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Verwaltungsgerichtsbarkeit und Sozialgerichtsbarkeit: Konvergenz oder notwendige Eigenständigkeit?

von Uli Kern (Autor:in)
©2014 Dissertation VIII, 210 Seiten

Zusammenfassung

Diese Arbeit thematisiert, ob ein Zusammenschluss von Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit möglich und zweckmäßig ist. Hierzu stellt sie drei zentrale Modelle vor. Auch der Speyrer Entwurf und die darauf aufbauende Verwaltungsprozessordnung finden Berücksichtigung. Untersucht wird der verfassungs- und europarechtliche Rahmen dieser Reformvorhaben. Verwaltungsprozessordnung und Sozialgerichtsgesetz werden auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten hin untersucht. Die Arbeit kommt zu dem Ergebnis, dass die Gemeinsamkeiten der Prozessordnungen überwiegen. Dies wird verstärkt durch jüngere Gesetzesnovellen. Der Autor schlägt die bundesweite, institutionelle Verschmelzung der Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit und eine Rückbesinnung auf die verbindende, allgemeine Dogmatik von Verwaltungsprozessordnung und Verwaltungsverfahrensgesetz vor.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Einleitung
  • 1. Problemstellung
  • 2. Derzeitige Diskussion und festgefahrene Positionen
  • a) Argumente für eine Vereinheitlichung von Sozial– und Verwaltungsgerichts– verfahren
  • aa) Organisatorische Argumente und Personal
  • bb) Inhaltliche Argumente
  • b) Argumente gegen eine Vereinheitlichung von Sozial– und Verwaltungsgerichts– verfahren
  • aa) Organisatorische Argumente und Personal
  • bb) Inhaltliche Argumente
  • c) Verfassungs– und verwaltungsrechtliche Problemstellung
  • II. Die historische Entwicklung vom Reichsversicherungshauptamt bis zu den Reformvorschlägen der Gegenwart
  • 1. Entwicklung bis 1945
  • 2. Institutionelle Trennung nach dem zweiten Weltkrieg
  • 3. Reformvorschläge
  • 4. Neue Tendenzen
  • 5. Konzentration auf zentrale Modelle
  • a) Große Lösung
  • b) Zusammenlegung mit unterschiedlichen Prozessordnungen
  • c) Öffnungsklausel für die Länder
  • III. VwGO und SGG im Vergleich
  • 1. Zuständigkeiten – System oder Zufall
  • 2. Struktur der Gerichte, Richterschaft – insbesondere Laienrichter
  • 3. Beteiligte und anwaltlicher Vertretungszwang
  • 4. Verfahrensarten – Beispiel Normenkontrolle
  • 5. Vorläufiger Rechtsschutz
  • 6. Konzentration auf den Verwaltungsakt
  • 7. Klagebefugnis, Widerspruchsbefugnis und Antragsbefugnis
  • 8. Begründetheit
  • 9. Prozessmaximen
  • 10. Kosten
  • a) Fallgruppe 1: Kein kostenprivilegierter Kläger oder Beklagter nach § 183 SGG beteiligt – Regelungen zu den Gerichtskosten im SGG
  • b) Fallgruppe 2: Mindestens ein kostenprivilegierter Kläger oder Beklagter nach § 183 SGG beteiligt – Regelungen zu den Gerichtskosten im SGG
  • c) Rechtsanwaltsvergütung – außergerichtliche Kosten im SGG – Verfahren und Vergleich der sozialgerichtlichen Kostenregelungen mit der VwGO
  • 11. Besonderheiten im eigentlichen Verfahren
  • a) Klagerücknahme und Erledigung des Rechtstreits
  • b) Musterverfahren und Ruhen des Verfahrens
  • c) Einbeziehung von Folgebescheiden
  • 12. Fristen und Rechtsmittelrecht
  • a) Klagefristen, Ort und Form für die fristgerechte Einreichung der Klage
  • b) Besonderheiten bei der Untätigkeitsklage
  • c) Rechtsmittelrecht: Berufungsverfahren von VwGO und SGG im Vergleich
  • d) Rechtsmittelrecht: Revisionsverfahren von VwGO und SGG im Vergleich
  • 13. Zwischenbilanz: Eher Konvergenz oder Eigenständigkeit
  • IV. Inhaltliche Beurteilung der Reformvorschläge
  • 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben
  • a) Anforderungen des Art. 95 Abs.1 GG
  • b) Vorgaben des Art. 97 Abs.2 GG – Richterliche Unabhängigkeit
  • c) Art. 20 Abs.3 GG und Art. 19 Abs.4 GG
  • d) Art. 108 Abs.6 GG
  • 2. Europarecht
  • 3. Trennung aus der Geschichte zwingend?
  • 4. Das Sozialstaatsargument
  • 5. Erwünschte oder verbotene Nähe? Befangenheiten
  • 6. Auseinanderfallen der Fachwissenschaften
  • V. Ergebnis
  • Literaturverzeichnis
  • Monographien/ Lehrbücher
  • Kommentare
  • Artikel in einer Zeitschrift
  • Webseiten

I.  Einleitung

1.  Problemstellung

Nach dem zweiten Weltkrieg ist die Diskussion hinsichtlich der Frage nie verstummt, ob eine Zusammenlegung der Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit sinnvoll ist. Mehrere Juristentage haben die Frage behandelt. Es wurden gar komplette Entwürfe einer gemeinsamen Verwaltungsprozessordnung für die drei öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten1 ausgearbeitet. Obgleich die Debatte bereits mehrfach angestoßen wurde, bestehen insbesondere Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit nach wie vor unverändert nebeneinander. Fragen der sozialen Gerechtigkeit sind seit den Hartz – Reformen der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder, mit den anschließenden Wahlerfolgen der WASG/ Linkpartei eine Thematik, mit der sich Wahlen verlieren lassen. Die damalige Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe führte zu spürbaren Leistungskürzungen aufgrund pauschalisierter Bedarfssätze, die sich nicht mehr an den individuellen Bedürfnissen des Einzelnen orientierten, was zum massenhaften Austritt von SPD Mitgliedern führte und letztlich den Regierungsverlust für Schröder bedeutete.

Die vergangene schwarz-gelbe Bundesregierung im Koalitionsvertrag vereinbart, den Ländern die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Verwaltungs- und Sozialgerichte unter Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit zu einheitlichen Fachgerichten zusammenzuführen um den Mitteleinsatz der Justiz effizienter gestalten zu können2. Dieser Ankündigung sind bislang keine Gesetzgebungsvorhaben gefolgt. Dabei sind mit der 2003 im Rahmen der Hartz Gesetzgebung getroffenen Entscheidung, die Streitigkeiten nach dem neu geschaffenen SGB XII (ehemals BSHG) den Sozialgerichten zu übertragen, die Fronten wie Argumentationslinien in Bewegung geraten3, kamen doch neben den sozialversicherungsrechtlichen Streitigkeiten jetzt auch Streitigkeiten hinsichtlich steuerfinanziertem Leistungsrecht vor die Sozialgerichte (SGB II und SGB XII). Auch auf Länderebene selbst wird die Möglichkeit, zumindest die ersten beiden Instanzen ← 1 | 2 → der Verwaltungs- und Sozialgerichte zusammenzulegen, seitdem noch lebhafter diskutiert. Eine Äußerung des damaligen Präsidenten des OVG Koblenz, Karl-Friedrich Meyer, in einer Lokalzeitung im Jahr 2007, der von Synergieeffekten bei einem entsprechenden Zusammenschluss sprach, führte sogleich zu einer kleinen Anfrage der CDU Opposition im Mainzer Landtag4.

Die Anfrage ergab unter Anderem, dass der rheinland-pfälzische Rechnungshof einen Zusammenschluss der drei öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeiten befürwortete, weil dadurch Kosten gespart werden können. Die Befürworter einer eigenständigen Sozialgerichtsbarkeit auf der anderen Seite, wie beispielweise der DGB, machen geltend, dass die Fachgerichte in der Lage seien, Spezialwissen zu bündeln. Der diesbezügliche Bedarf habe im Laufe der Zeit zugenommen5. Umgekehrt werde die Qualität der Rechtsprechung infolge des Wegfalls der Spezialisierung abnehmen6 und das auf Kosten sozial benachteiligter Schichten in der Bevölkerung. Kostenargumente treffen in dieser Diskussion also, neben vielen anderen Gesichtspunkten, die sogleich noch näher vorgestellt werden sollen, auf sozialstaatliche Symbolik, im Rahmen derer die Abschaffung der eigenständigen Sozialgerichtsbarkeit mit dem Abbau sozialer Rechte gleichgesetzt werden kann.

Die vorliegende Arbeit will die unterschiedlichen Argumente aufgreifen, gleichzeitig aber den rechtlichen Hintergrund erforschen. Es soll untersucht werden, ob rechtlich die Eigenständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit geboten ist. Nicht zuletzt die Prozessordnungen sollen daraufhin untersucht werden, ob sie eine solch abgrenzbare Spezialmaterie enthalten, dass sie die Trennung der Gerichtszweige bedingen, wie dies bei Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit der Fall ist. Die Untersuchung bezieht sich daher nur auf Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit und nicht umfassend auf alle drei öffentlich-rechtlichen Gerichtszweige. Modelle des Zusammenschlusses werden vorgestellt und auf ihre rechtliche Umsetzbarkeit hin untersucht. Möglicherweise dient eine gründliche, rechtliche Bewertung den politischen Akteuren in der überhitzten und emotional geführten Debatte, der Rückbesinnung auf die gesetzlichen Grundlagen und kann Leitfaden für die Entscheidungsfindung sein. ← 2 | 3 →

2.  Derzeitige Diskussion und festgefahrene Positionen

a)  Argumente für eine Vereinheitlichung von Sozial- und Verwaltungsgerichtsverfahren

aa)  Organisatorische Argumente und Personal

Die oben zitierte Stellungnahme des rheinland-pfälzischen Rechnungshofs steht für eine Auffassung, die aus ökonomischen und personalwirtschaftlichen Erwägungen auf eine institutionelle Verschmelzung der Gerichtszweige abzielt. Besonders aus dem Kreise der Justizminister der Länder werden die Stichworte verbesserte Effizienz, personalwirtschaftliche Zwänge und auch Kostengründe7 genannt, die für eine Zusammenlegung der Gerichtszweige sprächen. Zu erwarten sei eine verbesserte Ausnutzung von räumlichen, technischen und sonstigen Kapazitäten, was etwa für Bibliotheken, Archive, EDV-Anlagen, Postannahmestellen, Verwaltungs- und ähnliche Einrichtungen gelte8. Die Justizminister versprechen sich also zunächst eine Reduktion der Verwaltungskosten.

Zu den Kosten, welche durch die Gerichte entstehen, gehören auch die Personalkosten. Und hier weisen die Befürworter eines Zusammenschlusses der Gerichtszweige auf den unterschiedlichen Eingang an Klagen und Anträgen hin. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit habe verhältnismäßig ruhige Zeiten, die Sozialgerichtsbarkeit sei durch Hartz IV überlastet9. Damit einhergehend wird die Notwendigkeit gesehen, einen flexibleren Personaleinsatz10 der Richter innerhalb einer einheitlichen Gerichtsbarkeit zu ermöglichen. Größere Gerichtseinheiten ermöglichten einen flexibleren und damit effizienteren Einsatz sowohl des richterlichen als auch des nichtrichterlichen Personals. Dazu zählten eine bessere Personalplanung sowohl bei der Einstellung als auch bei der Erprobung und Beförderung. Die Flexibilisierung des Richtereinsatzes trete dabei ohne jede Änderung des Dienstrechtes ein. Während der Wechsel vom Verwaltungsgericht zu einem Sozialgericht nur im Wege der Abordnung bzw. der Versetzung möglich sei, werde über die ← 3 | 4 → Verwendung des Personals innerhalb des Gerichts durch die Gerichtsverwaltung bzw. durch das Präsidium entschieden11. Hier wird also die Frage aufgeworfen, wie auf sich kurzfristig ändernden Personalbedarf an den Gerichten, etwa durch eine Änderung der Zuständigkeiten, reagiert werden kann. Bietet das geltende Recht hier genügend Möglichkeiten oder ist eine Verschmelzung von Gerichtszweigen nötig und möglich? Dieser Frage gilt es im Folgenden nachzugehen.

Nicht nur die Steuerung des Bedarfs an Berufsrichtern, auch die Besetzung der Stellen der ehrenamtlichen Richter an den Sozialgerichten ist häufiger Anknüpfungspunkt der Kritiker der bisherigen Trennung der Gerichtszweige. Im Hinblick auf die Besetzung der Laienrichterstellen in den Spruchkörpern wird auf die besondere Nähe zur Sozialverwaltung verwiesen, der durch eine Öffnung gegenüber der Verwaltungsgerichtsbarkeit vorzubeugen sei12. Unterscheiden sich also die Sozialgerichte von den Verwaltungsgerichten durch eine Befangenheit des Personals, soweit Laien- als auch Berufsrichter betroffen sind?

Was die fachlichen Qualitäten der Berufsrichterschaft anbelangt, wird seitens der Sympathisanten kein Verlust von Fachwissen im Falle einer Fusion der Gerichtsbarkeiten befürchtet. Jahrzehntelang angesammeltes Spezialwissen werde nicht in den Gerichtsbarkeiten oder Gerichten, sondern in den einzelnen Spruchkörpern gespeichert. Die mit speziellen Materien betrauten Kammern oder Senate seien es, die das für ihre jeweiligen Zuständigkeiten erforderliche Spezialwissen sammelten. Wer die Probleme der gerichtsinternen Geschäftsverteilung aus der Praxis kenne, der wisse, dass hierauf bei der Besetzung von Spruchkörpern und bei der Verlagerung von Zuständigkeiten stets Rücksicht genommen werden muss. Es werde lediglich darauf ankommen, dieses Know How durch sinnvolle Geschäftsverteilungspläne zu erhalten13. Hufen führt dazu aus, dass die bloße Existenz eines abgrenzbaren Rechtsgebietes noch keineswegs bedinge, dass dieses auch über eine eigene Gerichtsbarkeit verfügen müsse. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit vereinige die rechtliche Kontrolle zahlreicher, teils grundverschiedener Rechtsmaterien, vom Recht des öffentlichen Dienstes bis zum Schutz der Mopsfledermaus im Naturschutzrecht14. Die bereits heute an den Verwaltungsgerichten existierenden, tatsächlichen Gegebenheiten, widerlegten also entsprechende Befürchtungen der Gegner einer Fusion, so darf man diese Autoren verstehen. ← 4 | 5 →

Soweit kleinere Gerichte mit nur wenigen Spruchkörpern zusammengelegt werden, sei im Gegenteil sogar eine Verbesserung der Möglichkeiten einer Spezialisierung zu erwarten, die bei Gerichten mit einer geringeren Zahl von Spruchkörpern regelmäßig ein Problem darstelle. Größere Gerichtseinheiten erlaubten eine viel stärkere Binnendifferenzierung der Aufgaben. Mit diesem Effekt sei vor allem bei der Aufgabe einzelner Gerichtsstandorte zu rechnen, während er in der zweiten Instanz eher gering ausfallen werde, weil mit der Zahl der Richter auch die Zahl der zu bearbeitenden Rechtsgebiete zunehme15.

bb) Inhaltliche Argumente

Mit der Diskussion hinsichtlich Qualifikation der Richter ist das Thema der inhaltlichen Qualität der Rechtsprechung eng verknüpft. Hier befürchten die Anhänger einer einheitlichen Gerichtsbarkeit für das Verwaltungsrecht keinen Qualitätsverlust der Rechtsprechung. Eine qualitativ hochwertige Rechtsprechung verlange nach einem handwerklich gut ausgebildeten, sozial kompetenten, politisch interessierten und Erkenntnissen gegenüber aufgeschlossenen, kommunikativen, leistungsbereiten Richter mit Lebenserfahrung und Menschenkenntnis, der sich zur Aufgabe macht, den ihm vorliegenden Streit zu schlichten oder aber zu entscheiden, und zwar zügig und gemäß dem Recht. Ob diese Leistungen unter dem Dach eines Sozialgerichts, eines Verwaltungsgerichts oder einer zusammengelegten öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeit erbracht werden, sei für die Qualität der richterlichen Aufgabenerfüllung nicht entscheidend; wesentlich hierfür sei der Anspruch des Richters an sich selbst und seinen Arbeitsethos16.

Von beiden Gerichtszweigen werde auch die gleiche Materie überprüft. Der Begriff des Verwaltungsaktes sei in allen Bereichen von wesentlicher Bedeutung. Die früher befürwortete Idee habe sich nicht verwirklicht, ihn im Sozialrecht nicht „Verwaltungsakt“, sondern „Sozialakt“ zu nennen17.

Die Prinzipien der Gerichtszweige seien ebenfalls grundsätzlich gleich: Dispositionsmaxime (die Parteien entscheiden über Streitgegenstand), Amtsprinzip (das Gericht betreibt das Verfahren), Untersuchungsgrundsatz (Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen durch das Gericht) sowie den Mitwirkungspflichten der Parteien18. Da also der gleiche Verfahrensgegenstand mit gleichen Prinzipien ← 5 | 6 → überprüft werde, sei die Zusammenlegung der Gerichtsbarkeiten vom Grundsatz her kein Problem, so kann man diese Argumente rekapitulieren.

Den Sozialgerichten wird überdies die alleinige Verantwortung und Spezialisierung hinsichtlich der Merkmale „sozial“ und „besondere Hilfebedürftigkeit“ der Klientel19 abgesprochen. Der Auffassung, der Verzicht auf eine eigenständige Sozialgerichtsbarkeit sei deshalb ein Problem, weil die Sozialgerichte nicht nur den Rechtsstaat, sondern auch den Sozialstaat sicherten, könne nicht gefolgt werden. Diese Funktion hätten alle Gerichte zu erfüllen, ob vor ihnen über die Räumung nach Kündigung eines Wohnungsmietvertrages, die Aussetzung einer Strafe zur Bewährung, die Abfindung bei Beendigung eines Arbeitsverhältnisses oder über die Hochschulzulassung gestritten werde20. Es wird also zu überprüfen sein, ob es eine abgrenzbare Rechtsmaterie gibt, die eine besondere soziale Verantwortung der Gerichte erfordert.

Umgekehrt wird von zahlreichen Autoren die Meinung bekundet, dass eine einheitliche Gerichtsbarkeit die Einheit des Rechts stärken und dem Auseinanderdriften von materiellem Recht und Verfahrensrecht, dem Schwinden eines einheitlichen Rechtsdenkens und der Widersprüchlichkeit von Rechtsanschauungen und Rechtsbegriffen wehren könne21. Jede Gerichtsbarkeit tendiere dazu, die Begriffe nach ihrer Betrachtungsweise zu formen22. Viele im Grundsatz überflüssige Besonderheiten würden gepflegt23. Die Bereitschaft, die Rechtsprechung einer der anderen Gerichtsbarkeiten wenigstens dann zu berücksichtigen, wenn es um parallele Bestimmungen geht, sei gering24. Die Reduzierung der Gerichtsbarkeiten könne demgegenüber durchaus zu einer besseren Vereinheitlichung der Rechtsanwendung und Rechtsauslegung beitragen; Rechtseinheit und Rechtssicherheit würden gefördert25. Der Entwurf einer gemeinsamen Verfahrensordnung für Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit habe ergeben, dass nur etwa 20 Sondervorschriften26 erforderlich sind, bei denen die beiden Prozessordnungen sich unterscheiden. ← 6 | 7 →

b)  Argumente gegen eine Vereinheitlichung von Sozial- und Verwaltungsgerichtsverfahren

aa)  Organisatorische Argumente und Personal

Nachdem soeben die Argumente der Befürworter einer Zusammenlegung der Sozial- und Verwaltungsgerichte vorgestellt wurden, nun zu den Argumenten der Gegner. Diese wenden sich gegen die, aus ihrer Sicht, rein ökonomisch motivierte Fusion seitens der Länder. Hier sind es vor allem Stimmen aus der Richterschaft, die eine Zusammenlegung aus rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten ablehnen27. Hinsichtlich der zu erwartenden Synergieeffekte durch eine Konzentration der Gerichtsstrukturen wird eingewandt, dass diese keine fachliche Verschmelzung der Gerichtszweige erforderten28. Die Errichtung von Justizzentren erfülle den gleichen Zweck. Die Einsparungen von Sachmitteln dürften überdies wegen der unterschiedlichen Bedürfnisse der Gerichtsbarkeiten enttäuschend sein29. Ein Sozialrichter benötigt eben keinen Kommentar zur VwGO, so wird man diese Meinung verstehen dürfen.

Eine Zusammenlegung nur der Verwaltungsorganisation – ohne die Richterstellen – wird hierbei zum gegenwärtigen Zeitpunkt als nicht zweckmäßig oder auch nur überlegenswert, wenn auch realisierbar30, beurteilt. Der Ansatz, die erwähnten Gerichtszweige zunächst nur institutionell zusammenzuführen, es aber hinsichtlich der Bildung und Besetzung der Spruchkörper und des Verfahrens bei der Geltung des jeweils nachgeordneten Prozessrechts zu belassen31, wird abgelehnt. Die Gerichte seien gegenwärtig in jeder Stufe in der Regel an verschiedenen Orten angesiedelt. Für eine gemeinsame Verwaltung müsste eine „Zentrale“ geschaffen werden. Der Einsparung einzelner Dienstposten stünden zahlreiche Schwierigkeiten in der Verwaltungsabwicklung entgegen. Jedes Gericht müsse beispielsweise seine eigene Bibliothek behalten und ergänzen können. Wenn diese dann jeweils von einer Zentrale aus gesteuert werden müsse, bringe dies kaum Nutzen, zumal die Bibliotheken in den Gerichtszweigen unvermeidlich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen hätten32. Eine Fusion bekannter Einheiten zu einer neuen, großen ← 7 | 8 → Einheit unter Beibehaltung verschiedener Verfahrensordnungen und Instanzenzüge würde den Rechtssuchenden mehr verwirren als ihm helfen33. Es solle der Effekt erzielt werden, dass sich nach einer institutionellen Verschmelzung eine Vereinfachung der Strukturen und Funktionsweisen – ergo des Verfahrensrechts förmlich anbiete34. Dies lässt sich kurz beschreiben mit „function follows form“. Man schafft in einem ersten Schritt die Institution, auch das einheitliche Gerichtsgebäude in dem Recht gesprochen wird und stimmt innerhalb des vereinheitlichten Ganzen dann in einem zweiten Schritt die Verfahrensordnungen aufeinander ab. Genannte Autorin sieht in der Tatsache, dass innerhalb einer einheitlichen Gerichtsbarkeit zunächst verschiedene Verfahrensordnungen gelten sollen, die Gefahr einer Verunsicherung der Rechtssuchenden.

Auch das Argument, durch die fachliche Zusammenlegung der Gerichte könne ein flexibler Personaleinsatz gewährleistet werden, vermöge nicht zu überzeugen35. Jedenfalls in den größeren Bundesländern, in denen jedes Jahr ein nicht unerheblicher Teil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (größtenteils altersbedingt) ausscheide, könne der Gesetzgeber bei erheblichen Schwankungen der Geschäftsbelastung Planstellen im Haushaltsplan verschieben und damit auf unterschiedliche Geschäftsbelastungen reagieren. In gewissem Maße könne ein gerichtsübergreifender Personalaustausch – und dies gelte gerade auch für Richterinnen und Richter – bei entsprechender Motivation der Mitarbeiterschaft durch die Gerichtsleitung bereits heute in vielen Fällen sichergestellt werden36. Diese Autoren vertreten also, dass es bei Personalengpässen einer Gerichtsbarkeit und Personalüberschüssen in einem anderen Gerichtszweig genügend freiwillige in der Richterschaft gibt, die bereit sind zu wechseln, sodass eine nur aus diesem Grunde motivierte Zusammenlegung der Gerichtszweige nicht nötig ist. Überdies wird eingewandt, die Bestrebung, einen Ausgleich in den Belastungsunterschieden zwischen Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit herbeizuführen, sei für die Abschaffung einer Gerichtsbarkeit nicht ausreichend. Belastungsunterschiede seien temporäre Erscheinungen und könnten auf temporäre Fehler der Justizverwaltungen zurückzuführen sein. Ebenso temporär seien sie zu behandeln.

Kritisiert wird, dass sich Behörden und Rechtsanwälte immer mehr spezialisierten, die Justizverwaltung aber auf Generalisten setzen wolle. Dass die eine Gerichtsbarkeit keine tieferen Fachkenntnisse erfordere als die jeweils anderen, ← 8 | 9 → möge man einem erfahrenen Steuerberater, dem Vertreter eines Sozialleistungsträgers oder auch einer Fachanwältin für Verwaltungsrecht mit Schwerpunkt Ausländer- und Asylrecht erst noch erklären37. Eine Entprofessionalisierung der Gerichte38 sei die Folge.

Schließlich befürchtet man auch die Abschaffung des verwaltungsgerichtlichen Kammerprinzips. Die Einführung des originären bzw. obligatorischen Einzelrichterprinzips bedeute für die Verwaltungs- und Finanzgerichte einen elementaren Verlust, gewährleiste doch gerade das Kammerprinzip Autorität, Stetigkeit und Unabhängigkeit. Anders als an den Zivilgerichten seien hier über die Entscheidung des Einzelfalls hinaus allgemeingültige Kriterien zu formulieren, die als Maßstab geeignet seien für künftiges behördliches Handeln39. Gegen eine Abschaffung des Spruchkörperprinzips wird eingewandt, dass die Möglichkeit einer Entscheidung durch drei Berufsrichter – auch in der ersten Instanz – ein wichtiges Instrument der Qualitätssicherung der Rechtsprechung darstelle. Dies werde vor allem von den betroffenen Bürgern und von der Anwaltschaft so erlebt. In einer Zeit, in der Justizverwaltungen verstärkt versuchten, mit „neuen Steuerungsinstrumenten“ und mit anderen Mitteln Ihren Einfluss auf die Tätigkeit der Richter zu vergrößern, sollte man auch bedenken, dass ein Spruchkörper seine Unabhängigkeit gegenüber der Justizverwaltung leichter wahren kann als ein Einzelrichter. Die Erfahrung zeige, dass es der Justizverwaltung viel leichter falle, Einzelrichter gegeneinander auszuspielen, in ihrer faktischen Unabhängigkeit zu beschneiden und in einen „Erledigungswettbewerb“ zu schicken, als das bei Mitgliedern von Spruchkörpern der Fall ist40. Mit anderen Worten umschreiben diese Autoren die Sorge, dass eine gemeinsame Verfahrensordnung von Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit das Einzelrichterprinzip vorsehe. Dieses berge jedoch Gefahren für die richterliche Unabhängigkeit. Ein Richter alleine habe unter Anderem gegenüber den Justizministerien weniger Durchsetzungsmacht als eine Kammer.

bb)  Inhaltliche Argumente

Inhaltlich sei eine Verminderung der Qualität der Rechtsprechung41 zu befürchten. Innerhalb der neuen Fachgerichtsbarkeit sähen sich Richterinnen und Richter ← 9 | 10 → inhaltlich mit einem wesentlich breiter gefächerten Aufgabenbereich konfrontiert und es komme zu mehr Reibungsverlusten, die personell nicht mehr aufgefangen werden könnten, wenn zugleich die Richterdichte abnehme42. Falle ein Mitarbeiter durch Krankheit aus, könne diese Stelle nicht mehr besetzt werden. Bei ohnehin schon geringem Personalbestand entsteht so ein „Dominoeffekt“ bei den übrigen Beschäftigten, so wird man diese Meinung verstehen dürfen. Bei Sozial- und Verwaltungsgerichten bestünden unterschiedliche Arbeitsweisen und Maßstäbe, was zu einem stärkeren Erledigungs- und Konkurrenzdruck im Falle einer Zusammenlegung der Gerichtszweige führe. Die Forderung nach mehr Effizienz und Quantität führe seitens der Richterschaft zu einer generalisierenden Rechtsanwendung und daher in der Folge zum Verlust von Qualität43. Die immer komplexer werdende Gesellschaft und ein zunehmend komplexes Rechtssystem verlangten nach einer hochspezialisierten Richterschaft44.

Weiter wird eingewandt, der Verlust einer kontinuierlichen Rechtsprechung durch ein neues, einheitliches Fachgericht bringe für Bund, Länder und Kommunen wahrscheinlich höhere Unkosten, als sich mit der Einsparung von Richterstellen erwirtschaften ließe45. Gerichtliche Entscheidungen würden unberechenbarer. Neue Präzedenzfälle seien die Folge, weil das gemeinsame Fachgericht Rechtsfragen möglicherweise anders bewerte als zuvor die Verwaltungs- und Sozialgerichte, so sind diese Autoren zu verstehen.

Neben der angesprochenen Neubewertung von Präzedenzfällen, kritisieren die Gegner die Symbolik einer Zusammenlegung der beiden Gerichtszweige. In einer Zeit, die durch eine Verschlankung des Systems der sozialen Sicherheit gekennzeichnet sei, d. h. durch einen Abbau sozialer Rechte, wie es ihn in der Bundesrepublik Deutschland noch nie gegeben habe, sei eine Zusammenlegung der Sozialgerichtsbarkeit mit anderen Gerichtsbarkeiten ein weiteres Signal auf diesem Weg. Die Zusammenlegung würde der Bevölkerung verdeutlichen, dass nicht nur ein Abbau des materiellen Sozialrechts erfolge, sondern gleichzeitig der Wächter über die Verwirklichung der sozialen Rechte bzw. die Rechtmäßigkeit des Handelns der Sozialleistungsträger seine Aufgabe nicht mehr so effektiv wie bisher wahrnehmen solle46. Man wird diese Meinung also so verstehen ← 10 | 11 → dürfen, dass die Abschaffung einer eigenen Sozialgerichtsbarkeit symbolisch für die Armen und Schwachen stehe, dass nicht nur der Sozialstaat sich sukzessive zurückzieht, sondern, dass auch die verbliebenen Rechte nicht mehr hinreichend geschützt werden. Auch diese These gilt es zu untersuchen.

c)  Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Problemstellung

Nachdem nun die Argumente von Gegnern und Befürwortern beschrieben wurden, gilt es noch einleitend, kurz den verfassungsrechtlichen Rahmen und den Untersuchungsgegenstand vorzustellen.

Diese Arbeit prüft, ob von Verfassungs wegen eine Beibehaltung der gegenwärtigen Rechtswegaufspaltung geboten ist oder ob und in welchem Umfang eine Zusammenlegung statthaft ist. Steht Art.95 Abs.1 GG einer Fusion im Wege, der enumerativ die obersten Gerichtshöfe und damit möglicherweise auch die Gerichtszweige als entsprechenden Unterbau vorsieht? Gewährleistet also das Grundgesetz den fünfgliedrigen Gerichtsaufbau47? Weiterhin von Relevanz ist die richterliche Unabhängigkeit, Art.97 GG. Können von der Zusammenführung der verschiedenen Fachgerichte entweder Eingriffe in die sachliche Unabhängigkeit (Art.97 Abs.1 GG), also die Freiheit zur Entscheidung allein nach dem Gesetz und ohne Weisungen anderer Stellen, oder in die persönliche Unabhängigkeit (Art.97 Abs.2 GG), also die Unversetzbarkeit und Unabsetzbarkeit der Richter ausgehen48? Kann das Homogenitätsgebot des Art.28 Abs.1 S.1 GG eine Rolle spielen, wenn es um die Frage geht, ob der Bund den Ländern eine Zusammenlegung auf Landesebene ermöglicht? Welche Rolle spielt die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes hinsichtlich des gerichtlichen Verfahrens, Art.74 Abs.1 Nr.1 GG49? Diese Fragen werden anhand einer Bewertung verschiedener, in der Vergangenheit und Gegenwart vorgestellter Reformmodelle behandelt. Sie werden im Lichte der Verfassung auf ihre Recht- und Zweckmäßigkeit hin überprüft.

Schließlich gilt es zentrale Vorschriften von SGG und VwGO auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten hin zu untersuchen. Gibt es also die oben beschriebene Nähe der Sozialgerichtsbarkeit zum schutzwürdigen Klientel und die Wächterstellung des Gerichtes? Oder ist eine so deutliche Übereinstimmung mit der ← 11 | 12 → Verwaltungsgerichtsbarkeit festzustellen, dass eine Zusammenlegung der Gerichtszweige unausweichlich ist, wobei dann wiederum Fragen der Umsetzbarkeit zu diskutieren wären. Letztlich steht hinter allen aufgeworfenen Thesen und Untersuchungsgegenständen das zentrale Thema, ob die beiden Gerichtszweige, auch historisch begründbar, eng miteinander verzahnt waren beziehungsweise mittlerweile sind, oder ob gerade auch im Hinblick auf die geschichtlichen Aspekte die Eigenständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit zwingend ist. ← 12 | 13 →

                                                   

  1.  Hufen, Die Verwaltung 42. Band (2009), S. 405 (405).

Details

Seiten
VIII, 210
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653047271
ISBN (ePUB)
9783653979145
ISBN (MOBI)
9783653979138
ISBN (Paperback)
9783631655597
DOI
10.3726/978-3-653-04727-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Juni)
Schlagworte
Sozialgerichte Verwaltungsgerichte Speyerer Entwurf Gerichtsordnung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. VIII, 210 S.

Biographische Angaben

Uli Kern (Autor:in)

Uli Kern studierte Politikwissenschaft, Anglistik und Rechtswissenschaft an der Universität Mainz. Der promovierte Volljurist nahm während des Studiums am Curriculum des Paris Institute of European Legal Studies der Tulane University New Orleans (USA) teil.

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