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Erschwerte Lektüren

Der literarische Text im 20. Jahrhundert als Herausforderung für den Leser

von Helke Kuhn (Band-Herausgeber:in) Beatrice Nickel (Band-Herausgeber:in)
©2015 Konferenzband 253 Seiten

Zusammenfassung

Im 20. Jahrhundert werden verstärkt abstrakte literarische Texte erzeugt, die als semiotische Angebote komponiert sind. Die Generierung der semantischen Dimension des Textes wird dabei in unterschiedlichem Maße an den Leser delegiert, und zwar im Sinne nicht abschließbarer, auf semiotischen Strukturen basierender Interpretationsprozesse oder der Generierung von literarischen Texten, die der Autor dem Leser in Form von potenziellen Texten oder Textangeboten bereitgestellt hat. Dieser Band verfolgt das Ziel, den literarischen Text im 20. Jahrhundert als Herausforderung und zugleich als Provokation zur Sinnproduktion für den Leser zu erfassen und an mustergültigen Fallstudien aus dem gesamten Bereich der Romania und dem gesamten Bereich der Literatur zu erläutern.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Literatur
  • Apollinaire: Les Fenêtres (1915) – Manifest einer ‚ganz neuen Ästhetik‘
  • 1.
  • 2.
  • 3.
  • Literatur
  • Die schon vollzogene Revolution: Die Gleichzeitigkeit von Forderung und Umsetzung in Sept manifestes Dada (1924) von Tristan Tzara und Projet pour une révolution à New York (1970) von Alain Robbe-Grillet
  • Literatur
  • Leserherausforderung als Bedingung für Weltliteratur? S. Beckett, M. Duras, O. Paz und D. Ribeiro im Suhrkamp-Nachlass
  • 1. Das Spannungsfeld Weltliteratur – Literaturen der Welt
  • 2. Das Siegfried Unseld Archiv im Deutschen Literaturarchiv in Marbach
  • 3. Dominante Rezeptionsmuster: Exterritorialität und Leserherausforderung
  • 3.1 Samuel Beckett: Exterritorialität als Leserherausforderung
  • 3.2 Duras: Exterritorialität und Leserherausforderung als exotistisches Außerhalb
  • 3.3 Octavio Paz: Exterritorialität als Essentialismus
  • 3.4 Darcy Ribeiro
  • 4. Schlussbetrachtungen
  • Literatur
  • Lesererwartung und ‚Leser(ent)täuschung‘: Zur nouvelle nouvelle
  • 1. Einleitung
  • 2. Beispielnovellen
  • 2.1 Le mannequin (1954)
  • 2.2 Scène (1955)
  • 2.3 La chambre secrète
  • 3. Fazit
  • Literatur
  • Oulipo, das kombinatorische Buch und die Künstlerbuchbewegung
  • 1. Literatur der Potenzialität: Oulipo
  • 2. Kombinatorik als Stimulus des Schreibens und Lesens
  • 3. ‚Buchwerke‘ und ihre Kombinatorik
  • 4. Literarisch-kombinatorische Experimente und die Modifikation der Buchform
  • 5. Spiele und Spielpartien
  • 6. Materialitäten: Papier, Pappe und andere Stoffe
  • Literatur
  • Il libro delle letture incrociate – Italo Calvinos Schloss, in dem sich Autor, Erzähler und Leser kreuzen
  • Literatur
  • Inizi difficili – Das Incipit als Problemzone im italienischen Roman der Moderne
  • Kleine Typologie des Romananfangs
  • Dekadentistische Objektüberfülle: Il piacere (D’Annunzio)
  • Am vitalen Großstadtrand: Ragazzi di vita (Pasolini)
  • Vom Erzählen erzählen: Se una notte d’inverno un viaggiatore (Calvino)
  • PTRAC! Car Crash auf der Goldfinch Avenue: Uccelli da gabbia (De Carlo)
  • Literatur
  • Sinn-Bilder und optische Texte – Lesen als Herausforderung für das Auge in den Romanen Georges Perecs
  • Literatur
  • Der baskische Roman als nationalismuskritische Provokation und Herausforderung an den Leser. 100 metros (1976) von Ramón Saizarbitoria
  • 1. 100 metros als Herausforderung an die baskische Literaturgeschichte
  • 2. 100 metros als Herausforderung an identitätsbezogene Binarismen
  • Literatur
  • Archäologiefiktion im französischen Gegenwartsroman. Alain Nadauds Archéologie du zéro (1984)
  • Literatur
  • Das geschichtliche Palimpsest im französischen Kriminalroman der 80er und 90er Jahre
  • Einleitung: Kriminalroman und Vergangenheit
  • 1. Die Geschichte der Einwanderung in Frankreich
  • 2. Das gefälschte Wahrheitsprinzip
  • 3. Der Mythos des verlorenen Paradies
  • Schlussfolgerung: eine räumlich-ideologische Verschiebung?
  • Literatur
  • Im Labyrinth paradoxaler Widersprüche. Die Poetik der Ambivalenz in Ermanno Cavazzonis Le tentazioni di Girolamo (1991)
  • 1. Girolamo als (Schlaf-)Wandelnder in der labyrinthischen Kellerbibliothek
  • 2. Girolamo als verzweifelnder Leser
  • 3. Girolamo als unfreiwilliger Zuhörer
  • 4. Girolamo als Heimkehrender oder als Erwachender
  • 5. Schlussbemerkung: Die Poetik der Ambivalenz
  • Literatur
  • Neobarocke Ästhetik, Chaos und Opazität als rezeptionsästhetische Herausforderung in postkolonialen Literaturen am Beispiel von Édouard Glissants Tout-monde (1993)
  • 1. Das theoretisches Konzept der Opazität (opacité)
  • 2. Tout-monde
  • 2.1 Der tourbillon des Romananfangs
  • 2.2 Fraktale Raumphilosophie und barocke Symbolik
  • 2.2.1 „Il y a une grotte qui perce l’île de part en part…“
  • 2.2.2 Der tout-monde als fraktales Gebilde
  • 3. Schlussbetrachtung
  • Literatur
  • Affektstörung? Optische, akustische und rhythmische Illusionen in Jean Echenoz’ Je m’en vais (1999)
  • 1. Die emotionalen Herausforderungen der Lektüre
  • 2. Emotionen als Herausforderung für die Literaturwissenschaft
  • 3. Möglichkeiten der emotionalen Partizipation an Je m’en vais
  • 4. Die Herausforderungen der postmodernen Literatur
  • Literatur
  • Huir de la espiral (2010). Nivaria Tejeras Exilpoetik und die textuelle Entortung des Subjekts
  • 1. Einleitung
  • 2. Körper-Text und Rhythmik
  • 3. Rufende Stille
  • 4. Fazit
  • Literatur
  • Literatur, E-Books und Web 2.0. Die Appellstruktur des Internets
  • 1. Das Web 2.0
  • 2. Google und der Aufschwung des E-Books
  • 3. E-Book: Vorteile und Nachteile
  • 4. E-Books und Verlage
  • 5. Digitale Texte, E-Book: Neue Lesegewohnheiten, neue Schreibstile
  • 6. Schlussbemerkung
  • 7. Literatur

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Vorwort

Mit der verstärkten Autonomisierung poetischer Funktionen wird die Produktion literarischer Texte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Maße als Verfertigung eines autoreferentiellen semiotischen Fabrikats verstanden, wohingegen der diskursive und pragmatische Aspekt der sprachkünstlerischen Produktion immer weiter marginalisiert wird. Dies führt im 20. Jahrhundert zur Erzeugung ‚abstrakter‘ Texte, die als semiotische Angebote komponiert werden. Die Generierung der semantischen Dimension des Textes wird dabei in unterschiedlichem Maße an den Leser delegiert, und zwar im Sinne nicht abschließbarer, auf semiotischen Strukturen basierender Interpretationsprozesse. Wenn im Sinne eines Kommunikationsmodells eine Botschaft vom Autor an den Leser ausgeht, dann ist es die Botschaft, die in der Struktur des Konstrukts selbst angelegt ist und damit eine Aussage über dessen poetische Faktur enthält. Weiter gehende Sinnzuweisungen sind dann in der Regel die Aufgabe des Rezipienten.

Spätestens ab dem 19. Jahrhundert steht Lyrik in dem Ruf, die Lektüre bewusst zu erschweren. Im 20. Jahrhundert hingegen gilt dies nicht mehr allein für die Lyrik, sondern für die Literatur im Allgemeinen. Signifikanterweise ist nur ein Beitrag des vorliegenden Bandes dem Bereich der Lyrik gewidmet. Dies bildet den Umstand ab, dass das Privileg einer anspruchsvollen Rezeption im 20. Jahrhundert nicht mehr allein der Lyrik zukommt und die Narrativik und Dramatik – trotz allen kritischen Potenzials, das sie besitzen können, – nicht mehr zu einem großen Teil der Unterhaltung dienen.

Generell gilt, dass sich die Lektüre eines poetischen Textes aus dem 20. Jahrhundert von einem Großteil der derjenigen aus früheren Zeiten dadurch unterscheidet, dass der Autor dem Leser oftmals nur Sinnangebote und Fragmente bereitstellt, die der Leser in eigene Sinnzusammenhänge und „in Kontexte erläuternder übergreifender Art […]“ (Schmidt: 1974, 87) stellen muss. Hat Umberto Eco auch auf „quella basilare apertura di ogni opera d’arte […]“1 (Eco: 62004, 115) beharrt, so kann und muss dennoch festgehalten werden, dass diese in vielen Texten aus dem vergangenen Jahrhundert um ein Vielfaches gesteigert ist. Hier geht es oftmals geradezu um eine poetische Inszenierung von Bedeutungspluralität. Interpretatorische Offenheit ist zwar ein prinzipielles Merkmal jedes Kunstwerkes, der Grad an Offenheit kann jedoch erheblich variieren. Folglich kann der Leser die Literatur des hier gewählten Zeitraums nicht konsumieren, ← 7 | 8 → sondern muss an ihr schöpferisch tätig werden und konkurriert im Extremfall mit dem Autor. Damit besitzt die folgende Aussage für die Literatur des 20. Jahrhunderts eine besondere Gültigkeit:

qualsiasi opera d’arte, anche se non si consegna materialmente incompiuta, esige una risposta libera ed inventiva, se non altro perché non può venire realmente compresa se l’interprete non la reinventa in un atto di congenialità con l’autore stesso. (Eco: 62004, 36)

Die Erschwerung des Rezeptionsvorganges stellt dabei keinen Selbstzweck dar, sondern dient vielmehr dazu, die Lektüre zu entautomatisieren.

Poetische Texte aus dem 20. Jahrhundert verwenden das sprachliche Material, aus dem sie gebildet werden, nicht mehr als transparentes Medium, das der Übermittlung einer Botschaft dient, sondern dieses sprachliche Material, die Textstrukturen werden selbst Teil der ästhetischen Botschaft – Marshall McLuhan formuliert dies in den 1960er Jahren in seinem berühmt geworden Theorem „The medium is the message“ aus Understanding Media (1964). Und auch die Abweichungspoetik der russischen Formalisten beruht auf der Definition von Kunst – und damit maßgeblich auch von Literatur – als einem „Verfahren der erschwerten Form“ und der „Verfremdung“ (Šklovskij: 51994, 15).

Der Autor weist dem Rezipienten im System von Autor, Text und Rezipient die Funktion des Generators von Sinn zu, der die Semiosen in einer nicht kalkulierbaren Weise vollzieht. Diese Herausforderung an den Leser ist eine der grundlegenden Innovationen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, die auch theoretische und methodische Implikation hinsichtlich der Texthermeneutik vollkommen neu aufstellt. Der Leser tritt im Laufe des 20. Jahrhunderts verstärkt in Konkurrenz zum Autor, und das heißt, dass Produktion und Rezeption im Extremfall nicht mehr kategorial voneinander zu trennen sind. Im Ergebnis wird der Leser zum Zeugen von „La mort de l’auteur“ (Barthes: 1984), den Roland Barthes proklamiert hat. Betrachten wir als ein konkretes Beispiel die Cent mille milliards de poèmes (1961) des OuLiPo-Mitglieds Raymond Queneau: Hier hat der Dichter dem Leser Material für 1014 grammatikalisch korrekte Sonette an die Hand gegeben, allein deren konkrete Realisierung hat er vollständig an den Leser delegiert. Dies ist in der Literatur nicht nur in materialer Hinsicht der Fall, sondern gilt gleichermaßen für Prozesse der Semantisierung und Sinnfindung bei Texten, die für den Leser lediglich Sinnangebote darstellen. Aber auch bei äußerlich ‚fertigen‘ Texten, nämlich solchen, bei denen dem Leser der Text zumindest als vom Autor definierter Korpus vorliegt, kann es zu einem Missverhältnis zwischen vom Autor mit Sinn belegten und vom Leser zu füllenden Leerstellen – im Bereich der Syntax, der Pragmatik oder der Semantik – kommen. Diese Texte ← 8 | 9 → besitzen auf geradezu idealtypische Weise jene „Appellstruktur“ und jene „Unbestimmtheit“ (Iser: 31972), die Wolfgang Iser zu einem Charakteristikum literarischer Prosa erklärt hat.

Ob wir nun vom im Text mitgedachten „impliziten Leser“ bei Iser oder von den beiden Seiten der Text-Leser-Relation bei Jauß, nämlich der „Wirkung als das vom Text bedingte und Rezeption als das vom Adressaten bedingte Element der Konkretisation […]“ (Jauß: 1975, 333) ausgehen, so wird doch in jedem Fall der vieldiskutierte Erwartungshorizont durch den Widerstand des Textes gebrochen und zugleich auch produktiv erweitert. Somit dient die Herausforderung für den Leser einem Horizontwandel nicht nur in Bezug zu literarischen Verfahren, sondern auch zu einem neuen Weltwissen und moralischen Einstellungen. Die folgenden Beiträge zeigen auf unterschiedlichste Weise, wie der Leser aufgrund der – durch Deautomatisierung des Wahrnehmungs- bzw. Lektürevorgangs ausgelösten – Rezeptionserschwernis, mit seinem bisherigen Erwartungshorizont konfrontiert wird und dadurch im Idealfall ein Horizontwandel eingeleitet wird. Obgleich nun nicht mehr von einem banalen Konsumieren des Textes oder einer trivialen Unterhaltung gesprochen werden kann, so findet sich in den in den Beiträgen dieses Bandes exemplarisch vorgestellten Texten nichtsdestoweniger ein „plaisir du texte“ (Barthes: 1973). Dieser resultiert allerdings wohlgemerkt nicht mehr nur aus der semantischen Ebene des Textes, sondern vielmehr aus der kreativen und spielerischen Erneuerung des eigenen Rezeptionsprozesses.

Bei den nachfolgenden Beiträgen handelt es sich – bis auf wenige Ausnahmen – um die ausgearbeiteten Fassungen von Vorträgen, die auf dem XXXIII. Romanistentag (22. bis 25. September 2013, Julius-Maximilians-Universität Würzburg) zum Rahmenthema ‚Romanistik – Herausforderungen und Chancen‘ gehalten wurden, und zwar in der von den beiden Herausgeberinnen geleiteten Sektion. Ziel dieser Sektion war es, den literarischen Text im 20. Jahrhundert als Herausforderung und zugleich als Provokation zur Sinnproduktion für den Leser zu erfassen und an mustergültigen Fallstudien aus dem gesamten Bereich der Romania zu erläutern. Für die damit einhergehende Vielfalt des vorliegenden Bandes möchten wir an dieser Stelle allen Beiträgerinnen und Beiträgern nochmals ganz herzlich danken.

Winfried Wehle interpretiert in seinem Beitrag Guillaume Apollinaires Gedicht Les Fenêtres (1915) als Manifest einer gänzlich neuen Ästhetik, die auch dem Leser eine neue Funktionsbestimmung zuweist, und das heißt vor allem, dass er – ebenso wie der Dichter – dem Prinzip der création verpflichtet sein muss. Die Rezeption besteht vornehmlich darin, die vom Dichter bereitgestellten fragmentarischen Informationen in einen größeren Sinnzusammenhang ← 9 | 10 → zu bringen. Damit wird der Leser zum eigentlichen Vollender des poetischen Textes.

Regina Kauschat zeigt auf, wie Tristan Tzara in Sept manifestes Dada (1924) und Alain Robbe-Grillet in Projet pour une révolution (1970) eine vergleichbare Strategie der Lektüreerschwerung anwenden: Eine Konterkarierung der traditionellen Konzepte des Manifests und der Revolution wird gepaart mit einer emotionalen Herausforderung für den Leser, die sich im Falle Tzaras in paradoxalen Formulierungen, Publikumsbeschimpfungen u.ä. äußert und im Falle Robbe-Grillets primär in der völligen Pervertierung gesellschaftlich tolerierter Vorstellungen von menschlicher Sexualität.

An Textbeispielen von Samuel Beckett, Marguerite Duras, Octavio Paz und Darcy Ribeiro verfolgt Gesine Müller die Frage nach dem hohen Maß an Leserherausforderung als Bedingung weltliterarischer Kanonisierung. Ausgehend vom internationalen Literaturprogramm des Suhrkamp Verlags leisten ihre Überlegungen einen Beitrag zur Diskussion um das Konzept Weltliteratur sowie um weltliterarische Kanonisierungsprozesse.

Mit einer Erschwernis der Lektüre ist immer dann zu rechnen, wenn bestimmte Leseerwartungen nicht erfüllt werden. So ließe sich die Kernthese von Beatrice Nickels Beitrag zusammenfassen. Dies gilt, wie sie aufzeigt, für die ‚nouvelle nouvelle‘ à la Robbe-Grillet, deren Repräsentanten die Instantanés (1963) vereinen. Dieser Novellentypus unterscheidet sich prinzipiell ebenso von der Novelle konventionellen Zuschnitts wie der Nouveau roman des Autors vom realistischen Roman des 19. Jahrhunderts.

Monika Schmitz-Emans’ Beitrag lotet die Chancen und damit die zusätzlichen Semantisierungsebenen in sogenannten Künstlerbüchern oder Buchobjekten seit den 1960er Jahren und die hieraus erwachsenden Momente einer erschwerten Lektüre aus. Der Leser muss hier beispielsweise auch in körperlicher Hinsicht aktiv werden und sich im Extremfall den zu rezipierenden Text zunächst mehr oder weniger hart ‚erarbeiten‘, und das heißt vor allem: Die originäre Leistung des Lesers besteht darin, ein vom Autor im Modus der Möglichkeit bereitgestelltes Textangebot in den Modus der Aktualität zu überführen.

Im Zentrum von Josefine Engmanns Untersuchung steht jene Herausforderung, der sich der Leser stellen muss, wenn ein Autor in seinem literarischen Text gerade die Unzuverlässigkeit des Erzählers in Szene setzt und durch mannigfaltige Textstrategien die bewusste Irreführung des Lesers – zum Beispiel durch eine Pluralisierung der Auslegungen – zelebriert, wie dies für Italo Calvinos Il libro delle letture incrociate (1973) geradezu programmatisch gilt.

Dietrich Scholler untersucht den, sich als hoch verdichtete Textzone erweisenden Incipit der Romane Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979) von ← 10 | 11 → Calvino, Il piacere (1889) von D’Annunzio und Uccelli da gabbia e da voliera (1982) von De Carlo als Problemzone und besondere Hürde für den Leser. Die durch Komplexität resultierende ästhetische Widerständigkeit zwingt den Leser zum verlangsamten Rezeptionstempo und zur vertieften literaturwissenschaftlichen Analyse. Die Lektüreerschwernis stellt sich hier letztendlich als ein im Vergleich zum teilautomatisierten Lesen von Gebrauchstexten deutlich höherer Reiz dar.

Elisa Unkroth stellt die Romane La Disparition (1969), La Vie mode d’emploi (1978) und Un cabinet d’amateur (1979) von Georges Perec als ‚Sinn-Bilder‘ und optische Texte heraus, deren Lektüre als Herausforderung für das Auge zu beschreiben ist. Es bedarf einer Lektüre sehenden Auges, da diese Texte zur Sinnbildung auch die materielle Dimension des Textes anbieten.

Benjamin Inal stellt anhand des Romans 100 metros (1976) von Ramón Saizarbitoria den baskischen Roman als nationalismuskritische Provokation und als Herausforderung für den Leser heraus. Sein Beitrag folgt der Frage, auf Grundlage welcher literarisch-stilistischen Mittel der Text von kaum 100 Seiten zur hermeneutischen Herausforderung wird und inwiefern er diesbezüglich einen besonderen Platz in der baskischen Literaturgeschichte einnimmt.

In ihrem Beitrag zeigt Linda Simonis auf, inwiefern Alain Nadauds Archéologie du zéro (1984) eine doppelte Herausforderung für den Leser darstellt: Erstens muss sich der Leser, ähnlich einem Archäologen, an der Entzifferungsarbeit und damit zugleich an der Gestaltung der histoire aktiv beteiligen. Zweitens muss seine Lektüre der mehrschichtigen Struktur des Romans Rechnung tragen, und zwar dadurch, dass der Leser die unterschiedlichen Ebenen und Bedeutungsdimensionen des Textes erschließt.

Marc Blancher untersucht in seinem Beitrag die Stellung der Einwanderungs- und Integrationsvergangenheit Frankreichs im französischen Kriminalroman der 1980er und 1990er Jahre, wobei er eine Parallele zwischen der Kriminalliteratur und der Geschichtsschreibung zieht. Durch unterschiedliche Formen des Spiels um des Spiels willen, ähnlich wie im Nouveau roman, aber auch durch die räumliche und zeitliche Öffnung des Handlungsablaufes entsteht für den Leser des Kriminalromans ein neues und weitaus noch nicht ausgeschöpftes Interpretationspotential.

Viktoria Adam nimmt in ihrem Beitrag die „Poetik der Ambivalenz“, die sie zur primären Textstrategie des emilianischen Autors Ermanno Cavazzoni erklärt, in seinem Roman Le tentazioni di Girolamo (1991) in den Blick. Aus dieser Poetik resultieren hier sowohl Paradoxa in der erzählten Welt als auch Leerstellen, die der Leser während des Rezeptionsvorganges nicht auffüllen kann, sondern als Momente der bewussten Unvollkommenheit akzeptieren muss. ← 11 | 12 →

Helke Kuhn analysiert in ihrem Beitrag am Beispiel des Romans Tout-monde (1993), inwiefern die rezeptionsästhetische Herausforderung für den Leser der Werke Édouard Glissants aus einer Poetik resultiert, die als ein Zusammenspiel zwischen Opazität, neobarocker Ästhetik und Chaos zu beschreiben ist. Durch die nach dem Prinzip der „démesure de la démesure“ entstandene überbordende écriture entsteht eine Textkomplexität, deren Lektüre zu einer errance gerät, auf dessen unzählige Umwege (détours) der Leser sich einlassen muss.

Am Beispiel des Romans Je m’en vais (1999) von Jean Echenoz zeigt Teresa Hiergeist das durch optische, akustische und rhythmische Illusionen hervorgerufene Emotionalisierungspotenzial des Textes auf. Der Widerspruch, der zwischen der Bedeutung des Textes und der sie konsequent unterlaufenden und abweichenden emotionalen Partizipation besteht, stellt eine in diesem Beitrag zur Darstellung kommende, besondere Herausforderung an den Leser dar.

Andrea Gremels analysiert in ihrem Beitrag zu Nivaria Tejeras Huir de la espiral (2010), inwiefern sich die problematische Situation eines Exilautors auch auf den Leser auswirken kann, wenn die Erfahrung der Ortlosigkeit durch den Text vermittelt wird. Tejera konfrontiert den Leser in ihrem Roman mit der Unfähigkeit des Exilierten, sich zu artikulieren, und zwar in Form eines intermedialen Textes, der nicht nur gelesen, sondern auch gesehen und gehört werden möchte.

Heiner Wittmann präsentiert den Aspekt der Herausforderung für den Leser in seinem Beitrag als Ergebnis einer folgenreichen Medienrevolution. Die Herausforderung ergibt sich hier aus der Ablösung des analogen Mediums Buch durch das digitale Medium Internet und seine völlig neuen Möglichkeiten für Autoren, auf die der Leser jeweils mit einer entsprechend angepassten Rezeptionshaltung reagieren muss.

Helke Kuhn, Beatrice Nickel

Stuttgart, im August 2014

Literatur

Barthes, Roland, Le plaisr du texte, Paris 1973.

Details

Seiten
253
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653043211
ISBN (ePUB)
9783653981520
ISBN (MOBI)
9783653981513
ISBN (Hardcover)
9783631652459
DOI
10.3726/978-3-653-04321-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Schlagworte
Rezeptionsästhetik Leerstellen semantische Aussage Sinnangebot
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 253 S., 2 s/w Abb.

Biographische Angaben

Helke Kuhn (Band-Herausgeber:in) Beatrice Nickel (Band-Herausgeber:in)

Helke Kuhn ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanische Literaturen der Universität Stuttgart. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist das Werk Édouard Glissants. Beatrice Nickel ist Akademische Rätin am Institut für Romanische Literaturen der Universität Stuttgart. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Intermedialität der Lyrik nach 1945.

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