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Die Inszenierung der «Neuen Armut» im sozialpolitischen Repertoire von SPD und Grünen 1983–1987

von Marie Sophie Graf (Autor:in)
©2015 Dissertation 208 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch beleuchtet den Diskurs der so genannten Neuen Armut mit Blick auf die Oppositionsparteien SPD und die Grünen in den Jahren 1983 bis 1987. In der Zeit nach dem wirtschaftlichen Boom der 1950er und 1960er Jahre erlebte Armut eine Rückkehr auf die politische Agenda der Bundestagsparteien. Diese Diskussion kreiste ab Mitte der 1970er Jahre um die von Heiner Geißler geprägte Formel der Neuen Sozialen Frage, ab Beginn der 1980er Jahre fand sie dann unter dem Schlagwort der Neuen Armut statt. Die Autorin untersucht das Selbstverständnis der SPD als Volkspartei für die Neuen Armen und das der Grünen als Protestpartei für gesellschaftliche Randgruppen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Armut – eine (fast) vergessene Herausforderung im bundesdeutschen Sozialstaat
  • 1.2 Forschungsstand, Zielsetzung der Arbeit und Quellenlage
  • 2. Die Deutungsoffenheit des Armutsbegriffs
  • 2.1 Armut – Zur Unschärfe des Begriffs
  • 2.2 Sozialwissenschaftliche Messkonzepte
  • 2.3 Der empirische Kern der Debatte um die Neue Armut
  • 3. Die SPD – Volkspartei für die Neuen Armen
  • 3.1 Die traditionelle Sozialstaatspartei vor den Herausforderungen Opposition und konservative ‚Wende‘
  • 3.2 Das Armutsbild der SPD
  • 3.3 An vorderster Front: Prominente Vertreter der SPD-Armutspolitik
  • 3.4 Armutspolitik als Oppositionspolitik
  • 3.5 Wahlkampfthema ‚Soziale Ungleichheit‘?
  • 3.6 Intermediäre Kooperation und die Rolle der Gewerkschaften
  • 3.7 Die Wahrnehmung sozialdemokratischen Engagements in der (Tages-) Presse
  • 4. Die GRÜNEN – Protestpartei für gesellschaftliche ‚Randgruppen‘
  • 4.1 Die neue Reformpartei als Provokateur klassischer Sozialstaatskonzepte
  • 4.2 Der Armutsbegriff der GRÜNEN
  • 4.3 Die armutspolitischen Reformer der ersten Stunde
  • 4.4 Strategien grüner Armutspolitik
  • 4.5 Alternativer (Armuts-)Wahlkampf
  • 4.6 Zivilgesellschaftlicher Einfluss
  • 4.7 Die (schwache) mediale Resonanz auf die grüne Armutspolitik
  • 5. Parteipolitische Konkurrenz im Diskurs um die Neue Armut
  • 5.1 Wechselwirkungen zwischen SPD und GRÜNEN
  • 5.2 Sozialdemokratische und grüne Armutspolitik im Vergleich
  • 5.3 Resümee
  • 6. Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis
  • 6.1 Abkürzungsverzeichnis
  • 6.2 Quellenverzeichnis
  • 6.2.1 Verzeichnis der ungedruckten Quellen (Verzeichnis der systematisch geprüften Archivbestände)
  • 6.2.2 Verzeichnis der gedruckten Quellen
  • 6.2.2.1 Parlamentarische Quellen
  • 6.2.2.2 Quellen der SPD
  • 6.2.2.3 Quellen der GRÜNEN
  • 6.2.2.4 Zeitungsartikel
  • 6.2.2.5 Sonstige Quellen
  • 6.3 Verzeichnis der Sekundärliteratur
  • 7. Anhang

← 10 | 11 → 1. Einleitung

1.1 Armut – eine (fast) vergessene Herausforderung im bundesdeutschen Sozialstaat

„Not reimt sich nicht mehr auf Brot“, diagnostizierte DER SPIEGEL 1965 die Realität sozialen Elends in der Bundesrepublik Deutschland. Mitte der 1960er Jahre mochten viele „noch immer nach einem Bild von Armut spähen, das sich an der fadenscheinigen Not aus den anklagenden Dramen Gerhart Hauptmans orientiert“. Doch das Leid trug inzwischen andere Züge als die Charaktere aus den Werken des Literaturnobelpreisträgers: „Die Armut in der Bundesrepublik hat ein gepflegtes Gesicht.“1

Trotz des gewohnt ironisch-kritischen Tons lag der Situationsanalyse des Hamburger Magazins eine maßgebliche Annahme zugrunde: Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von 1961 hatte die bundesdeutschen Welten der Armut tiefgreifend verändert. Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Blüte mit Vollbeschäftigung und anhaltenden Lohnsteigerungen hatte die Politik in Kooperation mit Experten ganz unterschiedlicher Provenienz das neben der Einführung der dynamischen Rente „wichtigste sozialpolitische Reformwerk der Ära Adenauer“2 geschaffen. Sechs Jahre intensiven Dialogs zwischen Vertretern der Wohlfahrtsverbände und Politikern der drei Bundestagsfraktionen führten zu einem allein mit den Stimmen von CDU und CSU beschlossenen Gesetz, das in zentralen Elementen an der im Kern bereits seit 1924 bestehenden Ordnung festhielt: am System der Regelsätze, den strengen Bedürftigkeitsprüfungen, der Verpflichtung Angehöriger zur Unterstützung ‚ihrer‘ Bedürftigen und der Pflicht von Fürsorgeempfängern zur Verrichtung ‚gemeinnütziger‘ Arbeit. Für die in ‚Sozialhilfe‘ umbenannte ‚Fürsorge‘ führte man einen Rechtsanspruch ein. Zudem erweiterte man die ‚Hilfe zum Lebensunterhalt‘, die vor allem laufende, rein materielle Unterstützung vorsah, um ‚Hilfen in besonderen Lebenslagen‘, die ← 11 | 12 → insbesondere die Situation behinderter, obdachloser und alter Menschen verbessern sollte. Der Wirtschaftsaufschwung in den 1950er Jahren hatte zu einer schwindenden Bedeutung der Fürsorge im wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystem der BRD geführt. So verband sich die als epochal gefeierte Reform von 1961 bei den meisten Experten mit der Erwartung, dass es auch zukünftig in der Bundesrepublik keine Massenarmut mehr geben und deshalb die Sozialhilfe als Instrument zur Armutsverhinderung zunehmend an Relevanz verlieren werde.3 Diese Annahme sollte sich schon in den 1970er und 1980er Jahren als Trugschluss erweisen.

Obgleich es in der Bundesrepublik der 1960er Jahre durchaus materielle Armut gab, spielte das Thema in der öffentlichen Diskussion nur eine marginale Rolle.4 Wo Armut überhaupt diskutiert wurde, deutete man sie in alten konservativ-bürgerlichen Mustern primär als Folge des Versagens Einzelner, die durch Faulheit, Unfähigkeit und Mangel an Selbstverantwortung sowie aufgrund schwieriger Lebensumstände verarmt seien.5 Erst gegen Ende des Jahrzehnts rückten die „Benachteiligten, ‚Unterprivilegierten‘, Ausgegrenzten der westdeutschen Gesellschaft“6 verstärkt in den Fokus des öffentlichen Interesses – vor allem „im Zusammenhang mit ← 12 | 13 → der Studentenbewegung und der von ihr initiierten Diskussion um das ‚gesellschaftsverändernde Potential von Randgruppen‘“7. Unter die vage Begrifflichkeit ‚Randgruppen‘ wurden „höchst unterschiedliche soziale Gruppen und Befindlichkeiten“ subsumiert, die sich jedoch alle durch eine – sozialräumlich gesehen – „nur schwer überbrückbare Distanz zum gesellschaftlichen Zentrum kennzeichnen [lassen], zu den dominanten Wertemustern, Verhaltenserwartungen und Normalitätsstandards wie auch zu den durchschnittlichen Chancen individueller Bedürfnisbefriedigung“.8 Als Randgruppen galten etwa Behinderte, geistig Kranke, Lehrlinge, Heimkinder, Obdachlose und Nicht-Sesshafte, Gastarbeiter, Vorbestrafte, kriminelle Jugendliche und Drogensüchtige. Indem man ihre periphere Soziallage analysierte, gewann Armut „implizit“9 wieder einige Aufmerksamkeit: Die sozialwissenschaftliche Forschung beispielsweise, die sich mit Beginn der 1970er Jahre zunehmend der Thematik annahm, fokussierte in erster Linie die gesellschaftliche Exklusion und Stigmatisierung der Randgruppen, führte dies jedoch häufig auf materielle Not zurück. Wo Marginalisierung und Elend eher kulturell, also nicht allein als Mangel an monetären Ressourcen gedeutet wurden, ersetzten Sozialwissenschaftler wie Gerhard Iben und Alfred Kögler den Armutsbegriff durch den Terminus Unterprivilegierung.10 Populärwissenschaftliche Untersuchungen und journalistische Reportagen wie eine große SPIEGEL-Serie sensibilisierten eine breitere Öffentlichkeit für die prekären Lebenslagen gesellschaftlich Marginalisierter, Exkludierter.11 Mit ihren Sozialreportagen fand beispielsweise ← 13 | 14 → die Journalistin und spätere RAF-Terroristin Ulrike Meinhof große Aufmerksamkeit.12 Der „steile[n] Karriere des Randgruppenbegriffs“13 entsprach auf Seiten der (in sich freilich vielfältig differenzierten und zerstrittenen) politischen Linken eine neue Kausalitätszuschreibung: Indem nicht mehr der Einzelne selbst für sein Schicksal verantwortlich gemacht, sondern die entscheidende Ursache für die Verarmung bestimmter Gruppen in der kapitalistischen Gesellschaft und ihrem Staat gesehen wurde, hoffte man durch eine grundlegende Sozialreform die bisher Marginalisierten in eine neue, bessere Gesellschaft integrieren zu können. In der Reformära 1966/69 bis 1974 meinten auch viele Sozialexperten, durch eine emanzipatorische, auf mehr Chancengleichheit ausgerichtete Politik das Randgruppenproblem auf Dauer lösen zu können.

Doch als die wirtschaftlichen Krisenwellen der 1970er Jahre die Grundpfeiler des Keynesianismus unterspülten und sich „der kurze Traum immerwährender Prosperität“14 als Illusion erwies, schien sich auch für die überwindbar geglaubte Herausforderung durch die Armut ein „Ende der Zuversicht“15 abzuzeichnen. In den Jahren „nach dem Boom“16 wurde ← 14 | 15 → in ganz unterschiedlichen diskursiven Arenen eine Renaissance des Interesses an Armut inszeniert: in der Politik, in den Sozialwissenschaften, bei den Experten in den Wohlfahrtsverbänden und Sozialstaatsbürokratien. Diese bundesdeutschen Diskussionen fanden in einem europäischen Kontext statt. Denn schon 1974 hatte die Kommission der Europäischen Gemeinschaft (EG) ein ‚Europäisches Programm von Modellvorhaben und Modellstudien zur Bekämpfung der Armut‘ initiiert. Zudem war der neue Armutsdiskurs in der Bundesrepublik eng verknüpft mit einer breiten politischen und sozialwissenschaftlichen Debatte über die „Krise des Sozialstaats“, die „Grenzen des Sozialstaats“ oder gar über das „Ende des Sozialstaats“.17 Diese Krisendebatte gewann dadurch an bleibender Bedeutung, dass nach den Jahren der vielfältigen Expansion des bundesdeutschen Sozialstaats seit 1975 nun „Spargesetz auf Spargesetz“18 folgte.

Zu den frühen Initiatoren der politischen Armutsdiskussion zählte 1975 Heiner Geißler, zu diesem Zeitpunkt Minister für Jugend, Soziales, Gesundheit und Sport unter Ministerpräsident Helmut Kohl in Rheinland-Pfalz. Als Vorsitzender des Bundesausschusses für Sozialpolitik der CDU hatte Geißler beim Mannheimer CDU-Bundesparteitag im Juni 1975 eine programmatische „Mannheimer Erklärung“ zur Neuen Sozialen Frage vorgelegt, mit der er in der Ideenkonkurrenz zur anderen großen Sozialstaatspartei, der SPD, für seine Partei eine Deutungshoheit in den aktuellen Debatten über die inneren Widersprüche des Sozialstaats zu erlangen hoffte – indem der Sozialstaat Armut zu verhindern sucht, betreibt er trotz aller Gleichheitsversprechen häufig nur eine Politik der ← 15 | 16 → Besitzstandswahrung der Mittelschicht.19 In der im Jahr darauf in hoher Auflage verbreiteten Streitschrift „Die Neue Soziale Frage“20 versuchte der von der katholischen Soziallehre inspirierte Geißler in scharfer Kritik klassisch linker, am Gegensatz von Kapital und Arbeit orientierter Gesellschaftstheorien zu zeigen, dass der sozialstrukturell entscheidende Konflikt in der Gegenwart zwischen den organisierten Kräften, das heißt Arbeitgebern wie Arbeitnehmern, einerseits und den Nicht-Organisierten andererseits bestehe. Diese „Asymmetrie der Interessenrepräsentanz“21, die schon von Verfassungsjuristen wie Ernst Forsthoff betont worden war,22 habe in der Bundesrepublik dazu geführt, dass die nicht in den Produktionsprozess eingegliederten Gruppen der Bevölkerung im bestehenden Sozialversicherungsstaat vielfältig unterprivilegiert seien: Rentner, kinderreiche Familien, alleinstehende Frauen, Pflegebedürftige. Um den beanspruchten Modernitätsvorsprung der CDU zu demonstrieren, rezipierte Geißler intensiv auch feministische Debatten über die Diskriminierung von Frauen im Wohlfahrtsstaat. Für die von ihm behauptete „Neue Armut“23 verwies er darauf, dass 5,8 Millionen Menschen in 2,2 Millionen Haushalten nur über ein Einkommen unter dem Sozialhilfeniveau verfügten. In der heftigen politischen wie sozialwissenschaftlichen Debatte24 wurden seine Zahlen zwar immer wieder bestritten. Doch war es Geißler gelungen, ← 16 | 17 → die Regierungspartei SPD und auch die Gewerkschaften unter Argumentationsdruck zu setzen – sie reagierten zunächst eher hilflos und defensiv. Einige Sozialdemokraten suchten gegen Geißler zu zeigen, dass dessen Neue Armut im Kern nur die alte Armut der Arbeiterklasse sei. So erklärte Johano Strasser, der programmatische Vordenker der Jungsozialisten, seit 1975 auch Mitglied der Grundwerte-Kommission der SPD, 1979:

„Diese ‚neue Armut‘ ist nicht so neu, wie sie oftmals erscheinen mag; denn auch hier sind die traditionell benachteiligten Arbeiter und ihre Familien die Hauptbetroffenen, allerdings unter der Bedingung, daß spezifische zusätzliche Benachteiligungen hinzukommen: Kinderreichtum, Erwerbsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit, Witwenstatus usw. Das eigentlich Neue und überraschende an der ‚neuen Armut‘ ist die Tatsache, daß sie inmitten eines in der Geschichte der Menschheit noch nie dagewesenen Wohlstands und trotz gewaltiger Aufwendungen für die Schaffung größerer sozialer Gerechtigkeit auftritt.“25

Die diskursive Lage änderte sich durch den Regierungswechsel von 1982 und die vom neuen Bundeskanzler Helmut Kohl proklamierte ‚geistig-moralische Wende‘. Die schwarz-gelbe Bundesregierung rechtfertigte ihre Politik der Kürzung von Sozialstaatsausgaben auch mit Argumenten des ökonomischen Neoliberalismus – etwa indem mehr ‚Selbstverantwortung‘ der Bürger eingeklagt wurde. Umgekehrt kritisierte die neue Oppositionspartei SPD die Bundesregierung nun mit dem vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) übernommenen Argument, dass vor allem die von ihr in Kauf genommene wachsende Arbeitslosigkeit und der ‚Sozialstaatsabbau‘ für die Neue Armut verantwortlich seien. Bald nach dem Regierungswechsel legte der DGB eine Studie mit dem Titel „Die neue Armut: Ausgrenzung von Arbeitslosen aus der Arbeitslosenunterstützung“ vor, die in seinem Auftrag das 1982 gegründete Rheinische Journalistenbüro erarbeitet hatte. Der bereits im Titel hervorgehobene Fokus der Analyse lag auf der Situation der Arbeitslosen, die sich – so die These – „durch die jetzt schon zehn Jahre lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit und die ← 17 | 18 → dramatischen Kürzungen bei der Arbeitslosenunterstützung“ radikal verschlechtert habe; so habe sich „eine in der Geschichte der Bundesrepublik neue Form der Armut“ ausgebreitet, „die Armut der Arbeitslosen“.26 Die Neue Armut des DGB war die Armut von Arbeitslosen, vor allem Langzeitarbeitslosen. Dieser Schwerpunkt auf Erwerbslosigkeit verwundert nicht, fungiert Arbeit in der bundesdeutschen Sozialstaatskonstruktion doch als „Fixpunkt der sozialen Sicherung“27. Obgleich der Sozialstaat den mit dem Verlust des Arbeitsplatzes verbundenen Risiken, insbesondere der Statuseinbuße, durch Transferleistungen entgegenzuwirken suchte, verschärfte sich für den DGB der „Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit“28 im bundesdeutschen System: Die vorgesehenen Leistungen vermochten aus Sicht des DGB weder die Existenzgrundlage für die Gesamtheit der Arbeitslosen zu garantieren, noch sicherten sie den Lebensunterhalt Arbeitsloser für den gesamten Zeitraum ihrer Erwerbslosigkeit; auch kompensierten sie den Einkommensverlust nur unzureichend. Angesichts der „Rückkehr der Arbeitslosigkeit“29 schien dieses Missverhältnis das System zusehends ins Wanken zu bringen, und die „erste Verteidigungslinie gegen Armut und Not“30 drohte zu brechen. Wie Heiner Geißlers Neue Soziale Frage provozierte auch das DGB-Papier zur Neuen Armut ← 18 | 19 → eine breite politische Debatte, in die immer wieder Sozialwissenschaftler und Experten aus den Wohlfahrtsverbänden eingriffen.

Wer erstmals ‚die Armut‘ mit dem Adjektiv ‚neu‘ verknüpfte, ist unklar. Begriffsgeschichtliche Studien zur Neuen Armut liegen bisher nicht vor; weder die entscheidend von Reinhart Koselleck geprägten „Geschichtlichen Grundbegriffe“ noch das von Joachim Ritter initiierte „Historische Wörterbuch der Philosophie“ bieten einen Artikel zur Armut.31 Die von Winfried Süß 2012 vertretene Behauptung, dass der DGB die Formel Neue Armut geprägt habe,32 trifft so nicht zu. Auch Lutz Leisering irrt.33 Denn die suggestive Formel wurde schon im sozialpolitischen Diskurs der frühen Weimarer Republik verwandt. Exemplarisch genannt sei der Bonner nationalprotestantische Historiker Fritz Kern, der im September beziehungsweise Oktober 1920 beim VII. Evangelisch-landeskirchlichen sozialen Kursus in Berlin und Düsseldorf über „Die neue Armut und die neuen Armen“34 sprach. Für ihn sind die ‚neuen Armen‘ vor allem der durch Kriegsniederlage, Inflation und Wirtschaftskrise deklassierte Mittelstand. In seiner dezidiert antiparlamentarischen Analyse der schwierigen sozioökonomischen Situation Deutschlands nach dem 1. Weltkrieg beklagte er vor dem Hintergrund schwindenden gesellschaftlichen Gemeinsinns die zusehends schlechtere Lebenssituation von Proletariat und Mittelstand. ← 19 | 20 → Neue Armut bedeutete für Kern die tiefgreifende Krise des deutschen Mittelstands, aus der er dennoch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung dieser Klasse für das Wohl des deutschen Volkes ableitete.35 Eigene Beachtung verdient, dass Kern schon von ‚neuen Reichen‘ sprach. Es mag sein, dass die Formel ‚neue Arme‘ als Gegenbegriff zur Rede von den ‚neuen Reichen‘ geprägt wurde.36

Eine ganz andere Deutung gab der Begriffskomposition vier Jahrzehnte später der österreichische Sozialwissenschaftler Jules Klanfer. In einer 1969 publizierten Studie über „Die soziale Ausschließung“ gesellschaftlicher Randgruppen vor allem in den europäischen Industriegesellschaften beschrieb er Neue Armut als ein Schicksal, dessen sozialstaatliche Bearbeitung die Gesellschaft verweigere, weil sie die Schuld am Elend allein dem isolierten Individuum zuschreibe.37 Seitdem findet sich die Rede von der Neuen Armut immer wieder in der sozialwissenschaftlichen Literatur; sie prägt inzwischen ← 20 | 21 → auch die Armutsforschung im englischen Sprachraum.38 Breitere Beachtung fand sie jedoch erst durch die politischen Debatten seit 1983.

Mit dem Ende der sozialliberalen Koalition waren die Funken der Armutsthese auf die politische Bühne übergesprungen: Die in die Opposition verwiesene SPD und die neu im Parlament vertretenen GRÜNEN suchten sich beide als Fürsprecher der Armen zu inszenieren und die Regierungspolitik scharf zu attackieren. Die Regierung in Gestalt der CDU bemühte sich, die Angriffe bestmöglich zu parieren. Regierungschef Kohl erklärte die Neue Armut polemisch zum bloßen Hirngespinst von DGB und Sozialdemokraten,39 und für christdemokratische Sozialpolitiker wie Norbert Blüm und Heiner Geißler stellte das Ganze nur den „größten aufgelegten sozialdemokratischen Schwindel der Nachkriegszeit“40 dar. Zugleich aber verstand man die Oppositionsoffensive als ernsthafte Herausforderung für konservative Politik, mit der es sich auseinanderzusetzen galt, hoffte man doch, einen möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens für angestrebte Lösungen zu finden.41

Bei der Suche nach Rezepten gegen die Neue Armut spielten die Stimmen derer eine entscheidende Rolle, die seit jeher in sozialpolitischen Fragen äußerst einflussreiche intermediäre „Definitoren“42 waren: die beiden ← 21 | 22 → großen Kirchen und die mit ihnen eng verbundenen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie, die schon wegen der Zahl ihrer hauptamtlich Beschäftigten besonders mächtigen Akteure im deutschen Sozialstaatskorporatismus. Andere Verbände der freien Wohlfahrt schlossen sich ihnen an.43

Die katholische Kirche hatte – vor allem im Kontext ihrer starken Orientierung am Thema Familie – bereits in den 1970er Jahren die Verarmungstendenzen in der bundesdeutschen Gesellschaft scharf kritisiert. Auch die Neue Soziale Frage hatte sie intensiv reflektiert. Nicht zuletzt unter dem Einfluss der akademisch-theologischen Diskussionen über Gerechtigkeit und biblisch gebotene Überwindung der Armut setzte sie im Laufe der 1980er Jahre dieses Engagement fort.44 Unter dem Einfluss des zunächst in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie entwickelten sozialethischen Konzepts der „preferential option for the poor“45 trat vor allem die Caritas als „Anwalt und Lobby der Armen“46 auf. Dem parteipolitischen Dauerstreit ← 22 | 23 → stand der katholische Wohlfahrtsverband äußerst kritisch gegenüber: Die „unverhoffte, wechselnde Lobby“ für sozial Benachteiligte und Exkludierte sei allein durch parteipolitische Interessen bedingt, der Begriff Neue Armut sei „irreführend“, weil „nicht die Form der Armut“, sondern nur die von sozialer Not betroffenen Bevölkerungsgruppen neu seien.47

In der evangelischen Kirche hatte es während der 1970er Jahre keinen nennenswerten Armutsdiskurs gegeben. Selbst die Thesen Heiner Geißlers hatten protestantische Sozialethiker und Diakoniefunktionäre nur am Rande interessiert.48 In den 1980er Jahren vollzog sich insoweit ein Wandel, als die Armutsproblematik zu einem Thema der Evangelischen Akademien wurde.49 Auch trat nun das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verstärkt als Fürsprecher der Armen auf. Ganz im Sinne der damals viel beschworenen „Option für die Armen“50 verstand man sich nun als politischer Anwalt der Armen, die keine eigene ← 23 | 24 → Stimme hätten, beziehungsweise als „poverty lobby“51. Stärker als die Caritas unterstrichen die protestantischen Akteure ihren Willen zu Dialog und Kooperation.52

Besonders eng war die Verbindung zu prominenten Vertretern der sozialwissenschaftlichen Armutsforschung wie dem Frankfurter Ökonomen Richard Hauser und dem Gießener Politologen Ernst-Ulrich Huster, der später in den Dienst der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers trat. Beide gehörten zur Arbeitsgruppe ‚Armut und Unterversorgung‘, einem Gesprächskreis von sozialpolitischen Experten aus Wissenschaft und Praxis, der sich erstmals Ende der 1970er Jahre getroffen und 1982 als Arbeitskreis konstituiert hatte. Mittels fachpolitischer Stellungnahmen und intensiver Vortragstätigkeit wollten die Mitglieder des einflussreichen Gremiums öffentlich auf das Ausmaß der Armutsproblematik hinweisen und Lösungswege aufzeigen.53 Zu ihnen zählten auch der Bremer Sozialrechtler und Politologe Stephan Leibfried und sein Kasseler Kollege Florian Tennstedt, die mit ihrem 1985 veröffentlichten Sammelband „Politik der Armut oder Die Spaltung des Sozialstaats“ einen besonders intensiv wahrgenommenen wissenschaftlichen Beitrag zur westdeutschen Armutsdebatte leisteten. Ihre These lautete:

„Wir erleben zur Zeit den Prozeß einer Spaltung des bundesrepublikanischen Sozialstaats: Auf der einen Seite wird bald ein Viertel der Bevölkerung ausgegrenzt und auf finanzielle Unterstützung durch die Gesellschaft ← 24 | 25 → angewiesen sein. Dem werden auf der anderen Seite jene drei Viertel gegenüberstehen, die ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten, deren (Sozial-)Versicherung aber absinkt und die dennoch in der gesamtgesellschaftlichen Einkommenspyramide ihren relativen Vorteil wahren möchten. Politik der Armut wird damit für die Bundesrepublik zum ersten Mal zu einer systematischen Herausforderung und kann sich hinsichtlich der sozialen Integration zu einer Bestandsfrage entwickeln.“54

Details

Seiten
208
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653048957
ISBN (ePUB)
9783653980127
ISBN (MOBI)
9783653980110
ISBN (Hardcover)
9783631655092
DOI
10.3726/978-3-653-04895-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Sozialpolitik Neue Soziale Frage Sozialstaat Armutsbegriff
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 208 S.

Biographische Angaben

Marie Sophie Graf (Autor:in)

Marie Sophie Graf studierte Neuere und Neueste Geschichte, Geschichte Ost- und Südosteuropas, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft sowie Politikwissenschaft in München.

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