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Antun Gustav Matoš

Ein Klassiker der kroatischen Moderne

von Dubravka Oraic Tolic (Autor:in)
©2015 Monographie 261 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch ist eine umfassende Abhandlung über einen der größten kroatischen Schriftsteller: Antun Gustav Matoš (1873-1914). Der Band ist in zwei methodologisch unterschiedliche Hauptkapitel aufgeteilt, in alte und neue Lektüren. Die alten Lektüren wurden unter dem Vorzeichen der Stilanalyse und der strukturellen Semiotik geschrieben. In diesem Teil liegt der Schwerpunkt auf Matoš’s Beziehungen zur Avantgarde sowie auf den stilistischen Merkmalen seiner Prosa. Die neuen Lektüren wurden nach 2010 verfasst und sind von der epistemologischen Wende im Fach gekennzeichnet. Diese Texte sind am Schnittpunkt von Kulturwissenschaften, Anthropologie und Imagologie entstanden. Hier geht es um Matoš’s Geopoetik, um seine Geschlechterimagologie, seine Poetik des Traums und seine Idee der Nation. Aus der Perspektive beider Methodologien kristallisieren sich zwei Phasen in Matoš’s Leben und Werk heraus: die frühe Phase seiner europäischen Emigration (Einheit der ästhetizistischen Stile und Merkmale der expressionistischen Poetik, liberalere Weltsicht) und die Phase nach seiner Rückkehr nach Kroatien (Stärkung der ästhetizistischen Stile, konservativere Weltsicht).

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • I. Alte Lektüren
  • Matoš und die Avantgarde
  • Matoš’s Prosa
  • Fiktionale und nicht fiktionale Prosa
  • Ästhetisierung des Journalismus, Feuilletonisierung der Literatur
  • Artismus und Biographie
  • Das erzählerische Werk
  • Impressionistische Novellen
  • Sinnlicher Mimetismus, Reportagenhaftigkeit und Anekdote
  • Lyrisierung, Humor, Karikatur
  • Symbolistische Novelle
  • Zwei Themen
  • Bizarre Fabeln, Destrukturierung der Fabel
  • Ungewöhnliche Figuren, Autobiographismus
  • Technik der Symbole
  • Feuilletonistische Reiseprosa
  • Das Prinzip der Landschaft
  • Symbiose von Impressionismus und Symbolismus
  • Matoš’s diachronisches Paradoxon
  • Merkmale des Expressionismus, Groteske
  • Elemente der Sezession
  • Der europäische Kontext der Prosa Matoš’s
  • Camao
  • Titel und Sujet
  • Ideale Liebe und phantastischer Papagei
  • Drei kompositorische Schichten
  • Die Biographie Kamenskis und das Verfahren der Katalogisierung
  • Die Figur Kamenskis – ein dekadenter Artist
  • Die Figur Fanny
  • Im Labyrinth der Symbole
  • Dekadentes Dekor
  • Das Verfahren der Realisierung
  • Archaische Sprache und üppiger Stil
  • Camao im Kontext der Matoš’schen Erzählprosa
  • Um Lobor herum
  • Unbestimmtheit des Genres, Prinzip der Landschaft, stilistischer Pluralismus
  • Biographischer Augenblick
  • Zwei thematisch-motivische Kreise
  • Mehrschichtige Komposition
  • Lyrische Einleitung
  • Der Kontrast zwischen Kroaten und Serben
  • Zwei kulturelle Zeichen
  • Gespräch mit dem Schatten
  • Der abschließende lyrische Rand
  • Um Lobor herum im Rahmen von Matoš’s künstlerischer Prosa
  • II. Neue Lektüren
  • Matoš’s Metropolen – Matoš’s Provinzen
  • Belgrad: balkanische Metropole/Vergleich und Nostalgie; serbische und kroatische Provinz/Serie der Kontraste
  • Genf: Kosmopolitisches Zentrum und Peripherie; Idylle und Groteske
  • Zweimal Paris: Metropole der Kunst und Metropole der zeitgenössischen Zivilisation; Simultaneität und Groteske
  • Drei Roms und die römische Umgebung; Katalogisierung und Ornamentalität
  • Mehrere Zagrebs: Metropole als Provinz und Provinz als Metropole; patriotische Rede
  • Chiasmus: die Figur der Matoš’schen urbanen Poetik
  • Matoš und die Frauen
  • Matoš’s Aussagen über Frauen
  • Ambivalenter Antifeminismus
  • Vom Anhänger der Mode zum Gegner des Rocks; von der Institution der Ehe zum Flirt
  • Schauspielerinnen und Tänzerinnen – das weibliche Gesamtkunstwerk
  • Matoš’s stilistische Repräsentation weiblicher Phänomene und der Frau
  • Geschlechtlicher Ludismus: Humor und Karnevalismus
  • Zwei Bilder der idealen Frau: femme fatale und femme fragile
  • Matoš’s Poetik des Traums
  • Der Traum als Text
  • Der Traum als Minitext
  • Der Traum als ganzer Text
  • Der Traum als lyrisches Motiv
  • Utopischer Traum
  • Metaphysischer Traum
  • Der Text als Traum
  • Traumwelten in der symbolistischen Prosa
  • Onirische Landschaften in der feuilletonistischen Reiseprosa
  • Statt eines Schlusses
  • Matoš und die Nation
  • Zwei nationale Ideologien
  • Matoš’s Konzeption der Nation
  • Das politische Modell der Nation
  • Das kulturelle Modell der Nation
  • Primordiale Elemente der Idee der Nation
  • Matoš’s ästhetische Repräsentation der Nation
  • Humor, Ironie, Groteske
  • Intertextualität und Zitathaftigkeit
  • Die Bilder der Frau-Heimat
  • Ästhetizistische Stile der künstlerischen Moderne
  • Matoš und die Nation hundert Jahre später
  • Literatur
  • Primäre Literatur
  • Sekundäre Literatur: Neue Lektüren
  • Matoš’s Metropolen – Matoš’s Provinzen
  • Matoš und die Frauen
  • Matoš’s Poetik des Traums
  • Matoš und die Nation
  • Namenverzeichnis

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Vorwort

Dieses Werk verdankt sich meinem langjährigen Interesse an einem der größten kroatischen Schriftsteller Antun Gustav Matoš (1873–1914). Matoš war der erste professionelle kroatische Literat. Er verfasste Texte, die unterschiedlichen literarischen Gattungen angehören, er schrieb Gedichte, Novellen, Reiseberichte, Literatur-, Musik- und Theaterkritiken, Zeitungsfeuilletons sowie publizistische Prosa und äußerte sich dabei zu allen Themen der damaligen kroatischen und internationalen Kultur. Vierzehn Jahre lang lebte er in der politischen Emigration: sieben davon in Belgrad, anderthalb Jahre in Genf und fünf Jahre in Paris. Er unternahm Reisen nach Wien, Florenz und Rom, die er in literarischen Reiseberichten schilderte. Matoš’s politische Emigration und seine Wanderung durch Europa sind ein erstklassiges Ereignis in der kroatischen Literatur. In seinem Werk wurde die kroatische Kultur zum ersten Mal von außen betrachtet und an internationalen Standards gemessen.

Das Buch ist in zwei methodologische Blöcke aufgeteilt, in „alte“ und „neue“ Lektüren. Die „alten“ Lektüren sind unter dem Vorzeichen der Stilanalyse und der strukturellen Semiotik entstanden. In diesem Segment befinden sich der Essay Matoš und die Avantgarde, die Studie Matoš’s Prosa sowie die Interpretationen der 1900 in Paris entstandenen Erzählung Camao und der Reisebeschreibung Um Lobor herum über seinen geheimen Aufenthalt in Kroatien 1907. Die „neuen“ Lektüren wurden nach 2010 verfasst und sind von der epistemologischen Wende in der Literaturwissenschaft gekennzeichnet. Diese Texte sind aus interdisziplinärer Perspektive am Schnittpunkt von Kulturwissenschaften, Anthropologie und Imagologie entstanden. So wird in der Studie Matoš’s Metropolen – Matoš’s Provinzen die Geopoetik dieses Schriftstellers untersucht: Die Bilder der europäischen Städte (Belgrad, Genf, Paris, Rom, Zagreb) an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert während seines Exils und in der Zeit danach werden analysiert. Der Essay Matoš und die Frauen beschäftigt sich mit den Äußerungen Matoš’s zu den Frauen und zur ersten feministischen Welle. Dabei wird deutlich, dass Matoš in der Zeit seiner Wanderung durch Europa emanzipatorischer und verspielter mit dem Thema umging als nach seiner Rückkehr in Kroatien. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt auch die Studie Matoš’s Poetik des Traums. Beim frühen Matoš ist der Traum häufig Anlass dafür, die Wirklichkeit auf eine groteske und karikaturhafte Art und Weise darzustellen. Dagegen wird beim späten Matoš die Traumwelt zu einer anderen, übergeordneten Wirklichkeit, die die Realität ersetzt. Sie wird dabei in einer Verbindung aus Symbolismus und sezessionistischem Zeichenüberfluss imaginiert. Mit dem Essay Matoš und ← 9 | 10 → die Nation berühre ich das tiefste ideologische Gebiet in Matoš’s Denken und Schaffen. Unter Rückgriff auf die neueste Literatur zur Nation und zum Nationalismus lässt sich aus der publizistischen Prosa Matoš’s ein dreischichtiges Konzept der Nation herauskristallisieren, das in vielerlei Hinsicht auch auf die heutige globalisierte Welt zutrifft.

Die Studien und Essays sind chronologisch angeordnet und spiegeln in gewisser Weise die methodologischen Veränderungen wider, die am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts die literaturwissenschaftliche Szene durcheinanderwirbelten. Bezeichnend ist allerdings, dass diese zwei Typen der Lektüre zu ähnlichen Resultaten gelangen. In der Einheit beider Lektüren konturiert sich im Werk Matoš’s deutlich ein diachronischer Riss, der vom Jahr der Rückkehr nach Kroatien (1908) markiert wird. Bis zu diesem Jahr streift („flaniert“) Matoš durch Europa umher, seine Weltsicht ist offener und „progressiver“ und seine Poetik tendiert zu einem stilistischen Konglomerat aus Symbolismus, Groteske und protoavantgardistischem Simultaneismus. Nach seiner Rückkehr nach Kroatien ist Matoš’s Weltanschauung konservativer und seine Poetik nähert sich einer Symbiose aus Symbolismus und sezessionistischer Ornamentalik an. Im Buch begegnen sich zwei Epochen der Literaturtheorie und der Literaturwissenschaft. Aber – was entscheidender ist – in dieser doppelten methodologischen Perspektive kommen zwei Matoše zum Vorschein: ein früher und ein später, ein beschwingter und ein schwermütiger, jedoch stets ein einzigartiger A. G. M. – „das magische Trigramm“ der kroatischen Literatur.

Zagreb, 1. August 2014.

D. O. T.

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I. ALTE LEKTÜREN

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Das Buch F. T. Marinettis Poeti Futuristi (Milano, 1912) mit Widmung an A. G. Matoš

Stiftung Antun Gustav Matoš, Tovarnik

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Matoš und die Avantgarde

Das stilistisch uneinheitliche, von der Gattungszuordnung und den Medien her verschiedenartige literarische und publizistische Werk macht A. G. Matoš zu einer zentralen Figur der kroatischen Literatur im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Der Autor ziselierter Sonette, des voravantgardistischen Gedichts Mòra (Albtraum), impressionistischer Reiseliteratur und einer mit Elementen der Phantastik und der Groteske angereicherten symbolistischer Prosa bezeugt die frühe Entwicklung der Avantgarde im Schoße der europäischen künstlerischen Moderne. Den in der Literatur zu Matoš vertretenen Allgemeinplatz – die These von seiner Widersprüchlichkeit – möchte ich hier am Beispiel des Gegensatzes zwischen dem expliziten poetischen Ästhetizismus und den impliziten in den Texten Matoš’s anzutreffenden antiästhetizistischen Formen darstellen.

Seine explizite Poetik des Ästhetizismus entwickelte Matoš in zahlreichen nichtfiktionalen Genres (Essays zur kroatischen und zu anderen Literaturen, Rezensionen zu aktuellen literarischen Werken, Kunst- und Theaterkritiken, Polemiken u. ä.), die er literarisch in zwei herausragenden ästhetizistischen Formen verwirklichte – in seinen Sonetten und in Teilen seiner Reiseprosa. In diesen Genres kommt es zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Übereinstimmung zwischen der expliziten Poetik des Ästhetizismus und den impliziten ästhetizistischen Strukturen. Nach eigener Auffassung hat der Autor in den Werken dieser stilistischen Orientierungen seine besten Leistungen erzielt. Aus der Perspektive unseres Themas hat jedoch eine andere frühere Genrereihe Vorrang: die grotesk-phantastische Prosa und das Gedicht Albtraum, in denen Matoš’s stilistische Ankündigung der Avantgarde paradoxerweise seiner Theorie des Ästhetizismus und seiner Ablehnung der futuristischen Poetik aus den 1910-er Jahren vorangeht.

Der erste Auftritt Matoš’s gegen die Avantgarde ereignete sich 1907, unmittelbar nach der Veröffentlichung des eigenen Gedichts Albtraum. Die Gelegenheit zu einer Konfrontation mit der neuen Poetik wurde Matoš von dem jungen Schriftsteller Janko Polić Kamov geboten, der in diesem Jahre vier Bücher herausgegeben hatte: zwei Gedichtsammlungen (Psovka/Der Fluch, Ištipana hartija/Zerknülltes Papier) und zwei Dramen (Tragedija mozgova/Tragödie der Gehirne, Na rođenoj grudi/Auf der Heimatscholle). Von der heftigen Abrechnung mit Kamovs avantgardistischen Vorgängern in dem Text Lirika lizanja i poezija pljuckanja (Lecklyrik und Spuckpoetik) aus dem Jahre 1907 bis zu dem etwas milder gestimmten Aufsätzen von 1913 (Futurismus mit einer ← 13 | 14 → Bezugnahme auf den programmatischen Auftritt der italienischen Avantgarde und Die Apologie des Futurismus mit einer Auffrischung des Themas Kamov) ist Matoš’s Beziehung zur Avantgarde eindeutig negativ. Matoš hat hier oder bei anderen Gelegenheiten sehr genau alle wesentlichen Elemente der avantgardistischen Poetik wahrgenommen und sie aus der Perspektive des eigenen Ästhetizismus negativ bewertet. Seine Abrechnung mit Kamov, wenn wir die polemischen Aspekte außer Acht lassen, ist die erste Analyse der Avantgarde in Kroatien und eine der ersten umfassenden Auseinandersetzungen mit der avantgardistischen Poetik überhaupt. Aus der Perspektive einer Theorie der Harmonie, des Kults der Tradition und der Pflege des Artismus ist Kamov für Matoš ein Dichter „einer idiotischen Poetik und einer infantilen Rhetorik“ (XII: 114), ein „ungehobelter“ Mystifikator, der sich unerlaubter literarischer Mittel bedient. Diese provokativen und „absurden“ Mittel der Lyrik Kamovs waren die konstruktiven Merkmale des neuen antiästhetischen Zeitalters – der Avantgarde. Die von Beispielen begleitete Analyse Matoš’s ist ein wahres Feuerwerk avantgardistischer Verfahren, von der Verletzung der Ursache-Folge-Beziehung (das Sujet von der Geliebten Kitty, für die das lyrische Ich aus Eifersucht eine Taube tötet, dann die Geliebte selbst, um ihr schließlich – im selben Kontext – zur Hochzeit zu gratulieren) über lexikalische Antiästhetizismen, alogische Syntagmen wie „das Bein vergießen“, motivische Turpismen wie fetter Riesenhimmel, Riesenohren, Schweine, Alkohol des Seins bis hin zum großen lyrischen Ich und der aggressiven Poetik der „Vergewaltigung“ des Papiers, des programmatischen Fluchens und lyrischen Grunzens. Kamovs Motiv des Kindes, das leichter zu töten ist als eine Fliege (analog zum späteren Beispiel von Majakovskij, wo das lyrische Ich gerne dabei zuschaut, wie Kinder sterben), verstand Matoš im buchstäblichen Sinne und lehnte es als amoralische Aussage ab. Innerhalb des damaligen Horizonts literarischer Erwartung, der sich fast vollständig mit dem Ästhetizismus Matoš’s deckte, wurde Kamovs Lyrik mit ihren deutlichen avantgardistischen Zügen aus der Perspektive des Mimetismus als „klinischer Fall“ der Zerstörung dreier grundlegender Disziplinen – der Ästhetik, der Logik und der Ethik – verurteilt.

Eine ähnliche Haltung zur Avantgarde nahm Matoš auch in dem Aufsatz Futurismus ein. Es geht hier genauso wie in der Auseinandersetzung mit dem ersten Autor der kroatischen Avantgarde um eine symptomatische Begegnung zwischen der Poetik des Ästhetizismus und dem aggressiven Auftritt der Avantgarde um 1910. Das Resultat ist charakteristisch: eine luzide Analyse der avantgardistischen Techniken verbunden mit der Vorhersage der strategischen Ziele der „feindlichen“ Poetik. ← 14 | 15 →

Der Artikel ist ein Konglomerat aus Paraphrasen und Zitaten der bekanntesten Aussagen des italienischen Futurismus, aus Selbstbeobachtungen zu den Themen der neuen Bewegung und aus einer fehlerhaften Interpretation. In Matoš’s Beschreibungen des Futurismus werden alle wesentlichen Elemente der futuristischen Poetik erfasst: Antiinstitutionalismus („Man muss die Museen, die Bibliotheken zerstören“, IX: 218), Antitraditionalismus („Man muss die alte Mondscheinromantik töten“, 219), der Durchbruch technizistischer Motive („Der Futurist ist ein Dichter des Motors, ein Lobpreiser des Wagenlenkers und des Piloten“, 218), Dynamik der Strukturen in der Malerei („das Automobil auf der Straße bestürmt die Häuser, sie hinter sich zurücklassend stürzen diese sich auf das Auto und verschlingen es“, 221) u. ä. Der Aufsatz ist voller origineller Beobachtungen, die aus der Kenntnis futuristischer Manifeste resultieren, wie etwa die Feier der „mechanische[n] Schönheit“ und die „Ästhetik des Maschinismus“ (später Konstruktivismus) oder die „tragische Lyrik der Allgegenwart und einer alles erreichenden Geschwindigkeit“ (später Krležas „höllische Simultaneität“), die Apologie des Krieges und der Männlichkeit („Weil die Frau und die Liebe die größten Hindernisse in der Entwicklung des Mannes sind, ist die Verachtung der Frau einer der wichtigsten Glaubenssätze des futuristischen Evangeliums“, 219), ein aktivistischer Optimismus und damit verbunden ein gleichsam multiples ästhetisches „Ich“ (das in der entwickelten Avantgarde als Träger des utopischen Substrats fungiert), der Kult „der brutal militaristischen und roh kapitalistischen Überlegenheit“ (225) und Nietzsches Überwindung des Menschen im Übermenschen („ihr multipler Mensch ist nichts anderes als ein umgetaufter Übermensch*“, 223). Matoš’s zentrale Fehlinterpretation ist das Resultat seines Unverständnisses des programmatischen Antimimetismus (These: Der Futurismus ist eine Lüge, 218), durch den die Avantgarde bewusst die traditionelle Poetik von Aristoteles bis zum Symbolismus zerstört, und auf der anderen Seite ein Ergebnis seines ahistorischen Vorgehens (These: „Der Futurismus ist nichts Neues“, 223), das die irreversible Erscheinung einer geschichtlichen Poetik in überzeitliche stilistisch-typologische „Züge“ auflöst (Futuristen sind wie Heraklit: „Theorie vom ewig Ephemeren“, wie Platon, Hegel, Darwin: „abgenutzte Religion des Fortschritts“ und – wie Goethe). Den tiefsten Einblick in das Phänomen der Avantgarde erreicht Matoš mit der These, dass „der Futurismus nicht einfach nur eine literarische und künstlerische Revolution darstellt, sondern er ist ein Gesamtsystem, also gleichzeitig eine politische, philosophische und soziale Bewegung“ (218).

Im polemischen Gefecht mit dem kroatischen Vorgänger und in der kritischen Reaktion auf den italienischen Auftritt des Futurismus feierte Matoš einen nur kurz währenden Sieg des Ästhetizismus über den avantgardistischen ← 15 | 16 → Konstruktivismus: „Die neue Ästhetik ist nichts anderes als eine gewöhnliche Ingenieurspoesie, die in barbarischer Art und Weise das Schöne mit dem Nützlichen verwechselt und nicht begreifen möchte, dass eine gewöhnliche Feldblume schöner ist als alle Fabriken der Welt (…), weil die gesamte moderne Industrie – im Unterschied zur Dorfwiese – nicht ein einziges Veilchen hervorzubringen vermag“ (225). 1914, also nur ein Jahr nach dem Artikel Futurismus, stirbt Matoš. Er stirbt in dem Jahr, in dem außerhalb der Literatur es zur ersten tragischen Realisierung einer futuristischen Metapher kommt – des Kultes der militärischen Kraft und des multiplen kriegerischen Übermenschen. Dies markiert zugleich die obere Grenze der Epoche in der kroatischen Literatur, die in der nationalen literaturgeschichtlichen Tradition den Titel Moderne trägt und die ästhetischen Stile um 1900 (Impressionismus, Symbolismus, Neuromantik, Dekadenz, Jugendstil/Sezession) umfasst. Das letzte Jahr der kroatischen künstlerischen Moderne und das erste Kriegsjahr machen den Weg für die kroatische Avantgarde frei, die seit 1917 von Miroslav Krleža angeführt, von Antun Branko Šimić vervollkommnet und von August (Tin) Ujević beendet wird. In einer völlig neuen Konstellation verliert der Zusammenstoß Matoš’s mit der Avantgarde den Glanz der Aktualität und fällt für eine lange Zeit dem literaturgeschichtlichen Vergessen anheim. Wenn es sich lediglich um einen ästhetischen Irrtum bzw. um eine persönliche Fehlprognose gehandelt hätte, verdiente Matoš’s Konflikt mit der Avantgarde keinerlei Aufmerksamkeit. Matoš’s Polemik mit der Avantgarde steht allerdings im Kontrast zu den eigenen protoavantgardistischen Formen und erlangt dadurch eine zusätzliche Dignität, weil sie die allgemeine Frage nach der Beziehung zwischen der Literatur an der Jahrhundertwende und der Epoche, die mit den programmatisch-ästhetischen Schocks um 1910 beginnt, in bezeichnender Weise akzentuiert.

Details

Seiten
261
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653047639
ISBN (ePUB)
9783653979084
ISBN (MOBI)
9783653979077
ISBN (Paperback)
9783631655627
DOI
10.3726/978-3-653-04763-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Schlagworte
Avantgarde Feminismus Ästhetizismus Literarische Moderne
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 261 S., 9 s/w Abb.

Biographische Angaben

Dubravka Oraic Tolic (Autor:in)

Dubravka Oraić Tolić ist Literaturwissenschaftlerin und Literaturtheoretikerin, Universitätsprofessorin, Dichterin, Essayistin und Übersetzerin. Sie studierte Philosophie sowie Russische Sprache und Literatur in Zagreb und Wien. Sie war Professorin der Literaturtheorie an der Philosophischen Fakultät der Universität in Zagreb und ist ordentliches Mitglied der Kroatischen Akademie der Wissenschaften und Künste.

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