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Inszenierungen des Essens in der Kinder- und Jugendliteratur

Aufklärung – Romantik – Biedermeier

von Sonja Jäkel (Autor:in)
©2015 Dissertation 336 Seiten

Zusammenfassung

Das Motiv des Essens ist in der Kinder- und Jugendliteratur allgegenwärtig – und bisher dennoch kaum erforscht. Dabei weist es weit über seine unmittelbare Körperlichkeit hinaus und trägt als formen- und funktionsreiches Motiv zur Gestaltung literarischer Welten bei. Anhand exemplarischer Texte der Aufklärung, der Romantik und des Biedermeier lotet die Studie aus, wie sich im Mikrokosmos des Essens gesellschaftliche Makrostrukturen und epochenspezifische Konzepte von Kindheit offenbaren. Damit wendet sich die Studie erstmals dem überraschend vielschichtigen Potenzial kinderliterarischer Essensinszenierungen zu und liefert nicht nur einen innovativen Forschungsbeitrag zur Literaturwissenschaft, sondern auch zum interdisziplinären Diskurs um Essen, Kultur und Gesellschaft.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhalt
  • 1. Einleitung
  • 2. Zwischen Natur und Kultur – das Phänomen Essen
  • 2.1. Die natürlich-sinnliche Dimension
  • 2.2. Die kulturell-geformte Dimension
  • 2.3. Das Verhältnis von Natur und Kultur
  • 2.4. Implikationen für das Untersuchungsinteresse
  • 3. Inszenierungen des Essens in der Kinder- und Jugendliteratur
  • 3.1. Inszenierungen des Essens in der Aufklärung
  • 3.1.1. Campes Robinson der Jüngere – „Wir wollen uns gern überwinden lernen.“
  • 3.1.1.1. Die Rezeption Rousseaus
  • 3.1.1.2. Pädagogisierung des Defoeschen Robinson Crusoe
  • 3.1.1.3. Die Signifikanz der Rahmenhandlung
  • 3.1.1.4. Der Vorbericht des Robinson als Programm
  • 3.1.1.5. Zusammenfassung
  • 3.1.2. Moralische Beispielgeschichten – „Sein Naschen bracht ihn mördrisch um.“
  • 3.1.2.1. Warnung vor gesundheitlichen Schäden
  • 3.1.2.2. Transport des bürgerlichen Tugendkanons
  • 3.1.2.3. Narrative Besonderheiten
  • 3.1.2.4. Gewandeltes Straf- und Gewaltparadigma
  • 3.1.2.5. Zusammenfassung
  • 3.1.3. Schlussfolgerungen zum Kindheitskonzept
  • 3.2. Inszenierungen des Essens in der Romantik
  • 3.2.1. Grimms Kinder- und Hausmärchen – „Knusper, knusper, kneischen, wer knuspert an meinem Häuschen?“
  • 3.2.1.1. Mangel und Überfluss
  • 3.2.1.2. Sinnliche Verlockungen
  • 3.2.1.3. Fressen und Gefressenwerden
  • 3.2.1.4. Die soziale Bedeutung der Mahlzeit
  • 3.2.1.5. Zusammenfassung
  • 3.2.2. E.T.A. Hoffmanns Nußknacker und Mausekönig – „Schwäne fressen keinen Marzipan.“
  • 3.2.2.1. Der Nußknacker aus kulinarischer Perspektive
  • 3.2.2.2. Zwischen Mäßigkeit und Opulenz
  • 3.2.2.3. Die süße Phantasie – Bedrohung oder Rettung der Kindheit?
  • 3.2.2.4. Zusammenfassung
  • 3.2.3. Kinderreime und Kinderlieder – „Was heute bescheret/Wird heute verzehret“
  • 3.2.3.1. Sinnlichkeit, Genuss und Spiel
  • 3.2.3.2. Das Erbe der Aufklärung
  • 3.2.3.3. Zusammenfassung
  • 3.2.4. Schlussfolgerungen zum Kindheitskonzept
  • 3.3. Inszenierungen des Essens im Biedermeier
  • 3.3.1. Moralische Beispielgeschichten – „Es war vor ihrem Leckermäulchen nichts sicher.“
  • 3.3.1.1. Sanfte Moral
  • 3.3.1.2. Der Struwwelpeter – Lustige Geschichten und drollige Bilder?
  • 3.3.1.3. Zusammenfassung
  • 3.3.2. Wilhelm Hauffs Märchen – „Ah! ein seltener Bissen, der Ihro Majestät gewiß behagen wird.“
  • 3.3.2.1. Die Geschichte von dem kleinen Muck
  • 3.3.2.2. Der Zwerg Nase
  • 3.3.2.3. Zusammenfassung
  • 3.3.3. Schlussfolgerungen zum Kindheitskonzept
  • 4. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse
  • 5. Ausblick
  • 6. Bibliographie
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur

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1. Einleitung

Relevanz der Untersuchung und Forschungsüberblick

„Essen ist stets mehr als Essen gewesen“, so leitet Schultz die von ihm herausgegebene Kulturgeschichte des Essens ein (1995: 9) und liefert Beispiele quer durch Zeit und Raum: der Wein etwa, der im griechischen Symposium kreist und Freundschaft symbolisiert, die Festessen der Medici als Ausdruck politisch-wirtschaftlicher Verbundenheit, die affektiv-soziale Bedeutung von Hochzeitsmahl und Leichenschmaus, das christliche Abendmahl und andere religiös konnotierte Essensrituale oder die Weltsicht, die in einer Tasse japanischen Tees steckt.

Essen ist alles andere als nur alltäglich-schlichter Ausdruck des menschlichen Grundbedürfnisses nach Nahrung. Auch die zahlreichen Bonmots und Sprichwörter, in denen das Essen seinen Niederschlag gefunden hat, vergegenwärtigen die umspannenden Zusammenhänge, auf die das Thema verweist. Menschen haben einander zum Fressen gern oder sie haben sich satt, dann lassen sie sich womöglich am ausgestreckten Arm verhungern, schicken sich dorthin, wo der Pfeffer wächst, oder hauen sich in die Pfanne. Man kann mit jemandem ein Hühnchen rupfen, ihn wie eine heiße Kartoffel fallen lassen oder durch den Kakao ziehen. Dinge, die noch nicht gegessen sind, liegen schwer im Magen. Wenn jemand die Weisheit mit Löffeln gefressen hat, dann ist alles in Butter. Wer den Braten dagegen nicht riecht, der hat vielleicht Tomaten auf den Augen. Man kann die Suppe auslöffeln, die man sich eingebrockt hat, und in den sauren Apfel beißen oder um den heißen Brei reden.

Ob solche Umschreibungen alltäglicher Situationen mit sprachlichen Mitteln aus dem semantischen Feld der Nahrung oder Weisheiten à la Ludwig Feuerbach „Der Mensch ist, was er ißt“ (zitiert nach Barlösius 1999: 9)1, Jean-Paul Sartre „Jede Nahrung [ist] ein Symbol“ (Beauvoir 1983: 427) oder Brillat-Savarin „Sage mir, was Du isst, und ich sage Dir, wer Du bist“ (1865: 23) – die vielen Sprichwörter und Aphorismen, die ← 9 | 10 → rund ums Essen geprägt wurden, sind Indikatoren für die Vielschichtigkeit und die Ergiebigkeit des Themas. Es berührt Kognitives und Affektives und zieht sich wie ein weitverzweigtes Wurzelwerk durch die Gefilde vieler Disziplinen. Es birgt gesellschaftliche, philosophische, anthropologische, religiöse, rechtliche, moralische und andere Konnotationen und verweist auf verschiedene Ebenen des menschlichen Daseins.

Essen und Trinken haben von Anfang an eine erhebliche Literatur angeregt, von Alt-China über Alt-Rom bis ins Europa und Nordamerika der Gegenwart. Seit mehr als 3000 Jahren haben Philosophen, Ärzte und andere Wissenschaftler, Gesellschaftskritiker und Feinschmecker Angebot und Verzehr mehr oder minder kritisch betrachtet. (Paczensky/Dünnebier 1994: 526)

Bis ins 18. Jahrhundert mündet die Betrachtung des Essens hauptsächlich in traditionelle Diätiken und Ernährungslehren, bevor ein vertieftes Interesse an Kochkunst, Gaumenfreuden und Tischtraditionen zu erwachen beginnt und erste umfangreiche gastrosophische Schriften verfasst werden.2 Gleich sieben Bände umfasst die 1803 bis 1810 entstandene Gastronomiekritik Almanach des Gourmands von Alexandre Grimod de la Reynière3; quantitativ moderater, aber ebenfalls einflussreich fällt Karl Friedrich von Rumohrs Geist der Kochkunst von 1822 aus4, und der bekannte französische Gastrosoph Jean Anthelme Brillat-Savarin legt 1825 mit seinem Werk Physiologie du Goût eine vielzitierte Unterweisung ins Studium der Tafelgenüsse vor5.

Als über die Gastrosophie hinausweisendes, soziologisches und kulturwissenschaftliches Forschungsthema etabliert sich das Essen in den 1960er Jahren zunächst im frankophonen Raum6, in Deutschland erst Ende der 1980er Jahre. Programmatisch liest sich dabei der Titel eines Aufsatzes von Trude Ehlert (1989): Ein neuer Forschungsschwerpunkt: Kulturwissenschaft des Essens.

Mit Sammelbänden zum Kulturthema Essen (Wierlacher 1993, Teuteberg 1997) öffnet und weitet sich die Forschungsperspektive im ← 10 | 11 → Folgenden – allerdings zunächst nur langsam. Keeling und Pollard konstatieren, dass noch bis Ende der 1990er Jahre Vorbehalte gegen das Essen als akademisches Sujet gehegt werden7. So steckt in Warren Belascos Aufsatz Why Food Matters nicht nur eine Rechtfertigung, sondern auch ein Plädoyer für eine selbstverständliche und umfassende Aufnahme des Themas in die akademische Liga, denn: “[…] food is central to our personal and cultural identities.” (Belasco 1999: 1)

Bis 2002 hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Essen dann so viele Studien hervorgebracht, dass Mintz und DuBois im Annual Review of Anthropology 2002 eine umfangreiche Bibliographie von Publikationen zum Thema Food and Eating platzieren. Hier verzeichnen sie “the staggering increase in the scale of food and literature – inside and outside anthropology” (zitiert in Keeling/Pollard 2009: 6 f.).

Eine dieser außerhalb der Anthropologie angesiedelten Disziplinen ist die Literaturwissenschaft.

If food is fundamental to life and a substance upon which civilizations and cultures have built themselves, then food is also fundamental to the imagination and the imaginary arts (2009: 5),

so schlagen Keeling und Pollard folgerichtig die Brücke zwischen der kultur- und literaturwissenschaftlichen Betrachtung des Essens.

In der Literatur wurde seit jeher viel gegessen und gefressen. In Homers Odyssee wandelt sich der Zyklop Polyphem vom harmlosen Schafhalter zum Kannibalen und verspeist Odysseus’ Gefährten, Ovid preist in seinen Metamorphosen den Vegetarismus, eine der bekanntesten Bibelpassagen sind die Einsetzungsworte zum Abendmahl in den Evangelien, Goethes Werther bereitet am 21. Junius in Wahlheim meditativ Zuckererbsen zu und drückt damit seine tiefe Zufriedenheit inmitten der ländlichen Idylle aus, in Heines Wintermärchen wird die deutsche Küche samt ihrer Stockfische, Bücklinge, Würste, Gänse und Schweinsköpfe zum chiffrierten Politikum, Fontane lässt in Der Stechlin über die Vorzüge von Krammetsvögelbrüsten und Rebhuhnflügeln philosophieren, in Zolas Der Bauch von Paris erscheint das Leben wie ein Kampf zwischen den Fetten und den Mageren, bei Kafkas Hungerkünstler offenbart sich anhand des Nicht-Essens das Dilemma des Künstlers ← 11 | 12 → in der Gesellschaft, Brechts sozialkritische Gedichte verweisen oft schon im Titel auf den symbolischen Gebrauch von Nahrungsmitteln (zum Beispiel Das Brot des Volkes, Die Arbeiter schreien nach Brot, Hat einer kein Fleisch zu Mittag), Beckett unterfüttert die Absurdität seines Romans Watt mit der eigentümlichen Mahlzeit, die Mr. Knott ein ganzes Jahr hindurch serviert bekommt, und Der Butt von Grass, in dem sich eine Erzählebene durchweg im Küchenbereich abspielt, überzeugte mit seinem ersten Satz „Ilsebill salzte nach“ die Initiative Deutsche Sprache und die Stiftung Lesen als schönster Romananfang8.

Ein solcher rasanter Ritt durch die Literatur verdeutlicht die Omnipräsenz des Essens zur Gestaltung fiktionaler Räume. Und dennoch: Das Essen hat sich auch als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung erst nach und nach etabliert. Zu seiner anfänglichen akademischen Vernachlässigung findet sich in der Autobiographie von Jacques Pépin eine Anekdote. Bevor Pépin den Weg als Koch und Gastrosoph einschlug und in Frankreich und den USA zu Berühmtheit gelangte, wollte er in den 1970er Jahren seine Doktorarbeit zum Essensmotiv in der französischen Literatur schreiben. Interessante Untersuchungsgegenstände erkannte er unter anderem im seitenfüllenden Hochzeitsmahl in Flauberts Madame Bovary oder in der Madeleine-Episode in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Aber sein Vorschlag wird abgelehnt: „The reason not much has been written on the topic, Mr. Pépin, […] is that cuisine is not a serious art form. It’s far too trivial for academic study. Not intellectual enough to form the basis of a Ph.D. thesis. “ (Pépin 2004: 212)

Eine kurzsichtige Einordnung, die Pépins Betreuer da mit dem Hinweis auf die fehlende Intellektualität des Essens und seine Banalität und Trivialität vorlegt. Denn das Essen geht weit über seine unmittelbare Körperlichkeit hinaus. So nimmt sich nur einige Jahre später James W. Brown des Themas an und konstatiert in seiner Studie Fictional Meals and their Function in the French Novel: 1789–1848 treffend:

Fictional meals are above all literary signs: consequently they are subject to the same kinds of analysis as any other literary phenomenon, and, to varying degrees, they have interested major critics of all persuasions. (1984: 3)← 12 | 13 →

Drei Jahre später beschäftigt sich auch Jutta Klose in ihrer Dissertation Tafelfreud und Liebesleid in der Bourgeoisie (1987) mit Erscheinungsformen des Essens und Trinkens bei Balzac, Flaubert und Zola, und 2000 erscheint die Habilitationsschrift von Karin Becker zum gastronomischen Diskurs in der französischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Auch sie untersucht Werke von Balzac, Flaubert, Zola und darüber hinaus Maupassant auf ihre kulinarischen Inszenierungen.

Auf das Feld der deutschen Literatur begibt sich schon 1972 Bernd Wetzel mit seiner Dissertation Das Motiv des Essens und seine Bedeutung für das Werk Heinrich Heines. 1977 beschäftigt sich dann Alois Wierlacher in einem Beitrag zum Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache mit dem kulinarischen Diskurs in der neueren deutschen Erzählliteratur. Wierlachers anhaltende wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema mündet schließlich in seiner Habilitationsschrift von 1987 Vom Essen in der deutschen Literatur. Mahlzeiten in Erzähltexten von Goethe bis Grass. Wo der Klappentext noch „ein reizvolles, bislang kaum bearbeitetes Forschungsgebiet“ ankündigt, bewegt sich in den Folgejahren viel. Es erscheinen Studien zum Essensmotiv in den Werken einzelner Autoren, Monographien, die sich mit den Texten verschiedener Autoren beschäftigen, sowie Sammelbände, die unterschiedliche Aspekte der Essensinszenierungen in der Literatur beleuchten.

Stefan Hardt analysiert in seiner Dissertation Tod und Eros beim Essen (1987), wie die in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts vorherrschende Verbindung von Essen und Eros in den literarischen Essakten des 20. Jahrhunderts durch die Verbindung von Essen und Tod abgelöst wird. Ein Jahr später verfasst Hermann Roos seine Dissertation zum Essen und Trinken bei Gottfried Keller. Mitte der Neunzigerjahre erscheint die Bibliographie Food and Drink in Literature (1995) von Norman Kiell, in der über 1500 zum Teil annotierte Einträge verzeichnet sind, die neben anglophonen auch deutsche, französische und skandinavische Werke erfassen und bis zurück in die Antike reichen. 1996 nimmt sich Michael Köhler die Mahlzeitenmotivik im Prosawerk Thomas Manns vor, 1998 verfasst Kurt Jauslin eine Untersuchung zum Essen und Trinken im Werk Arno Schmidts. Einen literarisch-kulinarischen Streifzug durch die Weltliteratur unternimmt Bernhard Wördehoff 2000. An Das andere Essen, nämlich den Kannibalismus in der Literatur wagen sich die Autoren in Daniel ← 13 | 14 → Fuldas und Walter Papes Band (2001). Beiträge zu so unterschiedlichen Facetten wie die römische Kulinarik, mittelalterliche literarische Trink- und Tischszenen, Schlaraffenland-Darstellungen in Bild und Text oder lyrische Repräsentationen des Essens bei Johann Heinrich Voss und Eduard Mörike versammeln Hans-Wolf Jäger et al. in Genußmittel und Literatur (2003). Christa Grewe-Volpp gibt im selben Jahr in einem Band mit dem griffigen Titel Erlesenes Essen literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zur Signifikanz des Essens heraus, hauptsächlich in englischsprachiger, aber auch in russischer und deutscher Literatur. 2005 knüpft Cordula Hupfer an Wetzels Dissertation von 1972 an und promoviert über die kulinarische Metaphorik im Werk Heines, Angela Wendt untersucht Goethes Werk auf seine Essensinszenierungen (2006), und Volker Neuhaus gibt zusammen mit Anselm Weyer einen Band zum Essen und Trinken bei Günter Grass heraus (2007). Die Autoren in Claudia Lillges und Anne-Rose Meyers Band Interkulturelle Mahlzeiten (2008) schauen gattungs- und epochenübergreifend in die literarisch gestalteten Küchen und Töpfe verschiedener Kulturen, und Corinna Ott spürt identitätsbildende Aspekte des Essens in der deutsch-türkischen Migrationsliteratur auf (2012).

In der deutschsprachigen Forschung sind darüber hinaus Untersuchungen zu Repräsentationen des Essens in der russischen (Kuštevskaja 2003), irischen (Schneider 2004) und US-amerikanischen Literatur (Gladisch 2008) erschienen. Eine Fülle an Publikationen liefert auch und besonders die englischsprachige Forschung. Hier versammeln sich Arbeiten zu Formen und Funktionen des Essens in der griechischen Komödie (Wilkins 2000), in der römischen (Gowers 1997), klassisch arabischen (van Gelder 2000) und altenglischen Literatur (Magennis 1998), in Texten der Renaissance (Fitzpatrick 2010), in italienischen (Biasin 1993, Moudarres 2010), japanischen (Aoyama 2008) und US-amerikanischen Werken (Drews/Elbert 2009, Piatti-Farnell 2011, Warnes 2004), in der Literatur US-amerikanischer Minderheiten (Xu 2008, Mannur 2009, Dalessio 2012) und in der postkolonialen und Migrationsliteratur (Canepari/Pessini 2012).

Einige Studien ziehen die Kreise weiter über die Grenzen und widmen sich Repräsentationen des Essens in der europäischen (Wilkins 1995) und der Weltliteratur (Crick 2006, Mahar 2010, Delville 2007), andere konzentrieren sich auf kulinarische Inszenierungen in bestimmten ← 14 | 15 → Textsorten wie Fantasy und Science Fiction (Westfahl et al. 1996) oder im Werk einzelner Autoren wie Shakespeare (Fitzpatrick 2007) und Ernest Hemingway (Rogal 1997). Zu verzeichnen ist außerdem eine wachsende Anzahl von Untersuchungen zu literarischen Konstruktionen von Weiblichkeit im Kontext des Essens (Sceats 2000, Silver 2002, Heller/Moran 2003, Adolph 2009, McLean 2012).

Insgesamt lässt sich ein rasanter Anstieg des wissenschaftlichen Interesses am literarischen Potenzial kulinarischer Repräsentationen beobachten. Immer neue Aspekte von fiktiven Essensinszenierungen werden beleuchtet, immer neue Studien bereichern den literaturwissenschaftlichen Diskurs. Das Feld scheint gut beackert, mit originellen methodischen Zugriffen, interdisziplinären Ansätzen und auf der Grundlage verschiedener Textsorten.

Ein Bereich hat an diesem in den letzten Jahrzehnten erblühenden Forschungsfeld allerdings kaum teilgenommen – die Wissenschaft der Kinder- und Jugendliteratur9. Dass sie, zumindest im deutschsprachigen Raum, kaum mitmischt und weitgehend abseits des lebhaften Diskurses steht, erstaunt umso mehr, als das Essen besonders in kinderliterarischen Texten allgegenwärtig ist – mal in leisen Tönen, mal mit warnendem Zeigefinger, mal in der enthusiastischen Beschreibung opulenter Speiseszenen. Schon unter den kinderliterarischen Texten des 18. Jahrhunderts finden sich auffällig viele Näschergeschichten, später strotzen Grimms Kinder- und Hausmärchen vor Festmahlen, zauberhaftem Essen und sinnlichen Verlockungen, ein Klassiker auch Heinrich Hoffmanns Suppen-Kaspar, abenteuerlich die geschmorten Bärentatzen und exotischen Festmahle bei Karl May, legendär die Essorgien in Pippi Langstrumpf, kulinarisch ← 15 | 16 → umrahmt der Räuber Hotzenplotz, ohne Essen keine Nöstlinger-Charaktere wie Jasper oder Gretchen und nie versiegend die kinderliterarischen Schlaraffenland-Variationen.

Gerade für den Raum des Kindlichen scheint das Essen eine besondere Wirkung zu entfalten und weltkonstituierend zu sein. Das illustriert auch eine berühmte Passage aus der Weltliteratur: In der Madeleine-Episode aus Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit fungiert der Geschmack eines durchweichten Stücks Madeleine als Auslöser eines multisensorischen Erlebens und ruft lebendige Erinnerungen an die Kindheit hervor.10

Die enge Verbindung von sinnlichen Essenseindrücken und dem Reich der Kindheit fordert eine Untersuchung von kulinarischen Inszenierungen in der Kinder- und Jugendliteratur geradezu heraus. Was die US-amerikanischen Wissenschaftler Kara Keeling und Scott Pollard in ihrem 2009 veröffentlichten Band Critical Approaches to Food in Children’s Literature konstatieren, lässt sich mit einem Ausrufezeichen versehen: “Food Is Fundamental to Children’s Literature”! (10) Der Sammelband ist – neben der schwedischen Publikation Läckergommarnas Kungarike. Om Matens Roll i Barnlitteraturen11 (Bergstrand et al. 1999) – eine Pionierveröffentlichung. Er beleuchtet die akademisch bislang vernachlässigte Essensmotivik in der Kinder- und Jugendliteratur in facettenreichen Beiträgen. Mit einer Vielzahl von methodischen Ansätzen zeigen die Autoren an englischsprachigen kinderliterarischen Texten vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, wie vielschichtig das Essen als literarischer Signifikant operiert und welch zentraler Platz ihm in der Forschung zusteht.

Die Herausgeber haben zehn Jahre zuvor schon einen Artikel zu Essen, Macht und Selbstbestimmung bei Maurice Sendak und Henrik Drescher publiziert (Keeling/Pollard 1999) und sich damit in eine Reihe von Zeitschriftenbeiträgen zum Thema Essen in der Kinder- und Jugendliteratur eingereiht. Den Anstoß hat Wendy Katz 1980 mit ihrem klugen und weitsichtigen Artikel Some Uses of Food in Children’s Literature gegeben, in dem sie formuliert:← 16 | 17 →

Children’s literature is filled with food-related images, notions, and values: hospitality, gluttony, celebration, tradition, appetite, obesity. Food comes to play, for reasons as fascinating as they are obvious, a unique and significant role in this literature. (1980: 192)

In Klassikern der englischsprachigen Kinderliteratur wie Alice in Wonderland, The Wind in the Willows, The Lion, the Witch and the Wardrobe, The Hobbit oder The Adventures of Huckleberry Finn entlarvt Katz Repräsentationen des Essens als Mittel zur Gestaltung der kindlichen Welt, als Ausdruck der Anpassung an gegebene Normen und der Rebellion dagegen. Weiter beschreibt Katz die Tragweite der kinderliterarischen Essensinszenierungen:

[…] understand the relations between the child and food […] and you understand the workings of the world of the young. This perspective of children’s literature yields a sort of sociology of childhood; an examination of what’s eaten, by whom, when, and where gives one a portrait of children’s manners, problems, and preoccupations. (ebd.: 192)

Essensrepräsentationen als Schlüssel zu Kindheitskonstruktionen – Katz zeigt hier einen neuen Weg in den Kindheitsdiskurs und zugleich ein Forschungsdesiderat auf, ohne es in ihrem nur acht Seiten langen Artikel vertiefen zu können.

Details

Seiten
336
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653047189
ISBN (ePUB)
9783653980585
ISBN (MOBI)
9783653980578
ISBN (Hardcover)
9783631654811
DOI
10.3726/978-3-653-04718-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Schlagworte
Kunstmärchen Robinson der Jüngere Schlaraffenland Volksmärhcen
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 336 S.

Biographische Angaben

Sonja Jäkel (Autor:in)

Sonja Jäkel studierte Anglistik und Germanistik. Nach Lehrtätigkeiten an Universitäten und Schulen in Deutschland, England und Frankreich forschte sie an der Humboldt-Universität zu Berlin im Bereich Historische Kinder- und Jugendliteratur. Zurzeit arbeitet sie als Referentin für die Kultusministerkonferenz.

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