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Wissenschaftliche Positionen zum Staatskirchenrecht der frühen Bundesrepublik Deutschland (1949-1969)

von Fabio Borggreve (Autor:in)
©2015 Dissertation XX, 442 Seiten

Zusammenfassung

Gegenstand des vorliegenden Buches ist die Diskussion um das Staatskirchenrecht in der frühen Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1969. Grundsätzlich musste nach der Inkorporation der Weimarer Kirchenrechtsartikel durch Art. 140 GG die Frage geklärt werden, wie das Verhältnis zwischen Staat und Kirche im neuen grundgesetzlichen Kontext zu sehen war. Der Autor Fabio Borggreve vollzieht zentrale wissenschaftliche Positionen dieser Zeit nach und setzt sich mit den Argumentationslinien und Denkschulen jener Jahre auseinander. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse werden abschließend zusammengefasst und im Zusammenhang der allgemeinen Entwicklung des Staatskirchenrechts betrachtet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • Untersuchungsmethodik und Begrenzung der Untersuchung
  • Ausgangspunkt der Untersuchung – Die Inkorporation der Weimarer Kirchenrechtsartikel durch das Grundgesetz
  • 1. Teil: Der Zeitraum des „Bedeutungswandels“ (1951–1952)
  • A. Die Position Rudolf Smends (1951)
  • I. Staat und Kirche im Leben und Wirken von Rudolf Smend
  • II. Rudolf Smend: „Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz“
  • 1. Art. 140 GG - ein notgedrungener Kompromiss
  • 2. Die These des Bedeutungswandels
  • 3. Drei-Phasen-Historie des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche
  • 4. Souveränität und das öffentliche Recht
  • 5. Wiedergewinnung einer neuen Erörterungsgrundlage für das Staat-Kirche-Verhältnis durch Art. 140 GG
  • III. Resümee
  • B. Die Position Johannes Heckels (1950/52)
  • I. Staat und Kirche im Leben und Wirken von Johannes Heckel
  • II. Johannes Heckel: „Melanchthon und das deutsche Staatskirchenrecht“
  • 1. Die Macht der Tradition im Staatskirchenrecht
  • 2. Die Religionsgesellschaft
  • 3. Innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes
  • 4. Ergebnisse im Rahmen der Grundsatzdebatte
  • III. Johannes Heckel: „Kirchengut und Staatsgewalt“
  • 1. Bedeutungswandel des Art. 138 II WRV unter dem Grundgesetz?
  • 2. Die geisteswissenschaftliche Methode
  • 3. Die historische Entwicklung der Kirchengutsgarantie
  • 4. Öffentlichkeitsfunktion des Kirchenguts
  • 5. Ergebnisse im Rahmen der Grundsatzdebatte
  • IV. Resümee
  • C. Die Position Arnold Köttgens (1952)
  • I. Der Staatsrechtler Arnold Köttgen
  • II. Arnold Köttgen: „Kirche im Spiegel deutscher Verfassungen der Nachkriegszeit“
  • 1. Die Einmaligkeit der Nachkriegssituation im Verhältnis Staat und Kirche
  • 2. Ein neuer Kirchenbegriff im Staatskirchenrecht
  • 3. Auswechslung des verfassungsrechtlichen Hintergrundes
  • III. Resümee
  • D. Die Position Werner Webers (1952)
  • I. Staat und Kirche im Leben und Wirken von Werner Weber
  • II. Werner Weber: „Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts“
  • 1. Eine veränderte staatskirchenrechtliche Diskussionslage um die Weimarer Kirchenrechtsartikel
  • 2. Die These des staatskirchenrechtlichen Wandels unter dem Grundgesetz
  • 3. Positivrechtliche Anhaltspunkte seit 1945
  • 4. Die staatskirchenrechtliche Gesamtsituation nach 1949
  • 5. Die neue Position der Kirchen innerhalb der rechtlichen Ordnung
  • III. Resümee
  • E. Die Position von Hans Peters (1952)
  • I. Staat und Kirche im Leben und Wirken von Hans Peters
  • II. Hans Peters: „Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts“
  • 1. Grundsätzliches zur Betrachtung der Gegenwartslage des Staatskirchenrechts
  • 2. Der kirchlich-gläubige Staatsangehörige als Bürger zweier Welten
  • 3. Die Kirche als „societas perfecta“und öffentlich-rechtliche Korporation
  • 4. Der moderne säkularisierte Staat und seine Sicht auf die Kirche
  • 5. Konsequenzen der Gleichordnung von Staat und Kirche
  • 6. Neuste Tendenzen und Wendepunkt des Staat-Kirche-Verhältnisses
  • 7. Die gesellschaftliche Position der Kirchen im heutigen Staat
  • 8. Das antithetische Verhältnis von Staat und Kirche anhand der Konkordatsbestimmungen
  • III. Resümee
  • 2. Teil: Der Zeitraum der Koordinationslehre (1956–1956)
  • A. Die Position Konrad Hesses (1956)
  • I. Staat und Kirche im Leben und Wirken von Konrad Hesse
  • II. Konrad Hesse: „Inhalt und Bedeutung des Art. 137 WRV in der Gegenwart“
  • 1. Der Wandel der Bedingtheiten des Verhältnisses von Staat und Kirche und die verfassungsrechtliche Normierung des Art. 137 WRV
  • 2. Die Bedeutung von Art. 137 I und V WRV
  • 3. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht
  • 4. Folgerungen für die Auslegung von Art. 137 WRV
  • 5. Folgerungen für das staatskirchenpolitische System des Grundgesetzes
  • III. Resümee
  • B. Die Position Herbert Krügers (1957)
  • I. Staat und Kirche im Leben und Wirken von Herbert Krüger
  • II. Herbert Krüger: „Rezension über Konrad Hesse: Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich“
  • 1. Anlässe für eine Untersuchung des Staat-Kirche-Verhältnisses
  • 2. Zur Frage der Kirchenhoheit
  • 3. Die Kirche außerhalb des Staates
  • 4. Rechtsschutz wegen kirchlicher Akte
  • III. Resümee
  • C. Replik Konrad Hesses (1958)
  • I. Konrad Hesse: „Staatskirchenrechtliche Voreiligkeiten?“
  • 1. Das Bedürfnis der Klarstellung und Erwiderung
  • 2. Der durch die Sache gebotene methodische Ansatzpunkt
  • 3. Die Grundlagen und Grenzen staatlicher Einwirkungsmöglichkeit auf die Kirchen
  • 4. Der öffentliche Status der Kirchen
  • II. Resümee
  • D. Die Position Ulrich Scheuners (1960)
  • I. Staat und Kirche im Leben und Wirken von Ulrich Scheuner
  • II. Ulrich Scheuner: „Kirche und Staat in der neueren deutschen Entwicklung“
  • 1. Zeitalter der Spannungen und Wandlungen
  • 2. Geschichtliche Grundlagen des neuzeitlichen Staatskirchenrechts
  • 3. Zum Staatskirchenrecht der Weimarer Periode
  • 4. Wandel im Verhältnis von Staat und Kirche unter dem Grundgesetz
  • 5. Die neue Selbstständigkeit der Kirchen
  • 6. Die Ordnung des Grundgesetzes
  • 7. Kirchenrechtliche Vorgänge seit 1945
  • III. Resümee
  • E. Die Position Paul Mikats (1960)
  • I. Staat und Kirche im Leben und Wirken von Paul Mikat
  • II. Paul Mikat: „Das kirchenpolitische System“
  • 1. Das kirchenpolitische System der WRV
  • 2. Die Fortbildung des Weimarer Systems
  • 3. Das heutige kirchenpolitische System
  • III. Resümee
  • F. Die Zusammenfassung der Position der herrschenden Lehre durch Konrad Hesse (1961)
  • I. Konrad Hesse: „Der Bedeutungswandel der kirchenpolitischen Artikel der Weimarer Reichsverfassung“
  • 1. Die Rolle des staatskirchenrechtlichen Schrifttums
  • 2. Die neue Interpretation der kirchenpolitischen Artikel der Weimarer Reichverfassung
  • II. Resümee
  • 3. Teil: Die Kritik der Sechzigerjahre und Pluralisierungstendenzen
  • A. Die Duplik Herbert Krügers (1961)
  • I. Herbert Krüger: „Materielle Verfassungsänderung im Verhältnis Staat und Kirche“
  • II. Resümee
  • B. Die Position von Ernst-Werner Fuß (1961)
  • I. Staat und Kirche im Leben und Wirken von Ernst-Werner Fuß
  • II. Ernst-Werner Fuß: „Kirche und Staat unter dem Grundgesetz“
  • 1. Das Verhältnis von Kirche und Staat in kirchlicher Sicht
  • 2. Konfessionelle Neutralität des politischen Gemeinwesens
  • 3. Gesetzgeberische Verlegenheitslösung des Parlamentarischen Rates
  • 4. Art. 137 WRV als Kern des geltenden Staatskirchenrechts
  • 5. Stellung der Kirche im Rechts- und Sozialstaat
  • 6. Staatlicher Rechtsschutz gegen kirchliche Hoheitsakte
  • 7. Reduzierung der staatlichen Kirchenhoheit und Gebot gegenseitiger Loyalität
  • III. Resümee
  • C. Die Position von Siegfried Grundmann (1962)
  • I. Staat und Kirche im Leben und Wirken von Siegfried Grundmann
  • II. Siegfried Grundmann: „Das Verhältnis von Staat und Kirche auf der Grundlage des Vertragskirchenrechts“
  • 1. Die staatskirchenrechtlichen Verhältnisse in Deutschland und Österreich
  • 2. Das historische Fundament der gegenwärtigen staatskirchenrechtlichen Beziehungen in Deutschland
  • 3. Die neue Situation von Staat und Kirche unter dem Grundgesetz
  • 4. Das Vertragskirchenrecht als neue Grundlage
  • 5. Die neue rechtliche Eigenständigkeit der Kirche
  • III. Resümee
  • D. Die Position von Helmut Quaritsch (1962)
  • I. Staat und Kirche im Leben und Wirken von Helmut Quaritsch
  • II. Helmut Quaritsch: „Kirchen und Staat – Verfassungs- und staatstheoretische Probleme der staatskirchenrechtlichen Lehre der Gegenwart
  • 1. Methodik im Staatskirchenrecht und die herrschende Lehre
  • 2. Die Souveränität des Verfassungsgebers als Folge von Verfassungsgeltung für das Staat-Kirche-Verhältnis
  • 3. Die These von der Gleichordnung von Staat und Kirche
  • 4. Die Rechtsfrage der Religionsgemeinschaft als souveräner Verband anhand der Schrankenformel von Art. 137 III S. 1 WRV
  • 5. Die originäre Hoheitsgewalt der Kirchen
  • III. Resümee
  • E. Die Position von Reinhold Zippelius ( 1962/63)
  • I. Staat und Kirche im Leben und Wirken von Reinhold Zippelius
  • II. Reinhold Zippelius: „Kirche und Staat und die Einheit der Verfassung“
  • 1. Das Problem
  • 2. Eigenständigkeit weltlicher Hoheitsrechte der Kirchen
  • 3. Eigenständigkeit eines geistlich verstandenen Rechts der Kirche
  • 4. Nachtrag
  • III. Resümee
  • 4. Teil: Die Relativierung des Koordinationsmodells und Verlagerung der Diskussion
  • A. Korrektur der Positionen Konrad Hesses (1965)
  • I. Konrad Hesse: „Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen“
  • 1. Die Entwicklung des Staat-Kirche-Verhältnisses in den letzten Jahren
  • 2. Kritische Aspekte im gegenwärtigen Staat-Kirche-Verhältnis
  • 3. Drei Faktoren für eine freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen
  • 4. Grundelemente der Ordnung des Staat-Kirche-Verhältnisses im freien demokratischen Gemeinwesen
  • II. Resümee
  • B. Die erneute Kritik Helmut Quaritschs (1966)
  • I. Helmut Quaritsch: „Neues und Altes über das Verhältnis von Kirchen und Staat“
  • 1. Die staatskirchenrechtliche Lehre der Nachkriegszeit
  • 2. Koordination in den Arbeiten von Alfred Albrecht und Alexander Hollerbach
  • II. Resümee
  • C. Die Position Klaus Obermayers (1967)
  • I. Staat und Kirche im Leben und Wirken von Klaus Obermayer
  • II. Klaus Obermayer: „Staatskirchenrecht im Wandel“
  • 1. Methodische Vorbemerkungen
  • 2. Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts seit 1945
  • 3. Das verfassungsrechtliche Verhältnis von Staat und Kirchen
  • 4. Ordnung des Staatskirchenrechts
  • 5. Gesetzliche Privilegierung der Kirchen
  • 6. Die neue Sicht im Staatskirchenrecht
  • III. Resümee
  • D. Die Position Alexander Hollerbachs (1967)
  • I. Staat und Kirche im Leben und Wirken von Alexander Hollerbach
  • II. Alexander Hollerbach: „Das Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“
  • 1. Die neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Staatskirchenrecht
  • 2. Die tragenden Elemente der staatskirchenrechtlichen Ordnung
  • 3. Die Kirchensteuerurteile
  • 4. Konkordatsurteil und staatlich-kirchliches Vertragsrecht
  • 5. Verfahrensrecht
  • 6. Die Position des Bundesverfassungsgerichts zum Staat-Kirche-Verhältnis
  • III. Resümee
  • E. Die Position Paul Mikats (1967)
  • I. Paul Mikat: „Kirche und Staat in nachkonziliarer Sicht“
  • 1. Die Öffnung der Kirche
  • 2. Grundlinien der katholischen Soziallehre
  • 3. Wandlung der Kirchen- und Staatsauffassung durch das II. Vatikanische Konzil
  • 4. Konsequenzen aus den Lehren des Konzils für das Staat-Kirche-Verhältnis
  • II. Resümee
  • 5. Teil: Die Zusammenfassung und Diskussion auf der Staatsrechtslehrertagung (1967)
  • A. Die Zusammenfassung Martin Heckels
  • B. Die Zusammenfassung Alexander Hollerbachs
  • C. Resümee
  • 6. Teil: Abschließende Betrachtungen und Erkenntnisse
  • A. Der Verlauf der Diskussion um das Staatskirchenrecht in der frühen Bundesrepublik
  • I. Die einzelnen Argumentationslinien und ihre Entwicklung
  • 1. Die historische Argumentationslinie
  • 2. Partnerschaft zwischen Staat und Kirche
  • 3. Aufgabe der Kirchenhoheit und neue Eigenständigkeit
  • 4. Die öffentlich-rechtliche Stellung der Kirchen
  • 5. Laizismus, Trennungsprinzip und Neutralitätsgebot
  • 6. Die Vernachlässigung grundrechtsorienterter Ansätze
  • II. Der konfessionelle Faktor in der Diskussion
  • 1. Die evangelische Staatskirchenrechtslehre
  • 2. Die katholische Staatskirchenrechtslehre
  • 3. Gemeinsame Tendenzen
  • B. Die staatsrechtliche Dimension der Diskussion
  • C. Bleibende Erkenntnisse aus der Sicht des heutigen Staatskirchenrechts
  • I. Betrachtung aus der Perspektive eines Religionsverfassungsrechts
  • II. Besonderheit der historischen Dimension im Staatskirchenrecht aus heutiger Sicht
  • III. Öffentliche Entfaltung von Religion und Kooperation von Staat und Kirche in einem freien demokratischen Gemeinwesen
  • IV. Souveränität des modernen Staates als Voraussetzung für Freiheit
  • V. Die ambivalente Bedeutung der freiheitsrechtlichen Perspektive für das Staat-Kirche-Verhältnis
  • Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

Wer das staatskirchenrechtliche System des Grundgesetzes zu begreifen versucht, kommt nicht umhin, sich auch mit den Grundlagen seiner Entstehungsgeschichte auseinanderzusetzen.1

Die Inkorporation der Weimarer Kirchenrechtsartikel (Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 WRV) durch Art. 140 GG zog in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Verabschiedung des Grundgesetzes eine Grundlagendiskussion um das Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland nach sich, die in besonderer Art und Weise die Theorie und Praxis dieses Faches in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bestimmte.2 Im Kern drehte es sich u.a. um die Frage, wie das Verhältnis zwischen Staat und Kirche im neuen grundgesetzlichen Kontext zu sehen war, denn die Weimarer Kirchenrechtsartikel entstammten einem anderen verfassungsrechtlichen und historischen Kontext.3 Es war eine Prinzipiendiskussion, die die Fragestellung des Verhältnisses von Kirche und Staat in ihrer Tiefe in den Mittelpunkt rückte.4 Die zudem diskutierten Fragen der Souveränität des Staates gegenüber den Kirchen und der pluralistischen Struktur der Verfassung verliehen der Debatte eine staatsrechtliche Tragweite.5

Was die Darstellung und Analyse dieser Debatte anbelangt, wird hierzu in der staatskirchenrechtlichen Literatur oft nur eine ausschnittsweise bzw. epochenhafte Darstellung geliefert.6 Was die Details hierzu betrifft, wird fast immer auf ← 1 | 2 → das wohl bekannteste Sammelwerk zu dieser Diskussion, „Staat und Kirchen in der Bundesrepublik“ von H. Quaritsch/H. Weber, verwiesen.7 In diesem Sammelband wurde versucht, mit der Auswahl der Autoren und ihrer Werke einen Überblick über die unterschiedlichen sachlichen und methodischen Konzeptionen der damaligen Diskussion zu geben, wobei nicht ausnahmslos alle Werke berücksichtigt werden konnten.8

M. Heckel verfasste zu diesem Sammelband eine ausführliche Rezension, in der er deutlich machte, dass dieser Sammelband sowohl in rechtshistorischer wie auch in dogmatischer Hinsicht sehr bedeutsam sei, denn er zwinge aus beiden Perspektiven zu einer Auseinandersetzung mit den Autoren über die Frage des Verständnisses von Tradition, Leben und Entwicklung der durch Art. 140 in das Grundgesetz inkorporierten staatskirchenrechtlichen Artikel der Weimarer Reichsverfassung.9 Das Staatskirchenrecht zeige sich hier nicht nur als pure juristische Disziplin, sondern mit starkem Bezug zu den Nachbarwissenschaften Theologie, Soziologie und Politologie, so M. Heckel.10

M. Heckel reißt in der gebotenen Kürze seiner Rezension die Analyse der staatskirchenrechtlichen Systemdebatte in ihrer dogmatischen Tiefe jedoch nur an. Ausschnitte dieser Diskussion finden sich auch bei W. Bock11, der diese im Hinblick auf die Problematik des für alle geltenden Gesetzes und die kirchliche Selbstbestimmung am Beispiel des Amtsrechts der evangelischen Kirchen untersucht. M. Kleine12 hat eine methodische Analyse über „Institutionalisierte ← 2 | 3 → Verfassungswidrigkeiten im Verhältnis von Staat und Kirche unter dem Grundgesetz“ vorgelegt, in der er sich auch Autoren widmet, die maßgeblich an der Diskussion um das Staatskirchenrecht der frühen Bundesrepublik beteiligt waren. M. Stolleis13 liefert in seiner Monographie zur „Geschichte des öffentlichen Rechts“ eine kurze Beschreibung der Epoche und der Diskussion. Eine neuere Untersuchung mit Bezug auf die „Göttinger Autoren“ R. Smend, A. Köttgen, W. Weber und K. Hesse hat H. M. Heinig14 in einem Aufsatz vorgenommen. Eine detailgenaue Analyse der damaligen Systemerwägungen, bei der vor allem die Autoren in ihrer ursprünglichen Argumentation zu Wort kommen, steht bisher noch aus. Eine solche Analyse der unterschiedlichen dogmatischen Argumentationslinien ist jedoch, wie bereits M. Heckel in seiner Rezension betonte, vor dem Hintergrund der grundlegenden Weichenstellungen, die damals aus staatskirchenrechtlicher Sicht vorgenommen wurden, äußerst lohnenswert.15

Diesem Anstoß folgt diese Arbeit und fragt darüber hinaus, inwieweit die bisher gemachten Beobachtungen und Bewertungen in der detaillierten Analyse aufrechtzuerhalten sind oder der Ergänzung bedürfen.

Gegenstand dieser Analyse ist die Epoche der Fünfziger- und Sechzigerjahre, die im Wesentlichen durch zwei Lehren des Staat-Kirche-Verhältnisses geprägt ist.16

Zunächst bildete sich aus der These des Bedeutungswandels die Lehre von der Koordination von Staat und Kirche heraus.17 Die erste Epoche wird in der staatskirchenrechtlichen Lehre u.a. mit Begriffen wie „Phase der staatskirchenrechtlichen Euphorie“ 18, „staatskirchenrechtlichem Überschwang“19 oder „Begegnung scheinbar spannungsloser Harmonie“20 umschrieben.

Hervorzuheben sind in dieser Zeit vor allem die Arbeiten von R. Smend und K. Hesse, die systematische Erwägungen zur Neuordnung des Verhältnisses ← 3 | 4 → zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland anstellten und den Rest der Literatur beeinflussten.21 R. Smend hatte mit seiner These des Bedeutungswandels der durch Art. 140 GG in das Grundgesetz inkorporierten Weimarer Kirchenartikel den Anfang für eine „neue Nähe“ zwischen Staat und Kirche gemacht.22 Dies stellte einen eindeutigen Richtungswechsel gegenüber dem „liberalen Trennungsdenken“ der Weimarer Zeit dar.23 Die von nun an bevorzugte Ansicht im staatskirchenrechtlichen Schrifttum24 und der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs25 verstand Kirche und Staat als zwei gleichrangige Gemeinschaften, die sich in einem Verhältnis partnerschaftlicher Koordination zueinander befinden.26

Diese Entwicklung in der juristischen Literatur ist auch im Spiegelbild der Verfassungswirklichkeit ihrer Zeit zu sehen.27 Unter den Institutionen galten die Kirchen als diejenigen, denen während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft am wenigsten „Verstrickung“ mit dem Regime vorgeworfen werden konnte.28 Sie entfalteten daher eine „große Prägekraft“ in der Nachkriegsgesellschaft.29 Auf der Suche nach „moralischen Werten und religiösen Überzeugungen als Grundlage gesellschaftlichen und staatlichen Handelns“ wandte sich das Volk der frühen Bundesrepublik vor allem an sie.30 ← 4 | 5 →

In den Sechzigerjahren sah sich die Koordinationslehre jedoch in der staatskirchenrechtlichen Lehre mehr und mehr einer deutlichen Kritik31 ausgesetzt.32 Anders als die Koordinationslehre gingen die Vertreter dieser Ansicht von einem etatistischen Ansatz aus und folgten dabei einem strikteren Neutralitätsverständnis des Staates in Bezug auf Kirchenfragen.33 Dieser Kritik begegnete die herrschende Lehre durch K. Hesse mit einer Korrektur ihres Koordinationsmodells, was fortan als Kooperation und Partnerschaft in einem pluralistischen freien Gemeinwesen verstanden wurde.34

Auch diese Entwicklung im staatskirchenrechtlichen Schrifttum fand ihr Spiegelbild in der Realität zwischen Staat, Gesellschaft und Kirche.35 Zwar beanspruchten die beiden Großkirchen dem Namen und Status nach noch Volkskirche zu sein, die sozial-kulturelle Wirklichkeit in der Bundesrepublik rechtfertigte dies jedoch nicht mehr.36 Die Religiosität der westdeutschen Gesellschaft war so massiv zurückgegangen, dass nunmehr die Bundesrepublik Deutschland als „Missionsland“37 betitelt wurde oder von einer „volkskirchlichen Diasporasituation“38 die Rede war.39 ← 5 | 6 →

                                                   

   1 J. Winter, Staatskirchenrecht, S. 27.

   2 M. Heckel, ZevKR 18 (1973), S. 22 (23); C. Link, Staat und Kirche, S. 164 f.

   3 M. Heckel, ZevKR 18 (1973), S. 22 (23) formulierte hierzu: „Restauration oder Neubeginn“; A. Köttgen, DVBl. 1952, S. 485 (486), sprach in diesem Kotext von der „Auswechslung des verfassungsrechtlichen Hintergrundes“; zu dem verfassungsrechtlichen Hintergrund der Weimarer Zeit siehe statt vieler: S. Könemann; Staatskirchenrecht der Weimarer Zeit, S. 10 ff.

   4 M. Heckel, ZevKR 18 (1973), S. 22 (24).

   5 Ebd., S. 22 (24); C. Link, Staat und Kirche, S. 166.

   6 Siehe hierzu z. B.: S. Korioth, in: Heinig/Walter (Hrsg.) Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht, S. 39 (58 ff.); G. Czermak; Religions- und Weltanschauungsrecht, S. 43 ff.; S. Korioth, in: R. Herzog/R. Scholz/M. Herdegen/H. H. Klein (Hrsg.) T. Maunz/G. Dürig GG-Komm., Art 140, Rn. 9 ff.; A. v. Campenhausen/P. Unruh, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.) GG-Komm. Art. 140 GG, Rn. 9 ff.

   7 A. v. Campenhausen/H. de Wall, Staatskirchenrecht, S. 41 (Verweis in Fn. 17); A. v. Campenhausen/P. Unruh, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.) GG-Komm. Art. 140 GG, Rn. 9 (Fn. 15); M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.) GG-Komm., Art. 140, Rn. 30 (Fn. 107).

   8 H. Quaritsch/H. Weber, in: dies. (Hrsg.) Staat und Kirchen, S. 9 (13), mit Verweis auf die folgenden wichtigen Monographien, die auszugsweise nur schwierig in dem Sammlband wiederzugeben waren: W. Weber, VVDStRL 11 (1954), S. 153 ff.; A. Albrecht, Koordination von Kirche und Staat, passim.; E. Fischer, Trennung von Staat und Kirche, passim.; K. Hansch, Disziplinargerichtsbarkeit der evangelischen Kirche, passim.; A. Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche, passim.; J. Lehmann, Die kleinen Religionsgesellschaften, passim.; H. Maurer, Verwaltungsgerichtsbarkeit der Evangelischen Kirche, passim.; G. Scheffler, Stellung der Kirche im Staat, passim.; H. Weber, Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, passim.; W. Weber, Ablösung der Staatsleistungen, passim.

   9 M. Heckel, ZevKR 18 (1973), S. 22 u. 25 f.

  10 Ebd, S. 22 (26).

  11 W. Bock, Das für alle geltende Gesetz und kirchliche Selbstbestimmung, S. 74 ff.

  12 M. Kleine, Institutionalisierte Verfassungswidrigkeiten, S. 49 ff.

  13 M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 4, S. 338 ff.

  14 H. M. Heinig, Göttinger E-Papers zu Religion und Recht 6, passim.

  15 M. Heckel, ZevKR 18 (1973), S. 22 f.

  16 Siehe hierzu: C. Link, Staat und Kirche, S. 165 f.; M. Heckel, ZevKR 18 (1973), S. 22 (29); H. M. Heinig, Göttinger E-Papers zu Religion und Recht 6, S. 1 (13 f.).

  17 Diese Einteilung vornehmend z. B. S. Korioth, in: H. M. Heinig/C. Walter (Hrsg.) Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht. S. 39 (59); C. Walter, Religionsverfassungsrecht, S. 189; W. Bock, Das für alle geltende Gesetz und kirchliche Selbstbestimmung, S. 73 ff.; U. K. Preuß, in: AK-GG Art. 140, Rn. 11.

  18 G. Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, S. 46.

  19 C. Link, Staat und Kirche, S. 166.

  20 A. v. Campenhausen, in: C. Link/M. Seitz (Hrsg.) Kirchenrecht und Kirchenpolitik, S. 195.

  21 C. Link, Staat und Kirche, S. 165; U. K. Preuß, in: AK-GG Art. 140, Rn. 11; H. M. Heinig, Göttinger E-Papers zu Religion und Recht 6, S. 1 (17).

  22 C. Link, Staat und Kirche, S. 165; A. v. Campenhausen/P. Unruh, in: H. v. Mangoldt/ F. Klein/ C. Starck (Hrsg.) GG-Komm., Art. 140, Rn. 9.

  23 H. Maier, HdbStKirchR Bd. 1 (2. Aufl.), S. 85 (89).

  24 Siehe z. B.: H. Peters, VVDStRL 11 (1954), S. 177 (181); K. Hesse; Rechtsschutz, S. 81.

  25 BGHZ 34, S. 372 (374); 46, S. 96 (101).

  26 U. K. Preuß, in: AK-GG Art. 140, Rn. 11; W. Bock, Das für alle geltende Gesetz und kirchliche Selbstbestimmung, S. 128.

  27 M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 4, S. 338; H. M. Heinig, Göttinger E-Papers zu Religion und Recht 6, S. 1 (6 f.).

  28 S. Korioth, in: H. M. Heinig/C. Walter (Hrsg.) Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht, S. 39 (59); H. Maier, HdbStKirchR Bd. 1 (2. Aufl.), S. 85 (88 f.); M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 4, S. 337; H. M. Heinig, Göttinger E-Papers zu Religion und Recht 6, S. 1 (6 f.); H.-M. Heinig, ZevKR 53 (2008), S. 235.

  29 H.-M. Heinig, ZevKR 53 (2008), S. 235 f.

  30 S. Korioth, in: H. M. Heinig/C. Walter (Hrsg.) Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht, S. 39 (59).

  31 H. Quaritsch, Der Staat 1 (1962), S. 175 ff. u. 289 ff.; E.-W. Fuß, DÖV 1961, S. 734 ff; R. Zippelius, ZevKR 9 (1962/63), S. 42 ff.

  32 S. Korioth, in: H. M. Heinig/C. Walter (Hrsg.) Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht., S. 39 (60); C. Link, Staat und Kirche, S. 165; A. v. Campenhausen/P. Unruh, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.) GG-Komm. Art. 140 GG, Rn. 10.

  33 A. v. Campenhausen, in: C. Link/M. Seitz (Hrsg.) Kirchenrecht und Kirchenpolitik, S. 195 (202).

  34 S. Korioth, in: H. M. Heinig/C. Walter (Hrsg.) Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht, S. 39 (60); C. Walter, Religionsverfassungsrecht, S. 194 ff.

  35 M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 4, S. 341.

  36 Ebd., S. 341.

  37 K. Hesse, ZevKR 11 (1964/65), S. 337 (345).

  38 A. Hollerbach, VVDStRL 26 (1968), S. 57 (65 f.).

  39 Ebd., S. 57 (65 f.).

Untersuchungsmethodik und Begrenzung der Untersuchung

Die unterschiedlichen Argumentationslinien der einzelnen Autoren lassen sich bei genauerer Betrachtung sowohl auf historische und staatstheoretische Traditionen wie auch persönliche Hintergründe und Erfahrungen zurückführen.40 Diese erlauben, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, Rückschlüsse auf den Verlauf der richtungsweisenden Debatte über die Ausrichtung des staatskirchenrechtlichen Systems unter dem Grundgesetz zu ziehen.41 Die Erkenntnisse aus dieser Grundlagendebatte – auch wenn diese aus heutiger Sicht längst abgeschlossen ist – können einen interessanten Beitrag zu der heute geführten Debatte um ein Religionsverfassungsrecht leisten.42 Die staatskirchenrechtliche Diskussion der Fünfziger- und Sechzigerjahre ist Teil der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und spielt als solche eine wichtige Rolle für die Auslegung und das Verständnis von Art. 140 GG, durch den die Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 WRV vollgültiges Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland geworden sind.43

Die gegenwärtige Diskussionslage des beginnenden 21. Jahrhundert in einer heute selbstverständlichen pluralistischen Rahmenordnung eines säkularen Staates im wiedervereinigten Deutschland wird mit einem anderen Schwerpunkt geführt.44 Ging es früher im Staatskirchenrecht um das Staat-Kirche-Verhältnis im institutionellen Sinne, so wird heute unter einem religionsverfassungsrechtlichen Ansatz stärker die Wechselbeziehung zwischen dem Grundrecht der Religionsfreiheit (Art. 4 GG) und dem auf die Religionsgesellschaften anwendbaren Rechtsbestand (Art. 7 III u. 140 GG i.V.m. Art. 137 ff. WRV) in den Mittelpunkt ← 7 | 8 → gerückt.45 Dieser Ansatz trägt den Begriff „Religionsverfassungsrecht“.46 Die Bezeichnung Staatskirchenrecht behält trotz allem seine bleibende Berechtigung, da die Entwicklung hin zum heutigen Verständnis in der Bestimmung des Staat-Kirche-Verhältnis im institutionellen Sinne ihren Ausgangspunkt hat.47

An diesem Punkt gewinnt die vorliegende Debatte ihren Bezug zur aktuellen Rechtsdiskussion, die zwar ihren Schwerpunkt verlagert, aber ihre Ursprünge nicht aufgegeben hat.48

Dieses vorweggeschickt, ergibt sich vorliegend eine Betrachtung der staatskirchenrechtlichen Diskussion in der frühen Bundesrepublik unter zwei Gesichtspunkten:

Es erfolgt eine Betrachtung einer historischen Diskussion, die als Kenntnisstand Voraussetzung für die richtige Auslegung und das Verständnis des geltenden Verfassungsrechts zwischen Staat und Kirche ist.49 Zudem geht es um die Geschichte der Beziehung einer Institution zum Staat, die über die Jahrhunderte „als maßgebliches Element der öffentlichen Ordnung“ gewirkt hat.50

Die Auswahl der Quellen ist an dem Sammelband von H. Quaritsch/H. Weber orientiert. Der Bestand ist um den Beitrag W. Webers51 zur Gegenwartslage des Staatskirchenrechts auf der Marburger Staatsrechtlehrertagung 1952 erweitert, der aus lizenzrechtlichen Gründen in den Sammelband nicht aufgenommen wurde.52 Zudem wurde der Anregung M. Heckels gefolgt und die Beiträge von M. Heckel und A. Hollerbach auf der Staatsrechtlehrertagung 1967 in Frankfurt a. M. unter dem Thema „Die Kirchen unter dem Grundgesetz“ miteinbezogen.53 Sie schließen gewissermaßen die Diskussion um das Staatskirchenrecht der frühen Bundesrepublik Deutschland ab und ziehen „Bilanz“.54 ← 8 | 9 →

Von einer Berücksichtigung des Beitrags E. Fischers55, der im Sammelband von H. Quaritsch/ H. Weber aus Platzgründen unberücksichtigt geblieben ist, wird hier bewusst abgesehen.56 E. Fischer war ein prominenter Verfechter einer laizistischen Trennung von Staat und Kirche unter dem Grundgesetz.57 Bei ihm ergibt sich das Prinzip der Trennung des Religiösen vom Weltlichen als zwingende Logik aus dem Vorrang einer unverletzlichen Religionsfreiheit nach Art 4 I GG.58 Dem liegt ein auf den status negativus fixiertes Grundrechtsverständnis zugrunde, das religiöse Freiheitsentfaltung nur in einem staatsfernen Raum frei von staatlicher Einflussnahme zulässt.59 Die kooperativen Elemente in Bezug auf das Verhältnis von Staat und Kirche (z. B. der gemeinsame Religionsunterricht nach Art. 7 III GG) werden von E. Fischer als legale Verfassungswidersprüche verstanden.60 Der Beitrag wird im Folgenden nicht berücksichtigt, weil im Rahmen der Diskussion um das Staatskirchenrecht der frühen Bundesrepublik seine Thesen keine beachtenswerte Rolle spielen.61 So beschränken sich die Ausführungen anderer Autoren hierzu auf eher knappe Vermerke innerhalb von Fußnoten.62 Dies lag u.a. daran, dass Ausgangspunkt seiner laizistischen Trennungskonzeption ein Schutzinteresse vor einer mit einem intoleranten Ausschließlichkeitsanspruch assoziierten Religion ist.63 Die kritischen Autoren in der Diskussion um das Staatskirchenrecht in der frühen Bundesrepublik, liegen mit ihren Ansätzen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, wesentlich näher an den ← 9 | 10 → allgemein anerkannten Grundpositionen der staatskirchenrechtlichen Lehre der damaligen Zeit.64 E. Fischers Kritik war somit grundsätzlich „anders gelagert“.65

Im Rahmen einer ursprünglichen Quellenbefragung sollen im Folgenden die Autoren mit ihrer ungefilterten Argumentation zu Wort kommen, die nicht von vornherein durch einen Kontextuierung des Autors beeinflusst wird. Die analysierende Betrachtung wird davon getrennt im Anschluss an die jeweiligen Textabschnitte vorgenommen und auf eine Wertung zunächst verzichtet. Es wird der Grundsatz beachtet, dass keine Epoche gegen die Zeitgebundenheit ihrer Leitbilder gefeit ist.66 Eine Kritik der einzelnen Positionen der Autoren aus heutiger Perspektive wäre ein leichtes Opfer für einen die zeitgemäße Darstellung verfälschenden Anachronismus.67 Die tatsächliche Lebenssituation der deutschen Gesellschaft der Fünfzigerjahre, die von einer tiefen Religiosität und dem Leid zweier Weltkriege geprägt war, kann nach der hier vertretenen Auffassung aus der Perspektive einer von Wohlstand und weitreichender Areligiosität geprägten post-industriellen Gesellschaft im wiedervereinigten Deutschland in einem geeinten Europa nur mit Mühe nachvollzogen werden.68

Neben der Quellenbefragung und Analyse soll im Folgenden eine chronologische Einteilung der Grundsatzdebatte in unterschiedliche Zeitabschnitte erfolgen. Gegen eine solche Periodisierung wurde zuweilen vorgebracht, dass sie die „außerordentliche Differenziertheit der Probleme, Standpunkte und Entwicklungstendenzen“ verkenne.69 Dem ist jedenfalls insoweit zuzustimmen, als dass der Übergang von der einen zur anderen Epoche in Wahrheit viel fließender verlief, als es die obige Einteilung zunächst vermuten lässt.70 Der Gefahr einer pauschalen Periodisierung soll in der folgenden Analyse dadurch begegnet ← 10 | 11 → werden, dass die „Überlappungen“ der Argumentationen und Positionskorrekturen nachfolgender Autoren ausdrücklich Erwähnung finden.71

Das Erkenntnisinteresse der Arbeit liegt vornehmlich im Nachvollziehen der Argumentationslinien und ihrer Auswirkung auf den Verlauf der Debatte. Die Frage der abschließenden Betrachtung lautet daher: Was waren die bestimmenden Faktoren in der Diskussion und wie ist ihr Erbe für das heutige Staatskirchenrecht zu begreifen? ← 11 | 12 →

                                                   

Details

Seiten
XX, 442
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653049107
ISBN (ePUB)
9783653979800
ISBN (MOBI)
9783653979794
ISBN (Paperback)
9783631655252
DOI
10.3726/978-3-653-04910-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Dezember)
Schlagworte
Staatsrecht Kirchenrecht Weimarer Kirchenrechtsartikel Artikel 140 GG
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. XX, 442 S.

Biographische Angaben

Fabio Borggreve (Autor:in)

Fabio Borggreve ist Volljurist. Er studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg und Köln und ist heute als Rechtsanwalt in einer internationalen Sozietät tätig.

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Titel: Wissenschaftliche Positionen zum Staatskirchenrecht der frühen Bundesrepublik Deutschland (1949-1969)
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