Lade Inhalt...

Befähigen, befähigt werden, sich befähigen – Eine Auseinandersetzung mit dem Capability Approach

Gerechtigkeitstheoretische Überlegungen zur Sozialen Arbeit

von Miriam Lange (Autor:in)
©2014 Dissertation 190 Seiten

Zusammenfassung

Ressourcenorientierung, Empowerment und Befähigung als Konzepte der Wertschätzung der Fähigkeiten von AdressatInnen finden in der Pädagogik zunehmend Beachtung. In diesen Diskurs reiht sich der Capability Approach ein. Der gerechtigkeitstheoretische Ansatz – vom Ökonomen Amartya Sen für die Armutsforschung entwickelt und von Martha Nussbaum sozialphilosophisch erweitert – wird zunehmend interdisziplinär rezipiert. Es geht darum, wie es Menschen gelingen oder möglich gemacht werden kann, das Leben so zu führen, wie sie es selbst wünschen. Die Studie geht der Frage nach, welche Handlungsmaximen für Pädagogik und Soziale Arbeit aus dem Verständnis von Befähigung abgeleitet werden können, untersucht den Capability Approach als eine Referenztheorie dafür und bestimmt Soziale Arbeit als Gerechtigkeitsprofession.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 2. Der Capability Approach
  • 2.1 Einführung
  • 2.2 Grundlagen: Amartya Sens Capability Approach
  • 2.2.1 Exkurs: John Rawls
  • 2.2.2 Capability als Ausdruck von Freiheit
  • 2.3 Vertiefung: Martha C. Nussbaums Capabilities Approach
  • 2.3.1 Exkurs: Aristotelische Grundlagen
  • 2.3.2 Die Rolle der Menschenwürde/Liste der zehn Grundfähigkeiten
  • 2.3.3 Der CA als politische Forderung
  • 2.3.4 Das gute Leben
  • 2.3.5 Fähigkeitentypen
  • 2.3.6 Grundfähigkeiten – Menschenrechte
  • 2.3.7 Die Grenzen der Gerechtigkeit
  • 2.4 Resümee
  • 3. Soziale Gerechtigkeit
  • 3.1 Einführung
  • 3.1.1 Verteilungsgerechtigkeit
  • 3.1.2 Bedarf, Verdienst und Gleichheit nach David Miller
  • 3.1.3 Aristoteles’ Gerechtigkeitsvorstellung
  • 3.2 Vertiefung
  • 3.2.1 Gleichheit – Egalitarismus
  • 3.2.2 Exkurs: Michael Walzer
  • 3.2.3 Chancengleichheit
  • 3.2.4 Freiheit – Liberalismus
  • 3.3 Der Capability Approach als Einung von Egalitarismus und Liberalismus
  • 3.3.1 Amartya Sens Perspektive
  • 3.3.2 Martha Nussbaums Perspektive
  • 3.4 Resümee
  • 4. Der Capability Approach als Referenztheorie für die Pädagogik
  • 4.1 Annäherung
  • 4.2 Soziale Arbeit und Gerechtigkeit
  • 4.2.1 Soziale Arbeit, ihr Selbstbild und die Abhängigkeit von der Sozialpolitik
  • 4.2.2 Befähigung und der aktivierende Sozialstaat
  • 4.2.3 Normatives Handeln
  • 4.3 Nutzen des Capability Approach für die Soziale Arbeit
  • 4.3.1 Reflexion theoretischer Anknüpfungspunkte
  • 4.3.2 Normativität und Tripelmandat am Beispiel der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession
  • 4.3.3 Soziale Arbeit als Instanz der Befähigung
  • 4.3.4 Bezüge zu pädagogischen Konzepten
  • 4.3.5 Praxisbezug: Übertragung der Überlegungen auf das Projekt Stadtteilmütter Berlin-Neukölln
  • 4.4 Resümee: Befähigen, befähigt werden, sich befähigen
  • 5. Kritische Betrachtung des Capability Approach
  • 6. Fazit und Ausblick
  • 7. Literaturverzeichnis
  • 8. Abbildungsverzeichnis
  • 9. Anhang Flyer des Projekts Stadtteilmütter Berlin-Neukölln

| 7 →

1. Einleitung

Fragen und Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit sind nahezu allgegenwärtig, denn seit es Menschen gibt – und überall dort, wo sie in einer Gruppe zusammenkommen – sind sie eine notwendig auszuhandelnde Angelegenheit. Soziale Gerechtigkeitsfragen weisen eine immerwährende Aktualität auf, die je nach Ort, Kultur und Zeitgeist etwas variierende Gegenstände hat.

Die ersten umfassenden schriftlichen Zeugnisse davon gehen auf Platon und dessen Schüler Aristoteles zurück und sind – obschon deren Gerechtigkeitsvorstellungen durch antike Strukturen geprägt waren – als Klassiker in die Geistes- und Sozialwissenschaften eingegangen. Platon und Aristoteles sprachen jedoch noch nicht von sozialer Gerechtigkeit, wie wir den Begriff heute kennen und anwenden; dieser wurde viel später im 19. Jahrhundert von der christlichen Sozial­ethik geprägt (vgl. Höffe 2005, S. 3; Ebert 2010, S. 74). „‚Soziale Gerechtigkeit‘, nicht die Sache, wohl aber das Wort, war etwas Neues, das erst um die Jahrhundertwende [vom 19. ins 20.] in unseren Sprachgebrauch eindrang; wie alles Neue mußte sie um ihre Anerkennung, um ihr Daseinsrecht ringen“ (Nell-Breuning, v. 1980, S. 340). Wenngleich die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit sich heute großer Zustimmung sicher sein kann und als stets gültiges Ideal anerkannt wird, ist sie jedoch keineswegs endgültig ausbuchstabiert, und so herrschen die unterschiedlichsten Vorstellungen davon, durch welche Prinzipien sie sich konstituiert und wie sie auszugestalten sei (vgl. Ebert 2010, S. 15).

Gerechtigkeitsfragen resultieren meist aus Problemstellungen, die gegenwärtig in Entgrenzungen der Moderne (vgl. Thiersch 2006, S. 33), der Pluralisierung von Lebensbedingungen und -lagen, einer hohen Erwerbslosigkeit, leeren Staatskassen, dem Umgang mit steigenden Migrationszahlen und wachsenden Schieflagen im Bildungssektor begründet liegen. Die staatliche Reaktion auf knappe Kassen besteht im Bereich der Sozialpolitik in einer „Aktivierung“, das heißt in einer Zuschreibung größerer Selbstverantwortlichkeit der BürgerInnen.

Für die Soziale Arbeit, deren Zielgruppe sich aus Personen zusammensetzt, welche von besagten Problemstellungen betroffen sind, ergeben sich damit neue Herausforderungen. „Gerade in Zeiten knapper öffentlicher Kassen sind die öffentlichen Kostenträger sozialarbeiterischer Leistungen und Projekte bestrebt, die Selbsthilfeorientierung stärker als zuvor einzufordern. Je schneller hilfsbedürftige Personen wieder ohne Hilfe auskommen, desto effizienter (also kostengünstiger, wirtschaftlicher) erscheint Soziale Arbeit“ (Kleve 2006, S. 114). Zu der ← 7 | 8 → Erschöpfung finanzieller (Förder-)Mittel des Sozialstaats und dem damit einhergehenden Effektivitätsdruck gesellen sich Anstrengungen um Anerkennung und die Überwindung ihres Rufes als soziale „Handlangerin“, der lediglich eine Zuarbeiterfunktion für den Staat und andere Disziplinen und Professionen zukomme. Soziale Arbeit hat es „in der Regel mit Problemen zu tun, die die anderen Professionellen nicht, nicht mehr oder noch nicht bearbeiten können. […] Genau dies kennzeichnet einen Aspekt der Postmodernität Sozialer Arbeit: Diese Profession sprengt die modernen Prinzipien der Spezialisierung und Differenzierung zugunsten von Generalismus und Entdifferenzierung. Denn nur so kann sie die Probleme bearbeiten, die ihre Entstehung notwendig gemacht haben, nämlich jene Probleme, welche die Moderne mit ihrem Fortschreiten und auf Grund ihrer Logiken immer wieder produziert, ohne dass sie selbst nachhaltige Lösungen anbieten kann“ (Kleve 2006, S. 113; Herv. im Original).

Damit sieht sich Soziale Arbeit zweierlei Problematiken gegenüber: sowohl einem Ökonomisierungs- und Effektivitätsdruck, als auch einem Identitätsdruck. Um sich dem entgegenzusetzen, benötigt die Soziale Arbeit eine gute begründungstheoretische Fundierung und adäquate Handlungsoptionen.

Bezogen auf ihre AdressatInnen hat sie „entweder die Möglichkeit, sich für die weitere Etablierung einer Mitleidsökonomie und vermehrter Disziplinierungsstrategien vereinnahmen zu lassen. Oder sie problematisiert im Sinne einer professionellen Reflexivität diese systematischen Verkürzungen und kämpft um alternative Perspektiven, deren Ziel eine Erweiterung oder zumindest Öffnung von bisher nicht zugänglichen Handlungsmöglichkeiten der AdressatInnen sein sollte“ (Kessl/Klein/Landhäußer 2012, S. 546).

In diesem Zusammenhang gewinnt eine Orientierung an den Ressourcen der AdressatInnen an Bedeutung (vgl. Kleve 2006, S. 114). Befähigung ist einer der aktuellen theoretischen Schlüsselbegriffe und steht für den Einbezug und die Stärkung der AdressatInnen zu mehr Handlungsfähigkeit und Autonomie. Der Capability Approach, ein gegenwärtig diskutiertes Gerechtigkeitskonzept, eint in seiner theoretischen Perspektive Befähigung unter den verschiedenen Aspekten von sozialer Gerechtigkeit, Autonomie, Menschenwürde, Chancen und Zugängen. Verschiedenen Bedürfnissen und Lebenslagen begegnet der Capability Approach mit dem Anspruch einer Befähigungsgerechtigkeit. Kann der Capability Approach einen Impuls geben für die gegenwärtige Übergangsphase der Sozialen Arbeit, die durch sozialstaatliche Aktivierungspolitik gekennzeichnet ist? Kann der Capability Approach Leerstellen bisheriger Gerechtigkeitskonzepte ausfüllen? Und kann der Capability Approach zu einer Fundierung und Verbesserung der Handlungskompetenz der Sozialen Arbeit in Bezug auf individuelle Befähigung beitragen?

← 8 | 9 →

Diesen Fragen geht die vorliegende Arbeit nach und klärt zunächst konzeptuelle und begriffliche Grundlagen des Capability Approach. Vor dem Hintergrund sozialer Gerechtigkeit – und in Abgrenzung zu „traditionellen“ Gerechtigkeitsideen – soll der Capability Approach anschließend daraufhin geprüft werden, welche Maßstäbe und Impulse er für die Theorie und Praxis Sozialer Arbeit liefern kann. Dabei sollen charakteristische Eigenschaften herausgestellt werden, die vor allem den Befähigungsaspekt in den Blick nehmen.

| 11 →

2. Der Capability Approach

Der Capability Approach wird im folgenden Kapitel als zentraler theoretischer Anker dieser Arbeit vorgestellt. Er kann als gerechtigkeitstheoretisches Konzept verstanden werden, das einen unverstellten Blick auf die Vielfalt menschlicher Bedürfnisse richten und jedem Menschen ein im – wie darzustellen sein wird – aristotelischen Sinne gutes Leben zu ermöglichen beabsichtigt. Der Capability Approach sieht dabei klassischerweise die jeweilige politische Organisationsform als Trägerin der sozialen Verantwortung für die BürgerInnen einer Gesellschaft vor, damit diese ein gelingendes Leben führen können; er nimmt Menschen jedoch auch als handelnde Subjekte wahr, die eigene, individuelle Vorstellungen und Lebensentwürfe verfolgen. Ausgangsbasis der Überlegungen, was ein als gut empfundenes Leben begünstigt, ist im Capability Approach die Möglichkeit der Realisierung von Lebensentwürfen und nicht – wie herkömmlicherweise häufig von Gerechtigkeitstheoretikern proklamiert – ausschließlich das ausreichende Vorhandensein oder die gerechte Verteilung materieller Güter (Dabrock 2008, S. 17ff; Heinrichs 2008, S. 58).

Der Capability Approach hat in den letzten Jahren auch in die Erziehungswissenschaft Einzug gehalten und wird dort vielfach diskutiert und zunehmend theoretisch rezipiert, wie eine Vielzahl an aktuellen Publikationen zeigt. Die Beschäftigung mit einer Gerechtigkeitstheorie liegt somit für die Soziale Arbeit neben ihren gegenwärtigen Umbrüchen auch angesichts der Tatsache nahe, dass sie sich hauptberuflich auch mit sozial schwächer gestellten Mitgliedern der Gesellschaft beschäftigt. Gerechtigkeit steht zweifelsohne – wie in der Einleitung bereits angeschnitten – immer in Zusammenhang mit dem Zusammenleben von Menschen einer Gesellschaft. Und da ein breiter Konsens darüber besteht, dass eine gerechte Gesellschaft sich an ihren „schwächsten“ Mitgliedern bewährt (vgl. Dabrock 2008, S. 37), liegen die Gründe auf der Hand, sich aus Sicht der Pädagogik bzw. Sozialen Arbeit näher mit dieser Thematik beschäftigen zu wollen (vgl. Babic et al. 2011, S. 8).

Der Einfachheit halber wird der Capability Approach bzw. der Capabilities-Approach in den folgenden Ausführungen mit CA abgekürzt. Dies ist auch insofern von Nutzen, da es – sowohl im deutsch- als auch im englischsprachigen Raum – keine einheitliche Festlegung des Begriffes gibt.1

Details

Seiten
190
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653047233
ISBN (ePUB)
9783653980660
ISBN (MOBI)
9783653980653
ISBN (Hardcover)
9783631654774
DOI
10.3726/978-3-653-04723-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Juli)
Schlagworte
Gerechtigkeitstheorie Verteilungsgerechtigkeit Egalitarismus Sozialstaat Liberalismus
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 190 S., 3 s/w Abb.

Biographische Angaben

Miriam Lange (Autor:in)

Miriam Lange hat an der Universität Tübingen Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Sozialpädagogik studiert. Sie verfügt über vielseitige Erfahrungen in verschiedenen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit.

Zurück

Titel: Befähigen, befähigt werden, sich befähigen – Eine Auseinandersetzung mit dem Capability Approach
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
192 Seiten