • 5. Ermächtigung durch internationale Organisationen
  • a) Intervention aufgrund NATO-Beschluss
  • b) Intervention aufgrund Resolution des Sicherheitsrates
  • C. Die Eröffnung des Tatbestandes gem. Art. 39 UN-Charta und Rechtsbindung des Sicherheitsrates
  • I. Angriffshandlung
  • II. Bruch des Friedens
  • III. „Bedrohung des Friedens“ i.S.v. Art. 39 UN-Charta
  • IV. Berücksichtigung der „Rule of Law“ bei der Entscheidung über das Vorliegen einer Bedrohung des Friedens durch den Sicherheitsrat
  • 1. Entstehungsgeschichte der Charta
  • 2. Die im Wortlaut von Art. 39 UN-Charta niedergelegte Feststellungsbefugnis des Sicherheitsrates
  • 3. Rechtliche Bindung des Sicherheitsrates aus der Systematik der UN-Charta
  • a) Rechtliche Beschränkung durch Art. 24 Abs. 2 S.1 UN-Charta
  • b) Verhältnis von Art. 39 UN-Charta zu Art. 2 Abs. 7 UN-Charta
  • c) Durchsetzbarkeit der „Rule of Law“
  • aa) Kontrollmöglichkeit des Internationalen Gerichtshofes
  • bb) Indirekte Kontrolle der Entscheidungen des Sicherheitsrates durch die Mitgliedsstaaten gem. Art 25 UN-Charta
  • d) Praxis des Sicherheitsrates
  • 4. Ergebnis zur Berücksichtigung der „Rule of Law“ durch den Sicherheitsrat
  • Kapitel 3: Der Begriff der Friedensbedrohung gem. Art. 39 UN-Charta
  • A. „Frieden“ und „Bedrohung“ als Elemente des Begriffes der Friedensbedrohung
  • B. Friedensbegriff in der Friedensforschung
  • I. „Negativer“ und „positiver“ Friedensbegriff
  • 1. „Negativer“ Friedensbegriff
  • 2. „Positiver“ Friedensbegriff
  • a) Entstehung des „positiven“ Friedensbegriffes in der Friedensforschung
  • b) Problematik der Übertragung des positiven Friedensbegriffes aus der Friedensforschung in den Tatbestand gem. Art. 39 UN-Charta
  • II. Einzug des positiven Friedensbegriffes in das Völkerrecht
  • 1. Positiver Frieden als Prozess
  • 2. Der positive neben dem negativen Friedensbegriff in der UN-Charta
  • III. Schlussfolgerungen für den Libyen-Konflikt
  • C. Auslegung des Begriffes der Friedensbedrohung in Art. 39 UN-Charta
  • I. Wörtliche Auslegung
  • 1. Wörtliche Auslegung des Friedensbegriffs in Art. 39 UN-Charta
  • 2. Wörtliche Auslegung des Bedrohungsbegriffs aus Art. 39 UN-Charta
  • II. Systematische Auslegung
  • 1. Systematische Auslegung des Friedensbegriffes
  • a) Einheitlicher Friedensbegriff in Art. 39 UN-Charta
  • b) Einheitlicher Friedensbegriff in der UN-Charta
  • c) Bedeutung der Ausnahme vom Interventionsverbot gem. Art. 2 Abs. 7 HS 2 UN-Charta
  • aa) Bedeutung von Art. 2 Abs. 7 HS 2 UN-Charta für den Friedensbegriff in Art. 39 UN-Charta
  • bb) Ergebnis zur systematischen Auslegung von Art. 2 Abs. 7 HS 2 UN-Charta i.V.m Art. 39 UN-Charta
  • d) Die Bedeutung von Art. 2 Abs. 4 UN-Charta für den Friedensbegriff in Art. 39 UN-Charta
  • aa) Streitstand um die systematische Bedeutung von Art. 2 Abs. 4 UN-Charta für den Friedensbegriff in Art. 39 UN-Charta
  • (1) Enge Ansicht
  • (2) Weite Ansicht
  • (3) Vermittelnde Ansicht
  • bb) Ergebnis zur systematischen Auslegung von Art. 2 Abs. 4 UN-Charta i.V.m. Art. 39 UN-Charta
  • e) Ergebnis zur wörtlichen und systematischen Auslegung des Friedensbegriffes
  • 2. Systematische Auslegung des Bedrohungsbegriffes
  • a) Der Begriff der Bedrohung in Vorschriften der UN-Charta
  • b) Abgrenzung zu Kapitel VI UN-Charta
  • c) Ergebnis der systematischen Auslegung des Bedrohungsbegriffes
  • III. Historische Auslegung des Friedensbedrohungsbegriffes in Art. 39 UN-Charta
  • IV. Ergebnis zur wörtlichen, systematischen und historischen Auslegung des Friedensbedrohungsbegriffes
  • V. Praxis des Sicherheitsrates als Bestandteil der Auslegung
  • 1. Abgrenzung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung
  • 2. Einstimmigkeitserfordernis
  • 3. Zwischenergebnis
  • Kapitel 4: Die Praxis des Sicherheitsrates und ihre Auswirkung auf die Auslegung des Friedensbegriffes in Art. 39 UN-Charta
  • A. Die Praxis des Sicherheitsrates
  • I. Kurdenverfolgung im Irak 1990
  • 1. Hintergrund
  • 2. Wortlaut und mögliche Bedeutung von Resolution 688 für den Friedensbegriff
  • 3. Begründung der Friedensbedrohung in der Debatte zur Abstimmung und Verabschiedung von Resolution 688
  • a) Die Begründung der die Resolution ablehnenden Staaten
  • b) Die Begründung der sich enthaltenden Staaten
  • c) Die Argumente der Befürworter der Resolution
  • d) Zwischenergebnis für die Feststellung einer Friedensbedrohung in der Debatte zur Verabschiedung von Resolution 688
  • 4. Errichtung von Sicherheitszonen im Nordirak als Umsetzung von Resolution 688
  • 5. Ergebnis
  • II. Jugoslawien
  • 1. Hintergrund
  • 2. Reaktion des Sicherheitsrates und weiterer Verlauf des Konfliktes
  • 3. Der Begriff der Friedensbedrohung im Jugoslawien-Konflikt
  • a) Resolutionen 713–743
  • b) Konfliktlage nach Anerkennung der Eigenständigkeit von Slowenien, Bosnien und Kroatien
  • c) Der Konflikt in Bosnien
  • 4. Schlussfolgerung
  • III. Haiti
  • 1. Hintergrund
  • 2. Reaktion der UN und weiterer Verlauf der Krise
  • 3. Die Begründungen der Annahme einer Friedensbedrohung in der Haiti-Krise
  • 4. Kritik der verschiedenen Begründungen der Friedensbedrohung während der Krise in Haiti
  • 5. Schlussfolgerung
  • IV. Somalia
  • 1. Hintergrund
  • 2. Reaktion des Sicherheitsrates und Fortgang des Konfliktes
  • 3. Die Begründungen des Sicherheitsrates für die vom Somalia-Konflikt ausgehende Friedensbedrohung
  • 4. Die Begründungen der Literatur für die vom Somalia-Konflikt ausgehende Friedensbedrohung
  • a) Internationale Auswirkungen
  • b) Innerstaatliche Gewalt als internationale Bedrohung
  • c) Zustimmung der Konfliktparteien
  • d) Humanitäre Intervention
  • 5. Schlussfolgerung
  • V. Ruanda
  • 1. Hintergrund
  • 2. Verlauf des Konfliktes und Reaktion des Sicherheitsrates
  • 3. Die Begründung des Vorliegens einer Friedensbedrohung
  • 4. Schlussfolgerung
  • B. Analyse der Praxis des Sicherheitsrates
  • I. Erfordernis der potentiellen Gefahr eines internationalen Konfliktes für die Friedensbedrohung gem. Art. 39 UN-Charta
  • 1. Die potentielle Gefahr grenzüberschreitender Auseinandersetzungen in den untersuchten Konflikten
  • 2. Fortbestand des Kriteriums einer potentiellen Gefahr von grenzüberschreitenden Auseinandersetzungen
  • a) Fortbestand des Kriteriums durch Erweiterung des Bedrohungsbegriffes
  • b) Innerstaatliche Konflikte gewisser Intensität als potentielle Gefahr
  • c) Zwischenergebnis
  • II. Friedensbedrohung durch innerstaatliche Konflikte unter Verwendung des positiven Friedensbegriffes in Art. 39 UN-Charta
  • 1. Voraussetzungen des Art. 31 Abs. 3 b WVRK
  • a) Subsequent practice
  • b) „agreement“
  • aa) Generelle Voraussetzung eines „agreement“ i.S.v. Art. 31 Abs. 3 b WVRK bei Entscheidungen des Sicherheitsrates
  • bb) Argumente gegen das Zustandekommen eines „agreement“
  • cc) Argumente für das Zustandekommen eines „agreement“
  • dd) Zwischenergebnis
  • c) Vereinbarkeit mit den Ergebnissen der wörtlichen und systematischen Auslegung
  • 2. Begrenzung des Umfangs des positiven Friedensbegriffes
  • a) Begrenzung des positiven Friedensbegriffes durch die Verknüpfung mit anderen völkerrechtlichen Normen
  • aa) Normen mit erga omnes Wirkung
  • (1) Erga omnes Verpflichtungen als Begrenzung des positiven Friedensbegriffes
  • (2) Abwägung zur Annahme einer Beschränkung des positiven Friedensbegriffes durch die Verpflichtungen erga omnes
  • bb) Jus Cogens
  • cc) Völkerrechtliches Verbrechen/“serious breach“
  • (1) Vorliegen eines völkerrechtlichen Verbrechens
  • (2) „Serious breach“
  • (3) Abgrenzung des von den ILC-Entwürfen umfassten Bereiches zu den Verpflichtungen erga omnes bzw. dem Jus Cogens
  • (4) Friedensbedrohung durch das Vorliegen eines völkerrechtlichen Verbrechens oder eines „serious breach“
  • (5) Vereinbarkeit mit dem Ergebnis der systematischen Auslegung
  • (6) „Agreement“ der Mitgliedsstaaten über Erweiterung des Friedensbegriffes aus Art. 39 gem. Art. 31 Abs. 3 b WVRK
  • (7) Zwischenergebnis
  • b) Begrenzung des positiven Friedensbegriffes durch die analysierten Konflikte
  • aa) Aus den Konflikten entwickelte Kriterien einer „Menschenrechtlichen Notlage“
  • (1) Innerstaatliche Konflikte mit schweren humanitären Folgen
  • (2) Innerstaatliche Konflikte bei Eingriff in das ausgeübte Selbstbestimmungsrecht
  • (3) Ausmaß und Intensität der Verletzungen bei Eingriffen in das Selbstbestimmungsrecht
  • (4) Zusammenfassung zur menschenrechtlichen Notlage
  • bb) Bestimmtheit der Eingrenzung
  • 3. Ergebnis
  • Kapitel 5: Friedensbedrohung gem. Art. 39 UN-Charta im Libyen-Konflikt
  • A. Analyse der zum Libyen-Konflikt erlassenen Resolutionen
  • I. Wortlautanalyse der Libyen-Resolutionen
  • 1. Resolution 1970
  • 2. Resolution 1973
  • II. Diskussion der Sicherheitsratsmitglieder zur Situation in Libyen
  • 1. Sitzungen des Sicherheitsrates vor Verabschiedung der ersten Resolution zu Libyen
  • 2. Die Sitzung des Sicherheitsrates zur Verabschiedung von Resolution 1970
  • 3. Die Sitzung des Sicherheitsrates zur Verabschiedung von Resolution 1973
  • III. Ergebnis der Analyse der zum Libyen-Konflikt erlassenen Resolutionen
  • B. Der Konflikt in Libyen als „Menschenrechtliche Notlage“
  • I. Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht
  • II. Intensität und Ausmaß des Eingriffes sowie der Verletzungen
  • III. Zwischenergebnis
  • C. Die gewaltsame Verhinderung der Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes im Libyen-Konflikt als Friedensbedrohung
  • I. Begründung der Friedensbedrohung bei einem Eingriff in das erfolgreich ausgeübte Selbstbestimmungsrecht
  • 1. Verwirklichung der Menschenrechte
  • 2. Erforderlicher Schutz durch die Staatengemeinschaft
  • 3. Zwischenergebnis
  • II. Die gewaltsame Verhinderung der Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes als Friedensbedrohung
  • 1. Vergleichbare Realisierung der Menschenrechte
  • 2. Vergleichbar schutzbedürftiger Zustand
  • a) Recht des Staates zur Anwendung von Gewalt
  • aa) Gewaltrecht des Staates gegenüber der eigenen Bevölkerung
  • bb) Grenzen des innerstaatlichen Gewaltrechts
  • cc) Zwischenergebnis
  • b) Missbrauch des Gewaltrechtes
  • 3. Zwischenergebnis
  • III. Friedensbedrohung gem. Art 39 UN-Charta im Libyen-Konflikt
  • 1. Bevorstehender Verlust der Hoheitsgewalt
  • 2. Schutzbedürftigkeit der libyschen Revolution
  • 3. Zwischenergebnis
  • Zusammenfassung und Ergebnis
  • Literaturverzeichnis
  • Zeitungsartikel
  • UN-Dokumente
  • Anhang 1: S/RES/1970, vom 26. Feb. 2011, 10 Seiten
  • Anhang 2: S/RES/1973, vom 17. März 2011, 8 Seiten

| XIX →

Abkürzungsverzeichnis

| 1 →

Einleitung

Im Dezember 2010 kam es in Tunesien zu einem Aufstand des Volkes gegen den seit 1987 über das Land autokratisch herrschenden Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali. Das tunesische Volk begehrte einen politischen Umschwung, durch den die Beteiligung des Volkes an der Politik des Landes gewährt werden sollte. Um seinem Willen Ausdruck zu verleihen, ging das Volk auf die Straßen und demonstrierte friedlich gegen das Regime. Letzteres versuchte sich der Bewegung aus dem Volk mit Mitteln des staatseigenen Sicherheits-Apparates entgegenzustellen. Allerdings konnten selbst gewaltsame Übergriffe des eingesetzten Militärs das Volk nicht davon abbringen, jeden Tag seinen Unmut über die politische Führung in Demonstrationen kund zu tun. Letztendlich trat Ben Ali am 14. Januar 2011 als Staatsoberhaupt Tunesiens zurück.

Dieser weitgehend friedliche Regimewechsel stellte den Auslöser für eine Reihe von Aufständen und Revolutionen in den Staaten Nordafrikas sowie im nahen Osten dar, in deren Verlauf sich mehrere, seit geraumer Zeit herrschende totalitäre Regime und Staatsoberhäupter dem Willen ihrer eigenen Staatsvölker nach mehr Demokratie beugen mussten. Ihr Bezug zu arabischen Ländern brachte der Bewegung den Namen „Arabellion“1 oder „Arabischer Frühling“ ein.

Im Zuge der Arabellion kam es Ende Februar 2011, nach den bereits erfolgreich durchgeführten Revolutionen in Tunesien und Ägypten,2 auch in Libyen zu Demonstrationen des Volkes gegen den seit 1969 herrschenden Staatschef Muammar al Gaddafi.3 Auch hier wollte das Volk durch friedliche Demonstrationen einen Regimewechsel nach Vorbild Tunesiens und Ägyptens herbeiführen.4 Im Gegensatz zu seinen Amtskollegen Ben Ali und Mubarak widersetzte sich jedoch Libyens Staatschef Gaddafi dem Willen des Volkes unter Einsatz schwerster militärischer ← 1 | 2 → Mittel.5 Diesen war die Opposition,6 die im Verlaufe des aufkommenden Bürgerkrieges weite Teile im Osten des Landes unter ihre Kontrolle gebracht hatte, nicht gewachsen.

Unmittelbar bevor es zu einem entscheidenden Schlag des libyschen Militärs gegen die Opposition kam, griff der Sicherheitsrat unter Verweis auf Kapitel VII UN-Charta zu Sanktionen gegen das Gaddafi-Regime und ermächtigte - gestützt auf dieses Kapitel - die UN-Mitgliedsstaaten dazu, mit militärischen Mitteln in dem Konflikt zu intervenieren. Aufgrund dieses Eingriffes kam es zu einem Sieg der Opposition, der aller Voraussicht nach ohne die Unterstützung der UN-Mitgliedsstaaten nicht möglich gewesen wäre.

I. Problemstellung

Die Problematik des Eingriffes der Mitgliedsstaaten in den Libyen-Konflikt beruht auf dem Umstand, dass der Sicherheitsrat die UN-Mitgliedsstaaten zu einer militärischen Intervention in einem innerstaatlichen Konflikt ermächtigte.7

Zwar obliegt es nach den Vorschriften der UN-Charta grundsätzlich dem Sicherheitsrat festzustellen, ob er gegen ein Land Sanktionen - auch nach Kapitel VII UN-Charta - erlässt.8 Allerdings hat er dabei die ihm durch das Völkerrecht gesetzten Grenzen zu berücksichtigen.9 Im Falle eines rein innerstaatlichen Konfliktes stehen einem solchen Eingriff die in der UN-Charta verankerten Grundsätze der Souveränität des betroffenen Staates sowie das Gewaltverbot gem. Art. 2 Abs. 4 UN-Charta entgegen. Darüber hinaus muss der Tatbestand gemäß Art. 39 UN-Charta erfüllt sein, damit der Sicherheitsrat zu Maßnahmen nach Kapitel VII UN-Charta greifen kann; es muss folglich eine Friedensbedrohung, ein Friedensbruch ← 2 | 3 → oder eine Aggression vorliegen. Fraglich ist, ob in Fällen innerstaatlicher Konflikte eine Friedensbedrohung vorliegen kann, wenn ein Konflikt keine oder vernachlässigbare Auswirkungen auf Drittstaaten hat, sodass die Gefahr des Ausbruchs eines internationalen Konfliktes nicht erkennbar ist.

Auf den ersten Blick könnte angenommen werden, dass für den Sicherheitsrat ein solcher Engriff in einen innerstaatlichen Konflikt, insbesondere im Hinblick auf die jüngere Praxis des Organs, nicht außergewöhnlich ist. Spätestens seit dem Irakkonflikt und der anschließenden Kurdenverfolgung durch den Irak im Jahre 1990 macht der Sicherheitsrat durch seine Praxis deutlich, dass ihm das Recht, in innerstaatliche Konflikte zu intervenieren, unter gewissen Umständen zustehen kann. Allerdings ist zu beachten, dass diese Eingriffe und die sie stützenden Resolutionen nicht unumstritten waren, und dass es sich um Einzelfallentscheidungen handelte. Denn weder aus der UN-Charta noch aus einer gewohnheitsrechtlichen Norm ergibt sich, unter welchen Umständen der Sicherheitsrat zu einem solchen Eingriff völkerrechtskonform ermächtigen kann.

II. Zentrale Fragestellung der Untersuchung

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der Sicherheitsrat im Libyen-Konflikt eine Friedensbedrohung gem. Art. 39 UN-Charta annehmen konnte.10 Dies wäre der Fall, wenn eine Friedensbedrohung gem. Art. 39 UN-Charta auch durch rein innerstaatliche Konflikte entstehen könnte.

Die zentrale Fragestellung ist demnach, unter welchen Umständen sich der Eingriff in einen innerstaatlichen Konflikt mit der Auslegung des Friedensbedrohungsbegriffes in Art. 39 UN-Charta vereinbaren lässt und, daran anknüpfend, ob diese Umstände im Libyen-Konflikt vorlagen.

III. Gang der Untersuchung

Im ersten Kapitel der Arbeit wird ein Abriss der Geschichte Libyens sowie der Verlauf des Konfliktes 2011 dargestellt. Hierauf aufbauend geht das zweite Kapitel der Frage nach, ob die ausgeübte Gewalt sowohl durch die libysche Bevölkerung als auch durch die UN-Mitgliedsstaaten völkerrechtlich gerechtfertigt ← 3 | 4 → werden kann. Dabei wird insbesondere der Frage nachgegangen, unter welchen Umständen der Sicherheitsrat den Tatbestand von Art. 39 UN-Charta als eröffnet ansehen kann. Im dritten Kapitel wird in Fortsetzung dieser Problematik analysiert, wie der Begriff der Friedensbedrohung in Art. 39 UN-Charta auszulegen ist.

Details

Seiten
XXIV, 336
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653045529
ISBN (ePUB)
9783653977646
ISBN (MOBI)
9783653977639
ISBN (Paperback)
9783631654255
DOI
10.3726/978-3-653-04552-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (August)
Schlagworte
UN-Sicherheitsrat Friedensbegriff Revolution Libyen
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. XXIV, 336 S.

Biographische Angaben

Cristan Gerhold (Autor:in)

Cristan Gerhold studierte Rechtswissenschaft an den Universitäten Konstanz und Würzburg und forschte am Institut für Völkerrecht der Universität zu Köln.

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