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Der Koch ist der bessere Arzt

Zum Verhältnis von Diätetik und Kulinarik im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit- Fachtagung im Rahmen des Tages der Geisteswissenschaften 2013 an der Karl-Franzens-Universität Graz, 20.6.–22.6.2013

von Andrea Hofmeister-Winter (Band-Herausgeber:in) Helmut W. Klug (Band-Herausgeber:in) Karin Kranich (Band-Herausgeber:in)
©2015 Konferenzband 314 Seiten

Zusammenfassung

Vorbeugen ist besser als heilen – unter diesem Motto lässt sich die Bedeutung der Gesundheitsvorsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit zusammenfassen. 16 Fachbeiträge von international angesehenen Wissenschaftler/innen und jungen Nachwuchsforscher/innen aus den Fächern Germanistische Literatur- und Sprachwissenschaft, Geschichtswissenschaft/Medizingeschichte, Volkskunde, Archäologie, Kunstgeschichte und Theologie widmen sich in quellennahen Studien breit gestreuten Aspekten der Gesundheitslehre und der Kulinarik des (vorwiegend) deutschsprachigen Raums von der Antike bis in die Barockzeit. Die einzelnen Beiträge beleuchten vielfältige Fragestellungen aus unterschiedlichsten Perspektiven und wollen so diesem transdisziplinären Forschungsbereich neue, grundlegende Impulse verleihen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Geleitwort
  • Vorwort
  • Löwenfleisch, faule Birnen und Antoniuswein. Pest, Lepra, Heiliges Feuer und die Rolle der Ernährung aus Sicht der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Heilkunde
  • Abstract
  • Zwischen Harnglas und Kochtopf – eine Frage der Säfte
  • Der Tod im Getreide
  • Antoniuswein und „schönes“ Brot
  • Die Kranken mit dem Löwengesicht oder „Man wird zu dem, was man isst“
  • Böses Blut
  • Fazit: Die Ernährung in mittelalterlich-frühneuzeitlichen Konzeptionen von Krankheit und Gesundheit
  • Cgm 415 als Beispiel einer medizinisch-diätetischen Sammelhandschrift
  • Vom Arzneibuch zum Kochbuch, vom Kochbuch zum Arzneibuch: Eine diätetische Reise von der arabischen Welt und Byzanz über Italien ins spätmittelalterliche Bayern
  • Abstract
  • Das Konzept der Dynamischen Edition dargestellt am púch von den chósten (Cgm 415)
  • Abstract
  • Der Gegenstand der Edition: daz púch von den chósten
  • Überlieferung
  • Das Konzept der Dynamischen Edition
  • Die erste Editionsstufe: Basistransliteration
  • Die zweite Editionsstufe: Lesefassung
  • Editionsbeispiel
  • Das Graphinventar
  • Ausblick
  • Italienische Rezepte in der anonymen Kochrezeptsammlung der Handschrift Cgm 415
  • Abstract
  • Merkmale italienischer Rezepte
  • Inhaltliche Analyse der italienischen Rezepte
  • Vorlagen für die Kochrezeptsammlung in Cgm 415
  • Der Ernährungsexperte als Kochbuchautor
  • Yedoch will ich ekleren uff deine vordrungen – Pragmatisierung der Ernährungsdiätetik im Spiegel der Gesundheit des Lorenz Fries von Kolmar
  • Abstract
  • Lorenz Fries von Kolmar: Arzt und Gesundheitsschriftsteller
  • Spiegel der Gesundheit – Gesundheitsratgeber als Bestseller
  • Humorale Ernährungsdiätetik – eine kybernetische Gesundheitslehre
  • Pragmatische Wende: von der Doktrin zum Erfahrungswissen
  • Fazit – Kochkunst als Heilkunst
  • Literatur
  • Die Platina-Übersetzung des Stephan Vigilius (1542). Kochkunst, Gesundheitslehre und sprachliche Form
  • Abstract
  • 1. Gegenstand und Fragestellungen
  • 2. Kochkunst-Texte und Diätetik-Texte in vergangenen Zeiten
  • 3. Platinas De honesta voluptate et valetudine: eine außergewöhnliche Verbindung von Kochkunst und Diätetik
  • 3.1 Die Frage nach dem ersten gedruckten Kochbuch und die Besonderheit von ‚De honesta voluptate et valetudine‘
  • 3.2 Platina, Maestro Martino und der ideale Koch
  • 3.3 ‚De honesta voluptate et valetudine‘: Text und Textgeschichte
  • 3.4 Kochkunst und Diätetik bei Platina
  • 4. Stephan Vigilius und seine Platina-Übersetzung (1542)
  • 4.1 Die Vigilius-Vorrede als diätetisch-kulinarisches und zeitkritisches Zeugnis
  • 4.1.1 Zeitkritik, zeitgenössische Luxuskritik und Mesotes-Lehre
  • 4.1.2 Religiöse Unterfütterung des Programms in einem christlichen Sinne
  • 4.1.3 Eine komprimierte eigene Ernährungslehre
  • 4.2 Übersetzungsprinzipien und Übersetzungleistung
  • 4.3 Formen der Bearbeitung
  • 4.3.1 Ergänzungen
  • 4.3.2 Änderungen und Anpassungen
  • 4.3.3 Auslassungen
  • 4.4. Das Repertoire der Darstellungsformen und Texttypen
  • 4.4.1 Regimen sanitatis-Tradition I: Kurz-Traktat
  • 4.4.2 Regimen sanitatis-Tradition II: Nahrungsmittel-Monographien
  • 4.4.3 Kochrezepte
  • 4.5. Aspekte des Wortgebrauchsprofils
  • 4.5.1 Medizinisch-humoraler Wortschatz in der Vigilius-Übersetzung
  • 4.5.2 Kulinarischer und rezeptbezogener Wortschatz
  • 4.5.3 Einige weitere Wortschatz-Perspektiven
  • 5. Zusammenfassung und Ausblick
  • Zitierte und weiterführende Literatur
  • Conrad Haggers Neues Saltzburgisches Koch=Buch von 1718/19 zwischen den Zeilen gelesen
  • Abstract
  • Einleitung
  • Der Autor und das Werk
  • Zitrusfrüchte
  • Konklusion
  • Literatur
  • Corpusstudien
  • Sind die Regimina duodecim mensium als „Mönchmedizin“ zu betrachten?
  • Abstract
  • Kann der Arzt auch ein guter Koch sein? Die Kochrezepte in der deutschen Bearbeitung der Epistula Anthimi de observatione ciborum
  • Abstract
  • Das Tegernseer Wirtschaftsbuch: Benediktinische Kulinarik in Fasten- und Nichtfastenzeiten
  • Abstract
  • I.
  • II. Die Handschrift
  • III. Das Tegernseer Speisenbuch
  • a) Die innere Struktur nach dem Jahreslauf
  • b) Speisenunterschiede zwischen Fasten- und Nichtfastenzeiten
  • III. Ausblick
  • Das Tiroler Kochbuch anno 1714: Rezepte mit diätetischem Hintergrund
  • Abstract
  • I. Das Werk
  • 1. Aussehen und Gliederung der Handschrift
  • 2. Charakteristika der Handschrift
  • 3. Gliederung und Aufbau der Rezepte
  • 4. Transkriptionsregeln
  • II. Diätetik im Tiroler Kochbuch
  • III. Zukünftige Forschungsaufgaben
  • Realienkundliche Detailstudien
  • „… und färbs ain wenig ob du wilt.“ Eine analytische Bestandsaufnahme der diätetischen Aspekte des Färbens von Speisen in der spätmittelalterlichen Küche
  • Abstract
  • Literaturverzeichnis
  • und iz als ein latwergen. Quellenstudie zu Vorkommen, Zusammensetzung und diätetischen Wirkzuschreibungen von Latwerge in älteren deutschsprachigen Kochrezepttexten
  • Abstract
  • Ausgangspunkt
  • Begriffserklärung
  • Methodische Vorgehensweise
  • Analyse des Textcorpus
  • Zutaten
  • Phasen des Zubereitungsvorgangs
  • Konsistenz
  • Servieranleitung
  • Auswertung der Ergebnisse
  • Ausblick
  • Culina Historica. Möglichkeiten und Grenzen zur Rekonstruktion einer historischen Geschmackswelt
  • Abstract
  • Literatur
  • Bilder nach Rezept? Kunstgeschichte und Kochbuchforschung
  • Abstract
  • Editorische Ersterschließung
  • Kochrezepte und Notizen aus dem Günterstaler Notizenbuch. Edition von fol. 11r–14v der Handschrift GLA 65 Nr. 247 aus dem Generallandesarchiv Karlsruhe
  • Abstract
  • Einleitung
  • Beschreibung der Handschrift
  • Bestimmung der Schreibsprache
  • Konsonantismus
  • Vokalismus
  • Morphologie
  • Semantik
  • Editionsprinzipien
  • Edition
  • Kommentar
  • Glossar
  • Literaturverzeichnis

Löwenfleisch, faule Birnen und Antoniuswein.

Pest, Lepra, Heiliges Feuer und die Rolle der Ernährung aus Sicht der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Heilkunde

Kay Peter Jankrift (München)

Abstract

Alimentation played different roles in the pre-modern conception of health and disease. The right proportion of food and drink helped to conserve health and could be used according to medical recommendation to avoid specific diseases. The exaggerated consumption of whatever foodstuff, however, could abet certain diseases with regard to the idea of the four humours. Finally, alimentation could serve medical treatment in order to re-establish the balance of humours and to prevent any further aggravation of a disease or even help to regain health. The article discusses this triple function of alimentation in medical visions through the examples of Saint Anthony’s fire, leprosy and plague.

Der Tod lag in diesen Septembertagen des Jahres 1529 in der Luft. Die üblen Ausdünstungen, die Miasmen, mussten so rasch wie möglich eingedämmt werden, um einer weiteren Ausbreitung der Pestilenz im niederrheinischen Wesel Einhalt zu gebieten. Immerhin hatte die mysteriöse neue Krankheit, der „Englische Schweiß“, den Erhebungen des Magistrats zufolge bereits hunderte Männer, Frauen und Kinder dahingerafft und Fäulnisgestank galt als bedeutendster Faktor für die Verbreitung der Seuche.1 Potenzielle Gefahrenquellen auszumerzen, war mithin oberstes Gebot. Also schickten die Stadtväter ihre Ratsdiener aus, um elf Fässer mit verdorbenem Hering in den Rhein zu werfen, die der städtische Kloakenreiniger Clais Deylmeker schon seit mehreren Monaten vor seinem Haus gelagert hatte.2 ← 19 | 20 →

Bis zum Anbruch des mikrobiologischen Zeitalters in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb die antike Theorie vorherrschend, dass todbringende Infektionskrankheiten wie die Pest vor allem auf das Wirken von Miasmen zurückzuführen waren.3 Noch Rudolf Virchow (1821–1902), Begründer der modernen Pathologie und Arzt an der berühmten Berliner Charité, war im Gegensatz zu seinem Standeskollegen Robert Koch (1843–1910) ein überzeugter Verfechter der Miasmentheorie.4 Deren Wurzeln reichten angeblich zurück bis zu Hippokrates von Kos (um 460–375 v. Chr.). Die antiken Lehren wurden zur Mitte des 14. Jahrhunderts im Angesicht des Schwarzen Todes durch den umbrischen Arzt Gentile da Foligno (1280/1290–1348) in seinem Pesthauchmodell wie auch im so genannten Pariser Pestgutachten von 1348 wieder aufgegriffen.5 Denn einzig verdorbene Luft, die alle Einwohner gleichermaßen atmeten, war nach gängiger Vorstellung in der Lage, derart viele Menschen beiderlei Geschlechts ungeachtet ihres Alters, Vermögens und Standes zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten krank zu machen. Was aber war zu tun, um dieser Wirkung prophylaktisch entgegenzuwirken, sie abzuschwächen oder bereits Erkrankte wieder gesunden zu lassen? In zeitgenössischen Vorstellungen spielte die Ernährung eine wesentliche Rolle bei der Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten. Dies galt gleichermaßen für Erkrankungen Einzelner wie für Seuchen. Welche besondere Bedeutung dem Speiseplan nach zeitgenössischer Auffassung für die Entstehung, Prophylaxe und Therapie weit verbreiteter Krankheitsphänomene zukam, steht im Mittelpunkt dieser exemplarischen Betrachtung. Diese widmet sich mit der Pest, der Lepra und dem Heiligen Feuer drei Erscheinungen von höchst unterschiedlicher Natur, die sich in ihrer jeweils spezifischen Weise auf die vormoderne Gesellschaft niedergeschlagen haben.6 Während Ausbrüche der ← 20 | 21 → Pest spätestens seit dem Wüten des Schwarzen Todes zur Mitte des 14. Jahrhunderts vor allem in den Städten immer wieder Massensterben hervorriefen, blieb die Lepra zu allen Zeiten das grausame Schicksal Einzelner.7 Das Heilige Feuer wiederum war keine Infektionskrankheit, sondern das Resultat einer tödlichen Vergiftung durch den Verzehr von Mutterkorn. Dabei muss vorab betont werden, dass sich die in Mittelalter und Früher Neuzeit gebräuchlichen Krankheitsbezeichnungen nicht unbedingt mit den Definitionen der gegenwärtigen Medizin decken. Eine retrospektive Diagnose auf der Basis schriftlicher Zeugnisse vorzunehmen, ist unmöglich.8 Immerhin unterscheiden sich mittelalterliche Modelle recht deutlich von heutigen Konzeptionen der Medizin. Um die Rolle der Ernährung im Rahmen medizinischer Vorstellungen der Vormoderne zu verstehen, ist es zunächst nötig, sich die theoretischen Grundlagen der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Heilkunde zu vergegenwärtigen. ← 21 | 22 →

Zwischen Harnglas und Kochtopf – eine Frage der Säfte

Über mehr als ein Jahrtausend bildete die Hippokrates zugeschriebene, durch Galen von Pergamon verfeinerte Vier-Säfte-Lehre den Grundpfeiler der Medizin in Orient und Okzident.9 Der so genannten Humoralpathologie zufolge bestimmte das Gleichgewicht von Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle – den vier vermeintlich im menschlichen Körper vertretenen Säften – über Gesundheit und Krankheit. Nach zeitgenössischer Auffassung legte der jeweils vorherrschende Saft zugleich das Temperament eines Menschen fest. Dabei übertrugen sich die Eigenschaften des heiß-feuchten Blutes, des feucht-kalten Schleims, der heiß-trockenen gelben sowie der kalt-trockenen schwarzen Galle gleichsam auf den Charakter. Während der gesellige, wohlgelaunte Sanguiniker durch das Blut geprägt wurde, war dem jähzornigen Choleriker insbesondere gelbe Galle eigen. Schleim führte den antriebslosen Phlegmatiker zu seiner Passivität, die schwarze Galle den missmutigen Melancholiker zu seiner Übellaunigkeit. Auch die vier Lebensalter spiegelten sich in diesem Viererschema wieder. Zur Gesunderhaltung war es nötig, die Säfte in ihrer natürlichen Balance zu halten. Nach Auffassung der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Heilkundigen war hierzu vor allem Maßhalten erforderlich. Die Diätetik als Lehre der gesunden Lebensordnung und -erhaltung bildete das theoretische Grundgerüst dieses medizinischen Modells.10 Dabei spielte weiters das rechte Maß der so genannten sex res non naturales eine entscheidende Rolle für die Beibehaltung der Gesundheit wie auch in der medizinischen Behandlung zu deren Wiederherstellung. Licht und Luft (lux et aer), Bewegung und Ruhe (motus et quietus), Schlafen und Wachen (somnus et vigilia), der Stoffwechsel (excreta et secreta) und Gemütsbewegungen (affectus animi) waren dafür ebenso bedeutsam wie Essen und Trinken (cibus et potus). ← 22 | 23 →

Völlerei oder eine falsche Ernährung konnten das Säftegleichgewicht aus dem Lot bringen. Den Speisen wurden nämlich unterschiedliche Eigenschaften zugeschrieben, die nach allgemeiner Auffassung direkt zu einem Überschuss eines der vier Säfte führen und so der Entstehung jeweils spezifischer Krankheiten Vorschub leisten konnten. Dabei waren sich die mittelalterlichen Heilkundigen jedoch keinesfalls einig darin, welcher Art die Gesundheitsgefährdungen waren, die vom Verzehr bestimmter Nahrungsmittel ausgingen, und auf welche Säfte sich diese im Einzelfall auswirkten. So hielt etwa Arnald von Villanova (ca. 1235–1311), Leibarzt von Papst Clemens V. (ca. 1250–1314) und Professor an der Universität von Montpellier, unter anderem den Genuss von Kohl, Linsen und Knoblauch für förderlich für die Entstehung von Lepra.11 Nach seiner Auffassung waren es eben diese Hülsenfrüchte und Gemüse, die einen übermäßigen Fluss von schwarzer Galle und Schleim begünstigten. Wenngleich die Speise nicht die eigentliche Ursache für eine Erkrankung war, so verstärkte sie doch die individuelle Disposition auf ihre jeweils spezifische Weise. Diese Vorstellung ließ sich entsprechend auf Seuchen übertragen: Lösten auch die Miasmen die Krankheit aus, so konnte sich der Einzelne doch durch eine richtige Ernährung gegen die Gefahr rüsten und sich bemühen, seine Säfte im Gleichgewicht zu halten. Die Wahl der falschen Speise – vor allem im Übermaß – bedeutete hingegen, solch todbringenden Erkrankungen einen idealen Boden zu bereiten. Welche medizinischen Empfehlungen zur Prophylaxe und Behandlung sich aus diesen Vorstellungen ergaben, wollen wir im Folgenden anhand dreier Fallbeispiele eingehender betrachten.

Der Tod im Getreide

Um die Mitte des 9. Jahrhunderts findet sich in den Xantener Annalen der früheste schriftliche Beleg für ein massenhaftes Auftreten des so genannten „Heiligen Feuers“ (ignis sacer) am Niederrhein.12 Darin heißt es: Anno DCCCLVII. Plaga magna vesicarum turgentium grassatur in populo et destabili eos putredine consumpsit, ita ut membra dissoluta ante mortem decide ← 23 | 24 → rent. Verschiedene Quellen, so etwa die Jahrbücher von Fulda und Magdeburg, berichten von vorausgehenden Missernten und Hungersnöten.13 Die Beschreibung der Plage deutet darauf hin, dass das Massensterben in engem Zusammenhang mit der großen Nahrungsmittelknappheit stand. Bis zum Ende des 11. Jahrhunderts häufen sich Berichte, in denen immer wieder vom „Heiligen Feuer“ die Rede ist, das in steter Regelmäßigkeit auf schlechte Ernten folgte. Die leidgeprüften Opfer und ihre Angehörigen suchten Hilfe bei den Heiligen. So erzählt der burgundische Mönch Radulf Glaber, dass angesichts eines neuerlichen Auftretens des gefürchteten Phänomens im Jahre 997 unzählige Menschen zum Grab des kurz zuvor verstorbenen Cluniazenser-Abtes Maiolus († 994) nach Souvigny pilgerten, um dessen Beistand als himmlischer Fürsprecher zu erflehen.14 Kaum ein Jahrhundert später, 1089, beschreibt der Benediktiner Siegebert von Gembloux (um 1030–1112) als Augenzeuge die verheerende Wirkung des „Heiligen Feuers“.15 Besonders im Westen Lothringens habe dieses Leiden viele Opfer gefordert. Die Unglücklichen, deren Inneres vom „Heiligen Feuer“ verzehrt wurde, verfaulten den bewegten Worten des Chronisten zufolge bei lebendigem Leibe mit zerfressenen, verkohlten Gliedmaßen. Wer nicht starb, der war den Ausführungen zufolge zu einem noch viel elenderen Leben verdammt, nachdem sich die abgestorbenen Hände und Füße vom Körper abgelöst hatten und schmerzvolle Krämpfe ihr Siechtum begleiteten.

Siegeberts ausführliche Beschreibung des „Heiligen Feuers“ weist eine unverkennbare Ähnlichkeit zu den Symptomen der heute mit dem Namen Ergotismus bezeichneten Vergiftung durch Mutterkornalkaloide wie etwa Ergotamin auf.16 Solche Stoffe finden sich vor allem im so genannten „Mutterkorn“, den Sklerotien des Schlauchpilzes „Claviceps pur ← 24 | 25 → purea“, der als Parasit bevorzugt auf Roggen, aber auch auf anderen Süßgräsern wächst. Dabei gedeihen die parasitären Pilze am besten bei solchen Witterungsverhältnissen, die ungünstig auf das Getreidewachstum wirken und schlechte Ernten bedingen.17 Der Roggen war in weiten Teilen des mittelalterlichen Europa, so etwa im Norden und Osten des heutigen Deutschland, die mit Abstand am häufigsten verwendete Getreidesorte zum Brotbacken.18 Beim Mahlen des vom Mutterkorn befallenen Getreides gelangten mitunter große Mengen des Gifts ins Mehl. Untersuchungen haben ergeben, dass der Gesamtanteil des vermahlenen Mutterkorns während des 17. und 18. Jahrhunderts bis zu einem Drittel des Gesamtvolumens ausmachte. Dies legt die Vermutung nahe, dass sich die Verhältnisse während des Mittelalters durchaus ähnlich gestaltet haben könnten. Dabei sind Verunreinigungen des Getreides durch Mutterkornalkaloide keinesfalls ein Phänomen der Vergangenheit. In Deutschland kam es noch 1985 zu einer Vergiftung durch mutterkornhaltiges Müsli und Stichproben der Untersuchungsämter bei Getreideprodukten ergaben bis in die jüngste Vergangenheit mitunter Ergotamin-Werte, deren Höhe als gesundheitsschädlich eingestuft wird.19 Finden Mutterkornalkaloide und deren Derivate heute auch in Arzneimitteln zur Behandlung von Migräne oder der Parkinson-Krankheit kontrolliert Verwendung, so kann eine Überdosierung schwerwiegende Gesundheitsstörungen hervorrufen. Eine Ergotamin-Vergiftung führt zu einer starken Verengung der Blutgefäße, die sich insbesondere auf den Herzmuskel, die Nieren und die Glieder auswirkt. Diese Gesundheitsstörung wird begleitet von einer Parästhesie, einem unangenehmen Hautkribbeln, weshalb der Ergotismus in früheren Jahrhunderten auch als „Kriebelkrankheit“ bezeichnet wurde.20 Im weiteren Verlauf kommt es zu Empfindungsstörungen, Lähmungen und sehr schmerzhaften Kontraktionen der Muskeln bis hin zum Dauerkrampf. Zu den weiteren Symptomen der Mutter ← 25 | 26 → kornvergiftung zählen Verwirrtheit, Halluzinationen, starke Kopfschmerzen, Erbrechen, Durchfall und ein unstillbares Durstgefühl.21 Anhaltende Durchblutungsstörungen gipfeln schließlich in einer Gangrän: Gliedmaßen werden brandig und sterben ab. Nach qualvollem Leiden folgt der Tod durch Herz- oder Atemstillstand. Die heute beobachteten Erscheinungsformen des Ergotismus weisen deutliche Parallelen zu den mittelalterlich-frühneuzeitlichen Beschreibungen und zu bildlichen Darstellungen des „Heiligen Feuers“ auf. Dieser Name weist unmissverständlich darauf hin, dass die Zeitgenossen ein Auftreten der Plage als Ausdruck göttlichen Zorns betrachteten. Dennoch scheint man schon bald den Verdacht gehegt zu haben, dass irgendein Zusammenhang zwischen der Ernährung und dem Erscheinen des „Heiligen Feuers“ bestehen könnte. Zumindest spielten Speise und Trank bei der Behandlung der unter den grauenerregenden Auswirkungen des Phänomens leidenden Opfer durch den Orden der Antoniter eine herausragende Rolle.

Antoniuswein und „schönes“ Brot

Die Antoniter sind als die älteste spezialisierte Hospitalgemeinschaft zur Krankenpflege bekannt.22 Ihre Ursprünge liegen in dem Dorf La-Motte-au-Bois nahe Grenoble in der Dauphiné. Hierher gelangten der Überlieferung zufolge um 1070 Reliquien des Heiligen Antonius, die ein einheimischer Ritter aus dem Orient mitgebracht hatte.23 Einige Jahre später, 1083, wurde das kleine Gotteshaus, das die wertvollen Gebeine beherbergte, durch eine Schenkung der Benediktinerabtei St. Pierre in Mont ← 26 | 27 → majour bei Arles übertragen. Inzwischen hatte der Ort, an dem sich eine Laienbruderschaft herausgebildet hatte, seinen ursprünglichen Namen bereits in Saint-Antoine geändert. Die letzte Ruhestätte des Mönchsvaters zog Scharen von Pilgern an. Förderlich wirkte dabei fraglos die Nähe zu einem der Hauptwege, die nach Santiago de Compostela führten. Die Brüder kümmerten sich um die Versorgung der Wallfahrer ebenso wie um die Pflege der Kranken. Noch vor 1130 hatte die Gemeinschaft ein Haus in Saint-Antoine errichtet, in dem insbesondere Opfern des „Heiligen Feuers“ Obdach und Hilfe geboten wurden. Die Kunde von den besonderen Diensten der Antoniter verbreitete sich nicht zuletzt durch die Jakobs-Pilger. Als Papst Innozenz IV. (ca. 1195–1254) die Bruderschaft im Jahre 1247 schließlich zum Orden erhob, umfasste ihr europaweites, durch Schenkungen beständig wachsendes Netz bereits über 370 Niederlassungen.24 Mit der Spezialisierung der Gemeinschaft wurde die Bezeichnung „Heiliges Feuer“ allmählich durch den Namen „Antoniusfeuer“ überlagert, der allerdings im Orden selbst wohl nie verwendet wurde.25 Zugleich wurde dem heiligen Antonius eine herausragende Rolle als himmlischer Fürsprecher für die Opfer der Krankheit zugeschrieben. Daraus entwickelte sich aber auch die Vorstellung, Antonius könne höchstpersönlich für einen sündhaften Lebenswandel mit dem Leiden strafen. Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Schriftzeugnisse erlauben Einblicke in den Umgang der Antoniter mit den Kranken. Dieser ist gekennzeichnet durch ein unmittelbares Zusammenwirken von Glauben und Heilkunst. Der Beistand seines heiligen Patrons galt für den Orden als Grundpfeiler der Krankenpflege. Obwohl die ‚irdischen‘ Ursachen des „Heiligen Feuers“ erst im 17. Jahrhundert erkannt wurden und die Schäden, die durch die Vergiftung mit dem Mutterkorn an den Gliedmaßen verursacht worden waren, irreversibel blieben, wählten die Antoniter doch zufällig oder intuitiv wirksame therapeutische Maßnahmen, um das Leiden wenigstens zu lindern und dessen Tod bringenden Fortschritt aufzuhalten.26 Ein erster Schritt in diese Richtung ← 27 | 28 → war, dass den Kranken vom Zeitpunkt ihrer Aufnahme im Antoniterspital an ausschließlich solches Brot gereicht wurde, das garantiert frei von Mutterkorn (weil vermutlich aus reinem Weizenmehl gebacken) –war.27 Weizen stellte höhere Ansprüche an den Boden als Roggen28 und brachte geringere Erträge. Mithin war der Weizen das teuerste Getreide, aus dem entsprechend „schönes“ Brot gebacken wurde. Dass solch gute Kost zugleich einen guten Schutz vor einer weiteren Aufnahme von Ergotin mit sich brachte, fügte sich gerade in den Niederlassungen der Antoniter in besonderer Weise zum Wohle der Kranken. Immerhin war Weizen weit weniger anfällig für das parasitäre Mutterkorn als Roggen. Therapeutische Effekte erzielte die Pflegegemeinschaft aber vor allem durch den so genannten Antoniuswein, den man die Hilfesuchenden bei ihrer Aufnahme ins Spital trinken ließ. Der Rebensaft war zuvor mit einer Reliquie des heiligen Antonius in Berührung gebracht und mit verschiedenen Heilkräutern versetzt worden. Diese Schätze aus der Apotheke der Natur sind auf dem Altar verewigt, den Matthias Grünewald († um 1530) zu Beginn des 16. Jahrhunderts für das Ordenshaus der Antoniter im elsässischen Isenheim schuf.29 Heute befindet sich das religiöse Kunstwerk im Musée d’Unterlinden in Colmar. Auf einem der Altarflügel lassen sich vierzehn Kräutergewächse erkennen und identifizieren. Während einige dieser Heilkräuter harntreibend und abführend wirken, was die Entgiftung der Kranken beschleunigte, fördern andere die Gefäßerweiterung und helfen so, das Absterben von Gliedmaßen zu verhindern. Die übrigen Arzneipflanzen sind für ihre betäubende und schmerzstillende sowie ihre antibakterielle und blutstillende Wirkung bekannt. Auch in Wasser gelöst fanden diese pflanzlichen Drogen bei der Krankenpflege in den Antoniterhäusern Verwendung. War die Vergiftung bereits so weit fortgeschritten, dass die Extremitäten brandig geworden waren, kam eine derartige Hilfe indes zu spät. Übrig blieb dann nur noch die Amputation, um so möglicherweise das Leben des Kranken zu retten. Die Wunden wurden nach dem Eingriff mit einem ← 28 | 29 → speziellen Balsam versorgt, für dessen Herstellung im Wesentlichen die gleichen Heilkräuter verwendet wurden, die auch dem Antoniuswein beigemengt wurden.30

Hatten Speise und Trank in den Niederlassungen des Antoniter-Ordens im aufgezeigten Rahmen therapeutische Funktion, so hatten Ernährungsempfehlungen im Fall der Lepra vor allem die Prophylaxe im Blick. Der Katalog vermeintlich leprafördernder Nahrungsmittel war dabei variabel. Er orientierte sich sowohl daran, welche Säfte von den Heilkundigen für die Entstehung der Krankheit verantwortlich gemacht wurden, wie auch an den jeweils typischen Ernährungsgewohnheiten im zeitlichen Wandel. Die Vorstellung, dass „man ist, was man isst“, die der Philosoph und Anthropologe Ludwig Andreas Feuerbach (1804–1872) im Jahre 1850 in seiner Rezension zur Schrift „Lehre der Nahrungsmittel für das Volk“ des niederländischen Arztes Jakob Moleschott (1822–1893) zum Ausdruck brachte und die seither zu einem geflügelten Wort geworden ist, war zu dieser Zeit alles andere als neu.31 Bereits Heilkundige der Vormoderne hatten die Ansicht vertreten, dass der Mensch Eigenschaften dessen übernehmen könne, was im Übermaß auf seinem Speiseplan stünde.

Die Kranken mit dem Löwengesicht oder „Man wird zu dem, was man isst“

In seinem Traktat „Curae“, auch „Practica brevis“ genannt und vor 1150 in Salerno verfasst, warnte der heilkundige Autor Johannes Platearius nachdrücklich vor dem übermäßigen Genuss melancholischer und cholerischer Speisen.32 Neben verunreinigter Luft und einem direkten Umgang mit bereits Erkrankten erachtete der Arzt unter anderem die Ernährungsweise als mögliche Ursache für die Entstehung der Lepra. Der Verzehr von verdorbenem Schweinefleisch oder die Verwendung von zu viel Pfeffer und Knoblauch leisteten nach seiner Auffassung einer Lepraerkrankung Vorschub, weil dadurch das Gleichgewicht der Säfte durcheinandergebracht und der Fluss der schwarzen oder der gelben ← 29 | 30 → Galle in gesundheitsschädigender Weise angeregt wurde. Außer den Nahrungsmitteln, die Platearius fraglos aus der regionalen, zeittypischen Küche kannte, findet sich auf seiner Liste gefährlicher Speisen auch Löwenfleisch. Es steht zu bezweifeln, dass eine derart exotisch anmutende Zutat im Italien des 12. Jahrhunderts tatsächlich auf dem Speiseplan stand. Wahrscheinlicher ist, dass der Salernitaner diese Empfehlung aus einem weit älteren medizinischen Kompendium aus Kleinasien übernommen hatte, wo es in der Spätantike noch Löwen gab.33 Dass Platearius in seiner Aufzählung Löwenfleisch nennt, obwohl dieses in der zeitgenössischen italienischen Küche gar keine Verwendung fand, erklärt sich mit Blick auf das Erscheinungsbild der Lepra in ihren heute bekannten Formen. Diese unterscheiden sich nicht wesentlich von mittelalterlich-frühneuzeitlichen Darstellungen der Krankheit.

Der Lepraerreger, das erstmals 1873 durch den Norweger Gerhard Armauer Hansen (1841–1912) nachgewiesene „Mycobacterium leprae“, wird zumeist über den Nasen-Rachen-Raum durch Tröpfchen- oder Schmutzinfektion übertragen.34 Unzureichende persönliche Hygiene und mangelnde Reinlichkeit der Wohnung begünstigen die Ausbreitung des Erregers. Die Rolle der Ernährung wird dabei heute als zweitrangig eingestuft.35 Das intrazellulär lebende Mycobacterium ist nur schwach virulent und wird durch das menschliche Immunsystem zumeist symptomlos abgewehrt. So blieb die Lepra zu allen Zeiten das grausame Schicksal Einzelner. Die Inkubationszeit kann sehr lang sein und sich in Einzelfällen auf mehrere Jahrzehnte belaufen.36 Der Lepraerreger ist nur für den Menschen pathogen, was die moderne Wirkstoff-Forschung noch immer ← 30 | 31 → vor Probleme stellt. Bis heute ist es nicht gelungen, Mycobacterium leprae in vitro auf einem Nährboden zu kultivieren.37

Die Lepra tritt in verschiedenen Verlaufsformen auf. Die so genannte tuberkuloide Form ist gekennzeichnet durch einen Befall des Haut- und Nervengewebes und wird durch de- oder hyperpigmentierte, manchmal gerötete und stets gefühllose Hautflecken sichtbar. Im Nacken und an den Gliedmaßen kommt es zu knotenartigen Aufreibungen der Nervenstränge (lepra nervosa). Bei niedriger Resistenz gegen den Erreger, verbunden mit einer verzögerten oder gar ausbleibenden Immunreaktion, äußert sich die Krankheit in ihrer virulenteren, der so genannten lepromatösen Form. Dabei vermehrt sich das Mycobacterium ungebremst im Körper, vor allem in den Nervenscheiden. Braunrote, gefühllose Flecken werden auf der Haut sichtbar. Vor allem im Gesicht bilden sich bereits in einem frühen Stadium der Krankheit knotige Infiltrate. Die Aufreibung der Nervenstränge führt in der weiteren Folge dazu, dass die Kranken ihre Augen nicht mehr schließen können und erblinden. Auf den Schleimhäuten des Nasen-Rachen-Raumes entstehen Geschwüre, die sich einhergehend mit einer Veränderung des Kehlkopfes auf die Stimme auswirken. Diese nimmt einen heiseren, kratzigen Klang an. Sobald der Erreger in die Blutbahn eingedrungen ist, beginnt der Befall der inneren Organe. Durch die Gefühllosigkeit der Hautflecken bleiben Verletzungen oftmals unbemerkt, was eine fortschreitende Zerstörung des Gewebes und die Entwicklung von Entzündungen begünstigt. Dadurch können sowohl bei der tuberkuloiden wie auch bei der lepromatösen Form der Lepra Verstümmelungen der Gliedmaßen und neurologische Störungen auftreten. Die Knoten im Gesicht verschmelzen in einem fortgeschrittenen Stadium der Krankheit zum so genannten „Löwengesicht“ (facies leontina). Typisch für die Entstellung ist dabei auch der Einfall der Nase, da der Erreger auch Knochen und Knorpel angreift. Eben dieses Bild stand Johannes Platearius offenbar vor Augen, als er dem Verzehr von Löwenfleisch eine leprafördernde Wirkung zuschrieb. Die Erwähnung hat mithin einen zutiefst symbolischen Charakter, der sich aus dem wohl auffälligsten Symptom der Lepra ableitete.

In späteren medizinischen Kompendien des Mittelalters fand dieses Denkmodell allerdings keinen Niederschlag mehr. Vielmehr erachteten Arnald von Villanova (ca. 1235–1311) und sein englischer Zeitgenosse John von Gaddesden (ca. 1280–1348/49) Speisen, denen überwiegend phleg ← 31 | 32 → matische und melancholische Eigenschaften zugeschrieben wurden, als förderlich für eine Lepra-Erkrankung.38 Hierzu zählten sie neben dem Fleisch von Rind, Kuh und Ziegenbock verschiedene Kräuter, Kohl, Linsen, Zwiebeln, Knoblauch und Käse. Guglielmo da Saliceto (ca. 1210– ca. 1280), Professor für Medizin an der Universität von Bologna, betonte bei seinen Ausführungen über den Zusammenhang zwischen der Ernährung und der Gefahr, von der Lepra befallen zu werden, dass der Verzehr von Birnen ebenso gesundheitsgefährdend sei wie der von Kohl.39 Auf seiner schwarzen Liste standen außerdem Pilze, Trüffeln, Essig und Wildbret wie Hase, Fuchs oder Wolf.

Die medizinischen Empfehlungen erlauben mit ihren Aufzählungen von Nahrungsmitteln zugleich einen kleinen Einblick in die regionalen Kochtöpfe. War der Pfeffer, vor dessen Genuss Johannes Platearius so eindringlich warnte, ein Luxusgut aus dem Orient, das sich ebenso wie Trüffeln – schon gar in größeren Mengen – vor allem auf den Tellern der Wohlhabenden fand, dürfte das ebenfalls von ihm als bedenklich eingeschätzte verdorbene Schweinefleisch wahrscheinlich von Arm und Reich gleichermaßen verzehrt worden sein.40

Gleiches gilt für bestimmte Sorten von Wild. Insbesondere die Jagd auf das so genannte Hochwild, zu dem in manchen Regionen auch der Bär, der Fasan oder der Luchs gezählt wurden, war ein Privileg des Adels.41 Hasen und anderes Niederwild durften indes von jedermann frei gejagt werden und trugen zu einer Bereicherung des Speiseplans bei. Die meisten der Nahrungsmittel, von deren übermäßigem Verzehr die zeitgenössischen Ärzte so dringend abrieten, waren zweifelsohne fester Bestandteil einer für die allermeisten erschwinglichen Alltagsküche. ← 32 | 33 →

Dienten die diätetischen Empfehlungen der Heilkundigen der Lepraprophylaxe, so lässt sich beobachten, dass diese Ratschläge zu einer gesunden Ernährung in den Leprosorien offenbar keine Beachtung geschenkt wurde. Die Küchenordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts für das Leprosorium „Kinderhaus“ außerhalb der westfälischen Stadt Münster belegen, dass die Kost der Spitalinsassen zwar insgesamt wenig abwechslungsreich, aber wohl besser war als die der meisten Handwerker in der Stadt.42 Exotische Gewürze hatten in der vor allem deftigen Küche allerdings noch keinen Platz. Auch Wein und Weißbrot gab es nur an Festtagen. Dafür konsumierten die Bewohner von Münster-Kinderhaus große Mengen an Fleisch. Eine Hochrechnung der täglich gereichten Mengen ergibt, dass der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch an Fleisch 1558 deutlich über 100 Kilogramm lag.43 Dabei handelte es sich vor allem um Rindfleisch, aus dem der so genannte Potthast zubereitet wurde, ein typisch westfälisches, in der Region noch heute verbreitetes Gericht in Form einer Würzbrühe, in der die kleingeschnittenen Fleischstückchen gekocht werden. Der Pfeffer, der heute unbedingt in das Gericht gehört, war in früheren Jahrhunderten nicht zuletzt aus Kostengründen noch kein typischer Bestandteil des Potthasts. Neben Fleisch bestand die Kost in „Kinderhaus“ zumeist aus konserviertem Fisch, Hülsenfrüchten wie Erbsen, Kohl, Rüben, Käse und Brot.44 Damit enthielt der Speiseplan gleich eine ganze Reihe von Nahrungsmitteln, die gemäß den diätetischen Empfehlungen der Ärzte in Verdacht standen, den Fluss der schwarzen Galle und damit die Lepra zu fördern. Im Gegensatz zur Kost in den Antoniterspitälern, die die Krankenpflege gewissermaßen therapeutisch unterstützte, wurden derartige Ansprüche für die Ernährung in Leprosorien augenscheinlich zu keiner Zeit erhoben. Eine wie auch immer geartete Behandlung der Leprakranken gehörte also nicht zu den definierten Aufgaben der Leprosorien, deren karitative Leistungen auf die Gewährung von Obdach, Kleidung und Nahrung festgelegt war. Mit den bekannten medizinischen Mitteln konnten die Heilkundigen das Voranschreiten der ← 33 | 34 → Krankheit ohnehin nicht aufhalten. Bevor schließlich der Tod infolge einer Sepsis oder eines Organversagens eintrat, erwartete die Kranken mitunter ein langes Siechtum. Im Gegensatz dazu konnte die Pest ihre Opfer schon binnen Stunden dahinraffen.

Böses Blut

Wurde die Lepra nach dem Modell der Vier-Säfte-Lehre durch ein Übermaß an schwarzer Galle hervorgerufen, so wurde das feucht-warme Blut in Zusammenhang mit der Pest als krankheitsfördernder Faktor angeführt.45 Der allgemeinen Vorstellung zufolge stand neben den Miasmen vor allem die Nahrung in Verdacht, den Blutfluss anzuregen und so die Fäulnis der inneren Organe zu bewirken. Angelehnt an diese Vorstellung empfahlen die Heilkundigen, leicht verderbliche und schlecht riechende Nahrungsmittel zu meiden. Mit den Pestregimina und -consilia entstand vor dem Hintergrund der Seuche gegen Mitte des 14. Jahrhunderts eine neuartige medizinische Fachliteratur, in der die Ärzte ihre Verhaltensempfehlungen darlegten. Der Schwerpunkt lag dabei – nicht zuletzt aufgrund des äußerst raschen Krankheitsverlaufs – auf der Prophylaxe. Giovanni Dondi dall’Orologio (1318–1389), der Leibarzt des Bischofs von Mailand, riet in seinem Pestconsilum unter anderem dazu, das kranke Blut im Körper durch Aderlass zu vermindern.46 Ferner empfahl er, Gesicht und Hände regelmäßig mit Rosenwasser und Essig zu waschen sowie trübe Luft und den Südwind zu meiden. Zur Reinigung der Luft in den Wohngemächern hielt es Dondi für ratsam, in den frühen Morgenstunden ein Feuer mit wohlriechenden Hölzern wie Eiche, Esche, Olive und Myrthe zu entfachen. Durch Zugabe von Balsam, Weihrauch oder Sandelholz ließ sich der Effekt des reinigenden Rauches steigern. Auch die Nahrung sollte gemäß den Empfehlungen des Arztes möglichst wohlriechend und entsprechend gewürzt sein. Auf diese Weise angerichtet, konnten Hammel-, Kalb- und Ziegenfleisch ebenso gefahrlos verzehrt werden wie Rebhühner, Fasane und Hühner. Der Genuss von Fisch hingegen galt aufgrund der raschen Verderblichkeit und des unangenehmen Geruchs als Gesundheitsrisiko. Gleiches galt für Birnen ← 34 | 35 → und andere süße, leicht faulende Früchte. Wein und Bier konnten nach Dondis Ansicht jedoch gefahrlos genossen werden.

Der umbrische Arzt Gentile da Foligno (1280/1290–1348), Verfasser des ältesten bekannten Pestconsiliums, der bei der Krankenbehandlung in Perugia selbst dem Schwarzen Tod zum Opfer fiel, empfahl, alle Speisen vor dem Verzehr in Wein zu tauchen.47 Der Heilkundige war davon überzeugt, dass besonders Saures der Fäulnis im Inneren des Körpers entgegenwirken könne. Darüber hinaus riet er, warmen Gerichten stets Campher, kalten hingegen Mooskraut beizufügen, um einen intensiven Geruch zu erzeugen. In Pulverform wird der scharf-bitter schmeckende und ähnlich wie Eukalyptus riechende Campher vor allem aus der Rinde und dem Harz des gleichnamigen, in Asien beheimateten Baumes gewonnen, ist aber auch in ätherischen Ölen etwa von Lorbeergewächsen enthalten.

Für die vergeblichen Versuche der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Ärzte, die an der Pest Erkrankten vor dem Tod zu retten, spielte die Ernährung keine Rolle. Aderlass, Isolierung und Theriak waren die drei Grundpfeiler, auf denen der aussichtslose Kampf gegen einen übermächtigen Gegner fußte.

Details

Seiten
314
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653043198
ISBN (ePUB)
9783653981483
ISBN (MOBI)
9783653981476
ISBN (Hardcover)
9783631652473
DOI
10.3726/978-3-653-04319-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Schlagworte
Kochrezepttexte Ernährungslehre Codex germanicus monacensis 415 Gesundheitslehre
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 314 S., 3 farb. Abb., 10 s/w Abb.

Biographische Angaben

Andrea Hofmeister-Winter (Band-Herausgeber:in) Helmut W. Klug (Band-Herausgeber:in) Karin Kranich (Band-Herausgeber:in)

Die Herausgeber/innen forschen und lehren am Institut für Germanistik der Universität Graz und haben in den letzten Jahren mit ihren Arbeiten zum Bereich der theoretischen und praktischen Erforschung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kulinarik richtungsweisende Akzente gesetzt.

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Titel: Der Koch ist der bessere Arzt
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