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Nomadisches Schreiben nach dem Zerfall Jugoslawiens

David Albahari, Bora Ćosić und Dubravka Ugrešić

von Diana Hitzke (Autor:in)
©2014 Dissertation 468 Seiten
Reihe: Slavische Literaturen, Band 46

Zusammenfassung

Nach dem Zerfall Jugoslawiens legen David Albahari, Bora Ćosić und Dubravka Ugrešić Texte vor, die sich als nomadisches Schreiben bezeichnen lassen. Sie handeln von der Migration der Protagonist_innen und stellen Bewegungen durch literarische Verfahren her. Kulturelle Transformationen und Destabilisierungsprozesse bilden nicht nur den Hintergrund der Texte, sie sind auch Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung. Das Nomadische – ein Gilles Deleuze und Félix Guattari entlehnter und für die literarische Analyse fruchtbar gemachter Begriff – wird in der Analyse der Texte sichtbar. Schwerpunkte liegen auf den intermedialen Bewegungen zwischen Tonband und Text bei Albahari, der Imagination einer Gemeinschaft der Staatenlosen bei Ćosić sowie einer Kartografie des Fragments bei Ugrešić.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Zielsetzung der Arbeit
  • 1. Nomadisches Schreiben
  • 1.1 Nomad_innen: Lebensformen. Denkweisen. Bewegungsmuster
  • 1.1.1 Kenneth White: Intellektuelle Nomad_innen
  • 1.1.2 Die „Nomadologie der Neunziger“
  • 1.2 Nomad_innen in der Welt und der_die Nomad_in als Begriffsperson
  • 1.3 Postjugoslawischer Nomadismus
  • 1.4 Schwerpunkte der bisherigen Forschung zu Albahari, Ćosic und Ugrešić
  • 1.5 Transregionale Kartografien (in) der Literatur
  • 1.6 Die Entfaltung des Nomadischen
  • 1.7 Nomadismus und Melancholie
  • 2. Kroatin-Werden? Schriftstellerin-Werden! Hund-Werden. Figurationen des Werdens bei Deleuze und Guattari, Ugrešić und Ćosić
  • 2.1 „Ich beneide den ‚westlichen‘ Schriftsteller.“
  • 2.2 Majorität/Minorität
  • 2.3 Kroatin-Werden?
  • 2.4 Schriftstellerin-Werden!
  • 2.5 Hund-Werden in Carinska Deklaracija
  • 2.6 Exkurs: „Wie ein Hund“ bei Ugrešić
  • 2.7 Hund-Werden und Autor_innenschaft
  • 3. Mamac
  • 3.1 Zwischen Tonband und Text
  • 3.1.1 Die Erzählung vom Band – „Mutter: Das Leben“
  • 3.1.2 „Womit soll ich anfangen“ – zwischen Tonband und Text
  • 3.1.3 Oralität und Literarität
  • 3.1.4 (Intermediale) Bewegungen im Text
  • 3.1.5 Unheimliches: Die Stimme der Mutter als Tonbandstimme
  • 3.1.6 De- und Reterritorialisierungen durch das Tonbandmaterial
  • 3.2 Wie schreiben? Die Auseinandersetzung des Erzählers mit Donald
  • 3.3 „… kao puž iz kojeg dopire huk nepostojećeg mora“
  • 3.4 Simultanität der Geschichte(n)
  • 3.4.1 Verzahnung der Geschichte(n): Unterschiedliche Zeitebenen als „Parallelwirklichkeiten“
  • 3.4.2 Verschiedene Geschichtsmodelle
  • 3.4.3 Geschichte erinnern oder erzählen? – Was machen (Auto)biograf_innen?
  • 4. Kontexte des Schreibens
  • 4.1 Das autobiografische Moment zwischen De-Facement und Gesichtsmaschine
  • 4.1.1 Das „Geben und Nehmen von Gesichtern“
  • 4.1.2 Die Gesichtsmaschine
  • 4.2 Mapping des „Balkans“: David Albahari, Bora Ćosić und Dubravka Ugrešić im deutschen Feuilleton
  • 4.2.1 David Albahari: „kein serbischer […], kein jüdischer […], kein nordamerikanischer Autor“
  • 4.2.2 Bora Ćosić: „immer ernster und trauriger“
  • 4.2.3 Dubravka Ugrešić: „ein literarischer Störfall“
  • 4.3 Eine Kleine Literatur
  • 5. Nulta zemlja
  • 5.1 „Jer kad bi svaki čovek […] uspeo da odbrani svoju kuću od sopstvene zemlje […]“
  • 5.2 „O meine Freunde, es gibt keinen Freund“
  • 5.3 (K)eine Gemeinschaft der Staatenlosen
  • 5.4 Über sich selbst schreiben
  • 6. Nach dem Zerfall: Ansammeln und Aufzählen
  • 6.1 Karten und Mapping in David Albaharis Mamac und Snežni čovek
  • 6.1.1 Eine alte Europakarte, ein historischer Atlas und Karten an den Wänden
  • 6.1.2 Karten. Mapping
  • 6.1.3 Karte und Anti-Gedächtnis
  • 6.2 Ansammeln und Aufzählen: Enumerative Verfahren bei Albahari, Ćosić und Ugrešić
  • 6.2.1 Die zählende Zahl und das Aufzählen
  • 6.2.2 Zählen und Aufzählen
  • 6.2.3 Liste als Schrift/Bild
  • 6.2.4 Serie
  • 6.2.5 Liste und Archiv
  • 6.2.6 Bibliothek und Liste in Ćosićs Nulta zemlja
  • 6.2.7 Die Liste in Ćosićs Carinska deklaracija
  • 6.2.8 Das Wörterbuch in Ugrešićs Američki Fikcionar
  • 6.3 Die nomadische Installation: Muzej bezuvjetne predaje
  • 6.3.1 Museum/Archiv
  • 6.3.2 Bisherige Lektüren
  • 6.3.3 Die bedingungslose Installation
  • 7. Schluss
  • Literaturverzeichnis
  • Siglen
  • Literatur
  • Zeitungsartikel
  • Register
  • Dank

Zielsetzung der Arbeit

Während des und nach dem Zerfall Jugoslawiens entstehen von unterschiedlichen Autor_innen, die das ehemalige Jugoslawien verlassen haben – David Albahari, Bora Ćosić und Dubravka Ugrešić –, Texte mit ähnlichen Schreibstrategien und Themen sowie mit autobiografischen Bezügen. Snežni čovek und Mamac, Carinska deklaracija und Nulta zemlja sowie Američki fikcionar, Kultura laži und Muzej bezuvjetne predaje sind in Ich-Perspektive geschrieben und handeln einerseits von der Ausreise aus dem ehemaligen Jugoslawien sowie vom ehemaligen Leben dort und andererseits vom Leben in einem anderen Land oder in einer anderen Stadt. Damit sind Diskurse des Eigenen und des Fremden, die Thematisierung von Gegenwärtigem und Vergangenem (damit verbunden auch Erinnerung und Gedächtnis) sowie ein Leben der Protagonist_innen in einem Zustand des Dazwischen bzw. des Inbetween in den Texten präsent. Sie schreiben sich somit in Narrative von Exil und Migration ein, was von der Forschung auf vielfältige Art und Weise berücksichtigt worden ist, gehen aber, und das ist für diese Arbeit entscheidend, in vieler Hinsicht darüber hinaus. Nicht die Opposition zwischen einem ‚Herkunfts-‘ und einem ‚Gastland‘, nicht die Sehnsucht nach dem Vergangenen und Verlorenen steht in den Texten im Vordergrund, sondern verschiedene Fluchtlinien, die auf produktive Art und Weise komplexe Beziehungen und multipolare Verortungen sichtbar machen. Diese Fluchtlinien können mit der Figur des_der Nomad_in be- und umschrieben werden.

Ziel meiner Arbeit ist es daher, die Texte aus der Perspektive des Nomadischen zu betrachten. Dazu gibt es in der bisherigen Forschung zwar einige Ansätze, allerdings noch keine ausführlichen und systematischen Analysen. Im ersten Kapitel analysiere ich verschiedene Diskurse des Nomadischen, um zu zeigen, welche konkreten Vorteile Deleuzes und Guattaris ‚Nomadologie‘ gegenüber anderen Bestimmungen des Nomadischen und der Nomad_innen hat. Dass diese Theorie darüber hinaus sehr gut mit den in den Texten entfalteten Diskursen korrespondiert, wird im zweiten Kapitel herausgearbeit, in dem ich mit der Kategorie des Werdens, das weder als Identifizierung noch als bloße Nachahmung gedacht wird – vor allem nicht im Sinne von Identitäten –, zeige, wie das Kroatin-Werden, das Schriftstellerin-Werden sowie das Hund-Werden in den Texten von Bora Ćosić und Dubravka Ugrešić gestaltet wird und welche ← 11 | 12 → Effekte damit erzielt werden. Hier gehe ich von den Überlegungen zum ‚Werden‘ bei Deleuze und Guattari aus und beziehe diese auf verschiedene Texte. Im dritten Kapitel steht eine ausführliche Analyse von David Albaharis Mamac im Zentrum meiner Ausführungen. Dabei arbeite ich vor allem den Diskurs des Unheimlichen heraus, der als Grenzbereich der im Text verhandelten De- und Reterritorialisierungsbewegungen aufgefasst werden kann. Textuelle Bewegungen sind in Mamac auf äußerst unterschiedliche und vielfältige Art und Weise präsent: Sie manifestieren sich zwischen Protagonist, Erzähler und Mutter (was ich in der Analyse des ersten Satzes herausarbeite), zwischen Tonband und Text und damit auch zwischen Oralität und Literarizität, zwischen verschiedenen Zeitebenen, zwischen verschiedenen Orten. Es geht aber auch um die ganz konkreten Migrationsbewegungen der Mutter durch das ehemalige Jugoslawien während und nach dem Zweiten Weltkrieg sowie um die Ausreise des Protagonisten nach Kanada.

Im vierten Kapitel betrachte ich, indem ich erneut die Texte aller drei Autor_innen einbeziehe, die Kontexte des Schreibens. Dabei verbinde ich die Frage der autobiografischen Bezüge mit der Rezeption der Texte in (Literatur-)Wissenschaft und Feuilleton. Die Figur der Prosopopoiia, die Paul de Man als die Figur der Autobiografie beschreibt, bei der es um das Geben und Nehmen von Gesichtern geht, bringe ich mit Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Überlegungen zum Gesicht als Projektionsfläche des molaren6 Diskurses in Verbindung. Die Rezeption der Texte, aber auch die Diskurse innerhalb der Texte, die ein ‚Othering‘, eine ‚Balkanisierung‘ der Protagonist_innen bzw. des ehemaligen Jugoslawiens thematisieren, können vor diesem Hintergrund als Mapping des ‚Balkans‘ gelesen werden, als gewaltsame Territorialisierung der textuellen Bewegungen und Fluchtlinien auf das Gesicht einer Person bzw. auf ein Gebiet. Dass die Sprache der Texte selbst – gerade auch in Hinblick auf die Veränderung der Sprache(n) in den Nachfolgestaaten – eine stark deterritorialisierende Wirkung hat, beschreibe ich in Bezug auf das Konzept der ‚Kleinen Literaturen‘, das von Deleuze und Guattari entworfen worden ist.

Im fünften Kapitel, einer Analyse von Bora Ćosićs Nulta zemlja, zeige ich, wie hier Fragen der Zugehörigkeit und Verortung, die während des Zerfalls Jugoslawiens durch die mögliche Diskrepanz zwischen Staatsangehörigkeit und ethnischer Zugehörigkeit eine Rolle spielen, auf komplexe Art und Weise ← 12 | 13 → ausgehandelt werden. Durch metonymische Verschiebungen zwischen Subjekt, Haus und Land sowie durch die Gleichzeitigkeit der Anrufung einer Gemeinschaft und der Forderung, sich vor dem Land zurückzuziehen, steht – so zeige ich mit Bezug auf Michel Foucault, Giorgio Agamben und Jacques Derrida – das Politische selbst auf dem Spiel. Dadurch wird die gewaltsame Gründungsgeste von Staat und Gemeinschaft sichtbar gemacht.

Im sechsten Kapitel gehe ich auf die vielfältigen Ansammlungen und Aufzählungen ein, die die untersuchten Texte prägen. Durch den Fokus auf die dort verhandelten Praktiken und Institutionen – Karte, Liste, Wörterbuch, Museum, Bibliothek, Aufzählung als textuelle Strategie – wird deutlich, dass diese eher einer Logik des Archivs entsprechen, dass sie eher als Ansammlungen und Aufzählungen, denn als Erinnerungsnarrative zu fassen sind. Damit wird – dies wird insbesondere in der Analyse der Karten bei Albahari, aber auch in Bezug auf den ‚Müll‘ bei Ugrešić deutlich – ein Anti-Gedächtnis installiert, das sich einer Vereinnahmung durch die molaren Erinnerungsdiskurse widersetzt, wenn es auch nicht davor bewahrt werden kann.

Durch das Nachzeichnen der unterschiedlichen Strategien nomadischen Schreibens werden vielfältige Fluchtlinien sichtbar: einerseits in Bezug auf Narrationen und Konstruktionen von Geschichte, Nationen und Identitäten, andererseits auch in Bezug auf verschiedene Mapping-Strategien. Die Texte von Albahari, Ćosić und Ugrešić sperren sich gegen eine einkerbende (Deleuze/Guattari) Verortung des Schreibens und der Personen zwischen den binären Polen hier und dort, jetzt und früher. ← 13 | 14 →

 

← 14 | 15 →

                                                   

  6  Bei Deleuze und Guattari ist „molar“ der Gegenbegriff zu minoritär und umfasst in unterschiedlichen Kontexten die Begriffsfelder Mehrheit, Macht, Zentrum und Hegemonie.

1. Nomadisches Schreiben

Nach meiner Vorstellung von dem, was man als die nomadische Literatur bezeichnen könnte, handelt es sich weder darum, eine Wissenschaft auszuarbeiten noch eine Geschichte zu erzählen, noch einen Zustand von Dingen widerzuspiegeln, sondern darum, Fährten zu folgen.7

Der Titel „Nomadisches Schreiben“ möchte sich nicht als Neuerfindung ausgeben. Bewegungen von Personen (Autor_innen, Erzähler_innen und Protagonist_innen) auf literarische Texte zu beziehen und damit textuelle Strategien mit einer spezifischen Art und Weise der Mobilität zu beschreiben, ist in der Literaturwissenschaft weit verbreitet.8 In meiner Dissertation möchte ich zweierlei leisten: Indem ich von Minhha Trinhs Beobachtung ausgehe, dass für einige Schriftsteller_innen das Schreiben und nicht ein Ort, zum eigentlichen Zuhause wird – „for a number of writers in exile, the true home is to be found not in houses but in writing“9 –, möchte ich mit dem Begriff des ‚Nomadischen Schreibens‘ ← 15 | 16 → Texte und Schreibweisen fassen, die ein solches „home […] in writing“ mit einem Zustand ständiger nomadischer Bewegung verbinden. Die Analyse der entsprechenden Texte von David Albahari, Bora Ćosić und Dubravka Ugrešić werde ich in enger Anlehnung an diesen Ausgangspunkt, aber auch mit fortwährendem Bezug auf die theoretische Zielsetzung der Arbeit vornehmen. Den Begriff des Nomadischen – und das ist die zweite Zielsetzung der Arbeit – möchte ich dabei, eng an Deleuze und Guattari angelehnt, parallel zur Textlektüre und -analyse ausarbeiten und auf das Schreiben beziehen.

Beginnen möchte ich mit der Analyse einer Textstelle aus Tausend Plateaus von Deleuze und Guattari, die eine der vielen Implikationen des Nomadischen zum Gegenstand hat und als Beispiel für ihr Verständnis des Begriffs dienen kann.

Die französischen Theoretiker erläutern die Unterschiede zwischen der nomadischen Wissenschaft und der Königswissenschaft anhand der Praxis der Konstruktion von gotischen Kathedralen und dem Brückenbau im 18. und 19. Jahrhundert. Die nomadische Wissenschaft bezieht sich auf einen offenen, einen „glatten Raum“ (TP 495), der im Gegensatz steht zum „eingekerbten Raum“ (TP 495). Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Arten des Bauens besteht darin, dass im Fall der Kathedralen die Steine variiert und einander angenähert werden, während der Brückenbau auf Schablonen und Plänen beruht (vgl. TP 500f.).

Dem Plan des gotischen Baumeisters, der direkt auf den Boden gezeichnet wurde, steht der metrische Plan des Architekten auf dem Papier, außerhalb der Baustelle gegenüber. […] Der Abvierung von Steinen steht das Steinschneiden mit Hilfe von Schablonen gegenüber, was die Schaffung eines reproduzierbaren Modells voraussetzt. […] Der Staat gibt den Intellektuellen oder den konzeptuellen Innovatoren keine Macht, er macht sie im Gegenteil zu einem stark abhängigen Organ, das nur im Traum über Autonomie verfügt, die aber ausreicht, um jenen jede Macht zu entziehen, die nur noch reproduzieren oder ausführen. (TP 506)

Während die nomadische Wissenschaft die entstehenden Probleme durch Handlungen löst, transformiert die Königswissenschaft das Problem (vgl. TP 514), sodass es nun in ihren Begrifflichkeiten und mittels der ihr eigenen Arbeitsteilung gelöst werden kann: Die Kathedralen wurden von Baumeistern ‚entworfen‘ und ‚gebaut‘, während die Brücken im 19. Jahrhundert zunächst entworfen wurden, ← 16 | 17 → das heißt, es wurden genaue Skizzen und Pläne erstellt, die von ‚unqualifizierten‘ Arbeitern nachgebaut werden konnten. Das Verhältnis zwischen nomadischer Wissenschaft und Königswissenschaft charakterisieren Deleuze und Guattari wie folgt:

[M]an braucht nur einen Raum, der eingekerbt und der Schwerkraft unterworfen ist, und es zeigen sich dieselben Phänomene, wenn dieselben Bedingungen gegeben sind oder wenn zwischen den unterschiedlichen Bedingungen und den variablen Phänomenen dieselbe konstante Beziehung entsteht. (TP 511)

Die Konstanz der Variablen und Bedingungen ist im Fall der postjugoslawischen Literatur nicht gegeben, sie ließe sich schon deswegen als nomadisch, ihr Raum als „glatt“ bezeichnen.10 Als „unterschiedliche Bedingungen“ lassen sich nennen: das Schreiben in einem anderen Land (in einem der postjugoslawischen Staaten oder in einem ganz anderen Land, vielleicht auch auf einem anderen Kontinent), das Sprechen einer anderen Sprache oder das Beibehalten der früheren Sprache(n), eine Zuneigung oder Abneigung gegenüber dem anderen Land, ein Einleben dort oder nicht, Sehnsucht nach dem früheren Land oder die Zufriedenheit darüber, es verlassen zu haben usw. Als ‚variable Phänomene‘ kann man Folgendes beschreiben: Jemand wechselt die Sprache beim Schreiben oder nicht, jemand schreibt über kulturelle Unterschiede oder nicht, jemand integriert sich beim Schreiben und schreibt nun zum Beispiel ‚wie ein_e Amerikaner_in‘ oder umgekehrt ‚wie ein_e Kroat_in‘, jemand wird nostalgisch oder revolutionär, jemand schreibt über die Vergangenheit oder nicht usw. All diese Bedingungen und Phänomene lassen sich – insbesondere in der Literatur – beliebig variieren und miteinander kombinieren und stellen nicht selten die ‚Schwerkraft‘ in Gestalt der Parameter Nation, Sprache und Kultur infrage.

Wie aber entwickelt sich eine konstante Beziehung „zwischen den unterschiedlichen Bedingungen und den variablen Phänomenen“ (TP 511), durch welche Ereignisse wird der Raum also eingekerbt? Um nomadische Schreibweisen erklärbar zu machen und sie den Einkerbungen des Raumes bzw. den bisherigen Paradigmen der Forschung anzupassen, wird in Bezug auf die nomadischen Autor_innen und Erzähler_innen ein oft biografisch oder durch ← 17 | 18 → historischpolitische, gesellschaftliche und auch geografische Veränderungen motivierter Bruch konstatiert, der in der Folge bestimmte Schreibweisen und Inhalte wiederum unter ähnlichen Parametern erklärbar macht. Es wird angenommen, dass sich, wenn die Bedingungen sich ändern (die Nation, die Sprache oder die Kultur gewechselt wird), auch andere Phänomene zeigen. Das ist häufig der Fall: Die kontrastierende Beschreibung von Europa und Nordamerika bzw. von Serbien und Kanada bei Albahari oder der Vergleich der amerikanischen und ost- bzw. ‚südosteuropäischen‘ Kultur bei Ugrešić zeigen sich erst nach deren Auswanderung, die als biografischer Bruch beschrieben werden kann. Dennoch muss auf eine biografische oder politische Veränderung nicht zwangsläufig im Schreiben reagiert werden, und wenn dies auf einer Ebene geschieht, können andere Ebenen davon unberührt bleiben. Von ‚konstanten Beziehungen‘ kann nur ausgegangen werden, wenn der Wechsel von einer Region in eine andere, als ein Austauschverhältnis, als eine bloße geografische Verschiebung betrachtet wird. Das ist allerdings schon im Fall einer eng definierten Exil- oder Migrationsliteratur so nicht haltbar, da es nicht nur durch den Erinnerungs-, sondern auch durch den Schreibprozess zu darüber hinausgehenden, komplexen Verschiebungen kommt, sodass es sich bereits als schwierig erweist, zwischen „den unterschiedlichen Bedingungen und den variablen Phänomenen“ (TP 511) überhaupt zu unterscheiden. Als weitere Schwierigkeit erweist sich, einen Punkt auszumachen, an dem sich ein Wechsel der Bedingungen und Phänomene und ihrer Beziehung zueinander feststellen ließe. Eine Fokussierung auf einen Bruch kann dazu führen, dass das oft parallele Weiterschreiben – im Fall Albaharis das Schreiben in Belgrad und in Kanada – und die oft gleichzeitige Rezeption als einerseits ‚Exil-‘ oder ‚Migrationsliteratur‘ und andererseits als Teil der lokalen Literatur (hier und dort) zugunsten eines Bruchs verkannt werden. Wird dieser Einschnitt zum entscheidenden Rezeptionskriterium, zur Analysekategorie, so geht damit oft einher, dass Autor_innen und Protagonist_innen gleichermaßen in einem Raum zwischen zwei Kulturen und in einer Zeit nach einem entscheidenden historischen Ereignis verortet werden. Wo lokalisiert sich zwischen diesen beiden Optionen das nomadische Schreiben?

Zunächst möchte ich jedoch noch kurz auf eine Argumentationslinie eingehen, die vor allem darauf zielt, national und monokulturell fixierte Sichtweisen aufzubrechen und ein neues Vokabular für Schreibweisen zu finden, die (selbstverständlich) etwas anderes tun, als sich nur auf eine Nation, eine Kultur, eine Literatur zu beziehen. Mit Ottmar Ette lassen sich Literaturen beschreiben, die sich als „Aufbrüche neuer transkultureller, translingualer und transarealer Bewegungsmuster jenseits der von Sprachverarmung geprägten Unterscheidung von ← 18 | 19 → National- und Weltliteratur“11 verstehen, ohne dass ein solches ZwischenWeltenSchreiben erneut zu einer „Fixierung einer neuen Kartographie des Literarischen mit einer damit verbundenen Ausweisung neuer literarischer Räume“12 führt. Dabei ist das Verhältnis zwischen transarealen Bewegungen und (trans)lokalen Praktiken entscheidend.13

Ette unterscheidet zwischen den drei Präfixen ‚multi-‘, ‚inter-‘ und ‚trans-‘ und beschreibt den unterschiedlichen Umgang im Bereich der Disziplinen, Kulturen, Sprachen, Medien, Zeiten, Räume und „(Reise-)Bewegungen“14 und die sich gemäß des jeweiligen Präfixes ergebenden Strukturierungen. Während ‚multi-‘ meist für ein Nebeneinander (der Kulturen, der Räume usw.) steht, geht es im Fall der Vorsilbe ‚inter-‘ zwar um ein Miteinander (der Disziplinen, der Sprachen usw.) und um eine intensive Kommunikation und Dialogizität, die so verbundenen Bereiche bleiben jedoch weiterhin klar voneinander unterscheidbar und definieren sich auch durch diese Differenz. ‚Trans-‘ verweist dagegen auf eine „beständige Querung unterschiedlicher Disziplinen“ (Transdisziplinarität), auf „unterschiedliche Kulturen querende Bewegungen und Praktiken“ (Transkulturalität), auf einen „unabschließbare[n] Prozeß ständiger Sprachenquerung“ (Translingualität), darauf, dass sich „unterschiedliche Medien in einem unabschließbaren Prozeß ständiger Bewegung, Kreuzung und ‚Übertragung‘ [durchdringen und queren]“ (Transmedialität), auf ein „Verweben von Zeiten“, das „eine höchst eigene Zeitlichkeit schafft“ (Transtemporalität), auf „Querungen und Kreuzungen verschiedenartiger Räume“ (Transspatialität).15 Vorgeschlagen wird eine transareale Wissenschaft, die nach Lebensräumen fragt und weder Nationen noch Kontinente bzw. Kulturräume zu Akteur_innen der Verhandlungen macht. Andererseits spielen aber auch in Texten, die sich gerade nicht national oder monokulturell verorten, die Parameter Nation, ← 19 | 20 → Kultur(raum) und Sprache eine Rolle. In Albaharis Texten geht es beispielsweise häufig um die Unterschiede zwischen Serbien und Kanada, zwischen Nordamerika und Europa, Ugrešićs Essays kreisen ständig um die Frage der Unterschiede zwischen einer kapitalistischen ‚westlichen‘ und einer ‚anderen‘ ‚ost- bzw. südosteuropäischen‘ Kultur. In Ćosićs Texten geht es in einem abstrakteren Sinn um das Verhältnis des Individuums zu seinem Land. Die Texte nehmen also einen transarealen Raum ein, sie beziehen sich aber dennoch auf nationale und lokale Räume. Die von Ette vorgeschlagenen Begriffe mit dem Präfix ‚trans-‘ sowie sein Konzept eines unabgeschlossenen Prozesses gegenseitiger Querungen von Sprache und Kultur, Zeit und Raum erinnern an Bhabhas Ausführungen in Location of Culture. Er hinterfragt Konzepte wie das der Nation, der Heimat oder des Anderen und begegnet ihnen schließlich mit den Begriffen „inbetween“ und „Hybridität“.16

Verschiedene Textstrategien in der Literatur verweisen auf einen unterschiedlichen Umgang mit Bewegungen zwischen Kulturen, Sprachen und Nationen und den damit zusammenhängenden Identitäten, Narrativen und Geschichten: Sie werden teilweise als voneinander getrennte Welten wahrgenommen, teilweise durchdringen sie einander auch. Großstädte oder urbane Räume, die in vielen Texten der Gegenwart als Ort der Handlung eine zunehmend prägendere Rolle spielen als Nationen, sind, so Ette, „zu Brennpunkten multi-, inter- und transkultureller Bewegungen geworden“17 und somit zum Schauplatz von „Formen eines kulturellen Nebeneinanders, eines zwischen deutlich voneinander geschiedenen Kulturen stattfindenden Austausches sowie einer verschiedenartige Kulturen querenden Nomadisierung“18. Auch Texte können solche Brennpunkte sein, die verschiedene Bewegungen in sich vereinen.

Nomadisches Schreiben und nomadisches Denken verstehe ich in dieser Arbeit nicht als räumlichanalytische Werkzeuge, die der Klassifizierung von Texten und der sich darin manifestierenden Bewegungen dienen. Auch wenn sich in nomadischen Texten die von Ette beschriebenen ‚trans‘-Bewegungen oft auffinden lassen, geht nomadisches Schreiben in vielerlei Hinsicht darüber hinaus. Zum einen ist eine gewisse Unsicherheit der Erzähler_innen konstitutiv, weil dadurch eine Verschiebung von den Erzähler_innen hin zum (nomadischen) Text stattfindet, wodurch die Fluchtpunkte im Text stärker offengelegt werden. Dies geschieht unter anderem durch das Einschreiben der Texte von ← 20 | 21 → Albahari, Ćosić und Ugrešić in den (quasi)autobiografischen Diskurs. Zum anderen ist nicht so sehr die Bewegung an sich oder die Verortung in transnationalen Bereichen entscheidend, sondern das, was Deleuze und Guattari mit den richtungsangebenden und prozessorientierten Begriffen Deterritorialisierung und Reterritorialisierung beschreiben. Darauf werde ich noch zurückkommen. In diesem Sinne ist nomadisches Schreiben auch kein Synonym für Migrations- oder Exilliteratur, auch wenn sich viele Berührungspunkte ergeben. Die Bewegung von hier nach dort, von einem Land in ein anderes mit entsprechender Thematisierung von ‚Heimat‘, ‚Herkunfts-‘ und ‚Gastland‘19, die Auseinandersetzung mit den Unterschieden zwischen verschiedenen Sprach- und Kulturräumen und damit auch die Beschäftigung mit der eigenen Identität sind charakteristisch für letztere. Die Begriffe Migration sowie Exil stellen die Ausreise aus einem Land in den Vordergrund, nicht selten wird diese zum Ausgangspunkt oder Schlüsselerlebnis, das die Richtung der Interpretationen vorgibt. Nomadisches Schreiben ist dagegen auch ohne Emigration und Exil denkbar, da dafür die Bewegung im Denken ausschlaggebend ist. Iain Chambers spricht davon, dass das ausgehende 20. Jahrhundert von einer Verknüpfung der „Migration des Denkens und des Menschen“20 geprägt ist. Er meint damit, dass sich reale und metaphorische Reisen mit der Bewegung im Denken zu einem Paradigma verdichten:

Die Vermehrung von Diasporas in der Moderne, die durch ‚Modernisierung‘, die wachsende Weltwirtschaft, eine oft brutal erzwungene Migration von Individuen und ganzen Bevölkerungsgruppen von den ‚Peripherien‘ hin zu euroamerikanischen Metropolen und zu Städten der ‚dritten Welt‘ verursacht wurde, ist von einer Dimension und Intensität, die einen direkten Vergleich mit den sekundären und weitgehend metaphorischen ← 21 | 22 → Reisen des intellektuellen Denkens nahezu verbietet. Die Analogie ist riskant. Es bleibt immer der offensichtliche Reiz der romantischen Zähmung und der intellektuellen Heimkehr, den poetische Figuren von Reise und Exil versprechen. Dennoch muß dieses Risiko eingegangen werden. Denn die moderne Migration des Denkens und des Menschen sind Phänomene, die gegenseitig stark auf ihre Bahn und ihre Zukunft einwirken.21

Hier wird der Begriff der Migration von der engen Bedeutung einer mehr oder weniger dauerhaften Überquerung von Landesgrenzen abgelöst und auf das Denken ausgeweitet, wodurch auch die zuerst genannte Bedeutung – das Verlassen eines Landes und die Ankunft in einem anderen – von einer realen, geografischen (und politisch wirksamen) zu einer metaphorisch aufgeladenen (literarischen) Bewegung wird, die sich nur noch schwer mit Wirtschaftsmigration oder gar mit den unzähligen Flüchtlingsströmen verbinden lässt. Die ‚reale‘ Bewegung tritt dadurch in den Hintergrund.

Rosi Braidotti verbindet nomadisches Denken dagegen gerade mit den ‚realen‘ Bewegungen in der Philosophie: Denken wird hier mit Bewegung im wörtlichen Sinne verbunden.

Since its pre-Socratic origins, philosophical thought has enjoyed a privileged relationship to movement, mobility and motion. Closer to physical training than to cerebral ruminations, classical philosophy was conceptualized as gymnastics of the soul, fitness of the wits, robustness of judgment coupled with speculative stamina. From the deliberative steps taken by free men on the Greek agora (women, blacks, non-Europeans, and children need not apply) to the peripatetic pilgrimages of the medieval students across the ancient European universities, most Continental philosophers actually thought on their feet, Emmanuel (sic!) Kant’s punctual daily walk around town being emblematic of this tradition.22

Nomadisches Schreiben muss nicht von Bewegungen handeln, es zeichnet sich vielmehr durch eine besondere Art und Weise des Umgangs mit dem Raum aus. Deleuze und Guattari konstatieren, dass der_die Nomad_in sich nicht dadurch auszeichnet, dass er_sie sich bewegt und weite Strecken zurücklegt. Er_Sie ist – im Gegenteil – gerade im Lokalen verortet: „Er befindet sich vielmehr in einem absolut lokalen Bereich, in einem Absoluten, das sich lokal manifestiert und in einer Serie von lokalen Vorgängen mit unterschiedlichen Orientierungen erzeugt wird: Wüste, Steppe, Eis, Meer.“ (TP 526) Das Sitzen und nicht das Laufen oder Umherziehen entspricht seiner_ihrer Haltung (vgl. TP 524): „[S]ie bewegen sich nicht. Sie sind Nomaden, weil sie sich nicht bewegen, weil sie ← 22 | 23 → nicht umherwandern, weil sie einen glatten Raum halten, den sie nicht verlassen wollen und den sie nur verlassen, um zu erobern und zu sterben.“ (TP 668)23

1.1 Nomad_innen: Lebensformen. Denkweisen. Bewegungsmuster

Im Folgenden soll eine Auswahl jener Nomad_innen in den Blick genommen werden, die einen wichtigen Hintergrund für das nomadische Schreiben bilden. Damit meine ich einerseits jene tatsächlich global verortbaren, historisch bestimmbaren und anthropologisch beobachtbaren Nomad_innen, die auf eine ganz bestimmte Art und Weise mobil sind und deren Lebensweise sich als nicht sesshaft bestimmen lässt. Andererseits meine ich damit die intellektuellen Nomad_innen, wie sie vor allem von Kenneth White beschrieben werden, und jene Nomad_innen, die als Stellvertreter für ein im weitesten Sinne nomadisches Prinzip gelesen werden können und die vor allem in den verschiedenen Texten zur „Nomadologie der Neunziger“24 – einmal mehr und einmal weniger abstrakt gezeichnet – eine Rolle spielen. Deleuzes und Guattaris Beschreibungen der Nomad_innen und des Nomadischen werde ich in diesem Abschnitt nicht thematisieren, da ihre Überlegungen in den meisten anderen Teilen der Arbeit ausführlich einbezogen werden. Eingehen möchte ich an dieser Stelle allerdings auf die Konzeption des_der Nomad_in bei Deleuze und Guattari als ‚Begriffsperson‘. Die Begriffsperson nimmt eine wichtige Mittlerrolle zwischen den Nomad_innen als Personen und dem Nomadischen ein. Dies ist wichtig hervorzuheben, da auch Deleuze und Guattari durchaus von Nomad_innen und eben nicht nur vom Nomadischen sprechen. ← 23 | 24 →

1.1.1 Kenneth White: Intellektuelle Nomad_innen

Für Kenneth White ist der Begriff der intellektuellen Nomad_innen von zentraler Bedeutung.25 Diese sind „nihilistisch […], orientalisierend […], global […], anarchistisch […], dämonisch […] und erratisch“26 und sie „tauch[en] nicht ex nihilo auf“27. White beobachtet diese Figur im Anarchismus und Individualismus des 19. Jahrhunderts und im Nihilismus (v.a. im russischen), dessen Kritik von Idealismus und Metaphysik er besonders in den Vordergrund rückt.28 Er beleuchtet die französischen Erscheinungsformen bei Camus29, der unter anderem die Übermacht der Erde und der Landschaft gegenüber der Geschichte betont, bei Merleau-Ponty30, dessen Idee der Matrizen er als ein bewegtes und dezentriertes Denken skizziert, und er sieht in Bewegungen wie dem Situationismus, dem Dadaismus und dem Surrealismus Praktiken des Umherschweifens und des Abdriftens am Werk.31 Einen Umbruch beschreibt er für die 70er Jahre:

Zu Beginn der Siebzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts nahm die Vorstellung des Umherirrens ein ungeahntes Ausmaß und einen neuen Sinn an. Es geht nun nicht mehr um städtisches Abdriften, sondern um den Bruch mit einem ganzen theologisch-metaphysisch-psychologischen System.32 ← 24 | 25 →

White verfolgt auch den Begriff des intellektuellen Nomad_innentums: Er findet sich zuerst bei Emerson, er ist „aus dem amerikanischen Kontext hervorgegangen [und hat] eine asiatische Bezugnahme“33. In seiner Betrachtung literarischer und philosophischer Texte geht es White vor allem um die „Präsenz Isolierter […], die viel mehr Zeit ‚draußen‘ zubringen als im Café oder bei ‚Freizeitgestaltungen‘ und deshalb vollkommen anders leben und schreiben.“34 In diesem Sinne verfolgt er Schriften, Tagebücher und Lebensweisen von Rousseau, den er als Philosophen des Umherirrens35 bezeichnet, von Heidegger36, Feyerabend37, Serres38, Blanchot39, Levinas40, Mallarmé41, MacDiarmid, Powys, Thoreau und anderen. Insgesamt nimmt White Bezug auf Text und Poetik, aber auch auf die Lebensweise verschiedener Autor_innen und vollzieht auf diese Weise deren nomadisches Denken nach. Damit steht hier die nomadische Persönlichkeit im Zentrum. White geht es um das Zusammenspiel eines nomadischen Lebens, Denkens und Schreibens. Über MacDiarmid schreibt er: „[A]ber in der Zwischenzeit wird er eine große Reise durch Politiken, Literaturen, Kulturen, Wissenschaften gemacht haben – was wir intellektuelles Nomadentum nennen.“42 Für Powys beschreibt er ein Verlangen nach Archaischem und Archetypischem43, insgesamt hebt er die Wichtigkeit von Riten, Ritualen, Yoga und Wandern hervor.44 White geht differenziert vor. So unterscheidet er das ambulante Yoga (Wandern) vom ritualistischen Hindu-Yoga, er attestiert der amerikanischen Literatur, eine des „Raumes und des Weges“45 zu sein, verallgemeinert dies jedoch nicht, sondern beschränkt dies auf Schriftsteller wie Whitman oder Kerouac. Auch Reisen und Reisende hebt er hervor und geht unter anderem auf Segalen ein. White erläutert ← 25 | 26 → seine Geopoetik schließlich an einem Beispiel: Ein seiner „‚nomadischen‘ Suche um die Erde […], nach einer Welt und einer Sprache“46 entsprechender Vortrag von 1979, den er „poetische Montage“47 nennt, besteht aus

fünf Sequenzen: eine amerikanische Sequenz (Irokesen-, Sioux-, Alkonkin-, Papago-, Omaha-, Navajo-Gedichte), eine Eskimo-Sequenz (Reiselieder, magische Formeln, der Weg des Schamanen), eine keltische Sequenz (Reisegedichte, Druidengesänge, Einsiedler-Poesie), eine Sequenz Asien (mongolische, chinesische, tibetische, japanische Texte) und schließlich eine Sequenz, bestehend aus Texten meiner eigenen Arbeit (um auf der Notwendigkeit zu bestehen, dies alles ‚in einer Seele und einem Körper hier und heute zu verwirklichen).48

White geht in seiner Konzeption der intellektuellen Nomad_innen auf verschiedene Weltregionen ein und ist keineswegs – wie es die Bezugnahme auf einige wichtige europäische Philosophen zu Beginn des Textes vielleicht zunächst vermuten lässt – eurozentrisch in seiner Perspektive. Gerade die Verknüpfung von ähnlichen Gedanken aus verschiedenen Erdteilen und Zeiten ist eine Stärke seines Buches, die sich in dem erwähnten Konzept seines Vortrags widerspiegelt.

1.1.2 Die „Nomadologie der Neunziger“

Die „Nomadologie der Neunziger“ war das Thema des Steirischen Herbstes in Graz zwischen 1990 und 1995. Aus dem Festival gingen verschiedene Publikationen hervor: die Nomadologie der Neunziger49, ein Gesamtüberblick über die fünf Festivals, die in den Jahren 1990–1995 stattgefunden haben, und die jährlichen Herbstbücher, von denen insbesondere das erste50 und zweite51 Herbstbuch Aspekte des Nomadischen berühren. Das Zusammenspiel von theoretischen Reflexionen und künstlerischen Aktionen sowie der praktische Hintergrund der konzeptuellen Überlegungen ergibt eine vielschichtige und facettenreiche Diskussion des Nomadischen. Das Thema verdankte sich einer Neuausrichtung des Steirischen Herbsts: Statt sich am Avantgarde-Begriff zu orientieren, wurde Gegenwartskultur in den Blick genommen, wodurch, so Horst Gerhard Haberl, das Festival zu „einem Ort der Begegnung mit ‚nomadischen‘ Strategien der Kunst ← 26 | 27 → am Ende der Postmoderne“52 wurde. Nomadismus wird in diesem Zusammenhang nicht so sehr im Sinne von Fluchtbewegungen, sondern eher als geistige Mobilität und Interdisziplinarität verstanden.

Künstlerisch wurden – so Peter Strasser in seinem Beitrag – eher die

Unterbrecher [gefördert], nicht die Systemsurfer. Eher die Kontext-Anarchisten, nicht die schlauen Kontext-Reflektierer, die im Dienste eines höher integrierten Machtzustandes des Gesamtsystems operieren. Eher die Archaiker unter den Künstlern, als die Archaikdesigner und Vergangenheitsaufbereiter im Dienste des virtuellen Museums […].53

Strasser beschreibt zwei Ebenen des Nomadismus: Einerseits betont er die „Unvollkommenheit der Welt“54, andererseits schreibt er der Kunst „apostolisch[e] und aristokratisch[e] Züge“55 zu, die sie ihrerseits aber nicht mehr zu legitimieren vermag. Dies führe bei den Unterbrecher_innen zu Nihilismus, „zu Ballungen der Destruktionswut, anarchischen Explosionen um Kunstraum, zu Stahlgewitterphantasien und endlosen Inszenierungen der sozialen Apokalypse.“56 Ähnlich wie Deleuze und Guattari warnt auch Strasser vor einer Vereinnahmung und Integration des Nomadischen:

Nun hat die rasante Vermehrung der Messages einen gravierenden Nachteil. Selbst wenn sie, wie die ‚Nomadologie‘, gegen die Schwerkraft des massenmedialen Zyklodroms intendiert sind, werden sie durch die Inflationierung und das öffentliche Werben um Aufmerksamkeit zu einem Teil des Getriebes. Sie werden selber systemförmig und damit Design.57

Vilém Flusser beginnt seinen Beitrag mit dem Titel „Nomaden“58 mit folgender Hypothese: „Die neunziger Jahre sind voraussichtlich das Ende der jüngeren Steinzeit. Denn dies ist ja die Zeit, die durch Seßhaftigkeit charakterisiert ist.“59 Ins Zentrum seiner Überlegungen stellt er zunächst den ‚oikos‘ und damit das ← 27 | 28 → Bedeutungsfeld um Küche, Wirtschaft und Haushalt. Aufgrund der Erderwärmung – so Flusser – und der notwendigen Ernährungsumstellung kommt es zur Sesshaftigkeit. Als sich die Wälder in Felder verwandelten, wurde die vorher zentrale Tätigkeit des Jagens von der bäuerlichen Lebensweise abgelöst. Damit kam es zu einer „Degradation von Nomaden zu Hausbewohnern“.60 Er wagt die Hypothese: „Statt Grießsuppe werden wir wieder Büffelleber essen. […] Wir gehen durch die neunziger Jahre hindurch dem Paradies entgegen.“61 Diese optimistisch vorgetragene Aussicht nimmt er jedoch gleich wieder zurück: „Es gibt auch Nomadenprobleme.“62 Die Tatsache, dass auch Nomad_innen Werkzeuge benutzen, zeuge davon, dass auch sie die Kluft zwischen der Welt, so wie sie ist, und der Welt, so wie sie sein soll, spüren, damit „ein unglückliches Bewußtsein“63 haben und keineswegs im Paradies leben. Der Übergang in die „Nachindustrie“ sei kein Grund, „das Aufgeben der Seßhaftigkeit zu erwarten“.64 Für die jüngere Steinzeit betont Flusser die Arbeitsteilung in Ackerbau und Viehzucht, er leitet sie aus der früheren Aufteilung in Sammeln und Jagen ab: „Es sieht so aus, als seien die seßhaften Bauern die Nachfolger der pflanzensammelnden Frauen und die Hirten Nachfolger der jagenden Männer.“65 Flusser betont, dass die Geschichte zumeist aus der Perspektive der Sesshaften betrachtet werde, wodurch die Komplexität der eigenen Lebensform und Ernährungsgewohnheiten überhöht werde („die Komplexität des Pizzaessens zu übertreiben“66). Die Struktur der Stadt, des Staates und der Zivilisation überhaupt wird an der Ernährungsweise erklärbar. Die Lebensweise der Hirt_innen ist aber eigentlich – so Flusser – viel komplexer, „weil [sie] erst durch die Vermittlung von Ziegen, und nicht unmittelbar, Gras“67 essen. Nomad_innen, so Flusser, „sind komplizierte Leute.“68

Er geht dann auf die Unterschiede zwischen den beiden Lebensformen ein: „Kurz gesagt sind die Bauern Besitzer und die Hirten Erfahrer […].“69 Ersteren ordnet er die Schrift (als Besitz) zu und stellt dabei die interessante ← 28 | 29 → Beobachtung auf, dass es im Grunde befremdlich ist, „daß unsere Bauern ihr Gras zwar pflanzen, kochen und essen, aber nicht als Gedächtnisstütze benutzen und daher nicht eigentlich besitzen“70. Auch die Pflanzen seien verlässlich, besitzen sie doch etwa die genetische Information. Den Hirt_innen kommt kein Gedächtnis zu, „außer dem eroberten oder geraubten“71. So besitzen sie ihre Tiere nicht, sondern sie fahren ihnen nach, sie „sammeln Erfahrungen, ohne diese je im Gedächtnis festhalten zu können. Anders gesagt, sie machen Geschichte, ohne Geschichte zu besitzen.“72 Dies habe sich in den 90er Jahren umgekehrt: Man besitze nun zwar die Geschichte (dank künstlicher Gedächtnisspeicher), mache sie aber nicht. Flusser geht auch den etymologischen Spuren des Wortes nach und hält fest: „‚Nomade‘ ist demnach ein Name, den Seßhafte gegen Wandernde verwenden […]. Es ist ein verachtendes Schimpfwort. Es steht uns aber kein anderes Wort zur Verfügung. Wir müssen damit auszukommen versuchen.“73

Von den eingangs angestellten Überlegungen zur Ernährungsweise und damit zur Küche (und Ökonomie) geht er nun zu den Wohnverhältnissen (zur Architektur) über. Er vergleicht das Haus (mit seinen vier Wänden) und das Zelt. Wichtig für die Sesshaften seien die Wände und deren Funktion, die „drei Räume der Wirtschaft, der Politik und der Theorie zu trennen“74. Diese Trennung sei durch die neuen Kommunikationsmittel nicht mehr möglich und auch nicht sinnvoll. Deswegen sei die Gesellschaft aber noch nicht zu einer nomadischen geworden, auch wenn sie nicht mehr dem bäuerlichen Paradigma entspricht. Die Unterscheidung zwischen Haus und Zelt entspricht der Sesshaftigkeit und dem Wohnen auf der einen und dem Wandern und Erfahren auf der anderen Seite. Das Zelt beschreibt Flusser als Dach ohne Wände. „Wände definieren zwischen Innen und Außen, Dächer zwischen Oben und Unten.“75 Auch wenn, so Flusser, die Häuser „unbewohnbar werden“76 und die Menschen auf „der Suche nach Zelten“77 seien, so seien sie „deswegen […] noch nicht unbedingt Nomaden, weder Jäger noch Hirten“78. „Der Bruch zwischen Seßhaften und Nomaden geht ← 29 | 30 → tiefer: Für die Nomaden ist das Besitzen von Begriffen ein Wahnsinn, und für die Seßhaften ist das undefinierte Herumschweifen in der Erfahrung ein sinnloses Geschwafel.“79

Einen etwas anderen Ansatz verfolgt Flusser in seiner Eröffnungsrede zum Steirischen Herbst.80 Hier geht er auf die nomadischen und die sesshaften Abschnitte der Menschheitsgeschichte ein. Die ältere Steinzeit und damit „die zwanzigtausend Jahre des Nomadisierens“81 seien vor 10.000 Jahren durch die Sesshaftwerdung des Menschen abgelöst worden. Diese Periode sei gewöhnlich unterteilt worden „in die jüngere Steinzeit, die Bronze- und die Eisenzeit“82, sie gehe nun aber zu Ende. Das Jahr 2000 gilt Flusser als Wendepunkt zu einer neuen Nomadologie, zu einer „künftige[n] nomadische[n] Gesellschaft“83.

Diesen Gedanken vertieft Flusser in seinem Aufsatz „Nomadische Überlegungen“84. Er schlägt eine „Dreiteilung der Menschenzeit in ältere Steinzeit, jüngere Steinzeit und unmittelbare Zukunft“85 vor und gründet diese Einteilung auf drei Ereignisse:

Die erste [Katastrophe] kann Menschwerdung heißen, und sie äußert sich […] als Benutzung von steinernen Instrumenten. Die zweite Katastrophe kann Entstehung der Zivilisation heißen und äußert sich vor allem als Leben in Dörfern. Die dritte hat noch keinen treffenden Namen; sie äußert sich vor allem in der Tatsache, daß die Welt ungewöhnlich wird, also unbewohnbar.86

Die jüngere Steinzeit betrachtet Flusser als eine „Unterbrechung des Nomadentums“.87 Er schließt daran eine Betrachtung der nomadischen und sesshaften Lebensform an, um seine Einteilung zu begründen. Er differenziert zunächst polar: „Seßhafte sitzen und Nomaden fahren. Das heißt zuerst einmal, daß man Seßhafte im Raum lokalisieren kann (sie haben Adressen), während Nomaden erst im Raum-Zeit-Kontinuum definiert werden können.“88 Flusser schließt aber nach einigen relativierenden Überlegungen wie folgt: „Kurz, zwar ← 30 | 31 → sitzen Seßhafte und fahren Nomaden, aber beides ist provisorisch, beide sind Menschen. Und doch: Wer sitzt, der lebt in einer dem Fahrenden völlig fremden Stimmung.“89 Er geht der Etymologie von Besitzen und Erfahren nach – vom Sitzen also kommt Flusser zum Besitzen, vom Fahren zum Erfahren, was auch seine Erläuterungen in dem bereits angeführten Aufsatz „Nomaden“ nochmals erhellt. Das sesshafte Leben charakterisiert er als ein Pendeln „zwischen Haus und Dorfplatz“90 und er fragt: „Wozu engagieren sich die Leute politisch, anstatt ihren Garten zu kultivieren?“91 Flussers Antwort lautet: Bisher war es nicht ← 31 | 32 → möglich, sich zu Hause zu informieren, während dies durch neuere Kommunikationsmedien durchaus möglich ist. Einerseits scheint es also so, „als ob es erst jetzt tatsächlich möglich geworden wäre, sitzen zu bleiben“92, andererseits aber seien durch die verschiedenen Kommunikationskanäle die Häuser unbewohnbar geworden: „Es zieht im Haus von allen Seiten, die Orkane der Medien sausen hindurch, und es ist unbewohnbar geworden.“93 Aufgrund dieser Situation werde auch der Besitz bzw. die Idee, etwas zu besitzen, infrage gestellt, da die Medien die Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem grundsätzlich unsinnig werden lassen.94 Die Situation, die sich in den 90er Jahren ergibt, stellt sich für Flusser wie folgt dar: „Nicht mehr Besitz, sondern Information […], ist, was Macht ermöglicht, und […] nicht mehr Ökonomie, sondern Kommunikation ist der Unterbau des Dorfes (der Gesellschaft).“95 In diesem Sinne verändert sich die Sesshaftigkeit zugunsten des Nomadischen, wobei er die Nomad_innen als „Leute [charakterisiert], die hinter etwas herfahren, etwas verfolgen“96. Das Fahren ist ziellos und orientiert sich am Wind, während sich die Sesshaften an den Steinen und dem Grund orientieren. Vom Wind (der auch durch die Häuser weht) kommt Flusser zur „Streuung des Geistes“97. Die jüngere Steinzeit wird nach diesen Überlegungen nun als „Dialektik zwischen Sitzen und Fahren“98 bezeichnet, der römische Limes sowie die chinesische Mauer seien „Einrichtungen zum Schutz der Seßhaften gegen Nomaden“99. Flusser wagt zum Schluss die These, Europa sei „zum Zentrum der Welt geworden, weil die Chinesische Mauer besser gebaut war als der Limes: Der Westen wurde vom nomadischen logos spermatikos[100] besser befruchtet als der Osten.“101 Die Dialektik zwischen ← 32 | 33 → Besitzen und Erfahren und der Widerspruch zwischen den beiden – „Wer besitzt, erfährt nichts, und wer erfährt, besitzt nichts.“102 – verhinderte schließlich die Nomadisierung der Sesshaften und umgekehrt auch die Sesshaftwerdung der Nomad_innen.

Details

Seiten
468
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653043761
ISBN (ePUB)
9783653981049
ISBN (MOBI)
9783653981032
ISBN (Hardcover)
9783631652695
DOI
10.3726/978-3-653-04376-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (November)
Schlagworte
Migrationsliteratur Exilliteratur Deterritorialisierung Staatenlosigkeit
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 468 S.

Biographische Angaben

Diana Hitzke (Autor:in)

Diana Hitzke studierte Allgemeine und Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft/Komparatistik, Musikwissenschaft und Slavische Literaturwissenschaft (Kroatisch) an der Universität Gießen und an der Universität Zagreb (Kroatien).

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Titel: Nomadisches Schreiben nach dem Zerfall Jugoslawiens
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