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Die Landesheil- und Pflegeanstalt Tiegenhof

Die nationalsozialistische "Euthanasie" in Polen während des Zweiten Weltkrieges

von Enno Schwanke (Autor:in)
©2015 Dissertation 148 Seiten

Zusammenfassung

Die Studie beleuchtet in ihrer Analyse die Geschehnisse an der einstigen polnischen Anstalt Dziekanka, die ab 1939 mit der Einnahme durch die deutsche Wehrmacht in Tiegenhof umbenannt und zunehmend zu einer Tötungsanstalt umfunktioniert wurde. Auf Grundlage von Zeugenaussagen und Strafermittlungsakten aus dem Bundesarchiv Ludwigsburg werden die Geschehnisse in Tiegenhof von 1939 bis 1945 rekonstruiert und gleichzeitig ein Schlaglicht auf die Anfänge der nationalsozialistischen Euthanasie geworfen. Die Studie weist nach, dass der frühe Patientenmord im Reichsgau Wartheland wesentlich durch das gaueigene SS-Sonderkommando Lange, eine eigene Euthanasie-Zentrale und den überzeugten Nationalsozialisten und Reichsstatthalter Arthur Greiser bedingt war.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Abstract
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Gegenstand der Untersuchung
  • 1.2 Forschungsstand
  • 1.3 Quellengrundlage
  • 2. „lebensunwertes Leben“ – Die Entstehung eines Diskurses und dessen praktische Umsetzung
  • 3. Institutionelle Bedingungen des frühen Krankenmordes im Reichsgau Wartheland
  • 3.1 Arthur Greiser und die Entstehung eines „Mustergaus“
  • 3.2 Die Gauselbstverwaltung als Organisator des Krankenmordes
  • 3.3 Das gaueigene SS-Sonderkommando Lange
  • 4. Das Sterben beginnt – Die Heil- und Pflegeanstalt Tiegenhof bis Herbst 1941
  • 4.1 Historischer Abriss und Abtransporte im Dezember 1939
  • 4.2 Die Abtransporte in die mobile Gaskammer im Januar 1940
  • 4.3 Tiegenhof als Durchgangslager und fiktiver Begräbnisort
  • 4.4 Die Transporte von Juni 1941 bis zum „Euthanasie“ stopp
  • 4.5 Die Rolle der „T4“ bei der Vernichtung der Tiegenhofer Patienten
  • 5. Das Sterben geht weiter – Die Vernichtung der Tiegenhofer Patienten ab Herbst 1941
  • 5.1 Radikalisierung im Umgang mit dem polnischen Personal
  • 5.2 Exkurs „Aktion Brandt“ oder „wilde Euthanasie“
  • 5.3 Die Vernichtung der Alsterdorfer Patienten in Tiegenhof
  • 5.4 Die medikamentöse Tötung der Tiegenhofer Patienten
  • 5.5 Die Einbeziehung Tiegenhofs in die reichsweiten Verlegungstransporte
  • 5.5.1 Die „überbezirkliche“ Aufnahme
  • 5.5.2 Errichtung der Kinderfachabteilung
  • 5.5.3 Tiegenhof als Sammelstelle für „Geisteskranke Ostarbeiter und Polen“
  • 6. Fazit
  • Abkürzungen und Erläuterungen
  • Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

1.1 Gegenstand der Untersuchung

Mit dem Überfall deutscher Wehrmachtsverbände auf Polen am 1. September 1939 begann ein Krieg, dessen Hauptcharakteristikum die Vernichtung von Millionen Menschenleben war. Eine der ersten systematischen Vernichtungsaktionen betraf dabei geistig und körperlich oder als krank deklarierte Menschen. Ein Privatschreiben Adolf Hitlers im Oktober 1939 ermächtigte seinen Begleitarzt Karl Brandt und den Chef der Kanzlei des Führers, Reichsleiter Philipp Bouhler, dazu, „die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“1. Zweifellos ging es hierbei nicht um eine Sterbeerleichterung, wie die verwischenden Äußerungen suggerieren. Mit der Rückdatierung der Ermächtigung auf den Tag des deutschen Überfalls auf Polen, rückte Hitler das Programm neben der gewaltsamen Dezimierung im Inneren in einen engen Zusammenhang zur außenpolitischen Expansion. Ausgehend von dieser Anweisung sind allein im besetzten Polen mindestens 26.000 Menschen umgebracht worden, schätzungsweise 15.000 davon allein bis Ende des Jahres 1941.2 Während in den sechs Tötungsanstalten der „Aktion T4“ (Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Pirna-Sonnenstein, Bernburg, Hadamar) erste Vergasungen ab Januar 1940 erst langsam anliefen, waren die meisten psychiatrischen Anstalten im besetzten Polen zu diesem Zeitpunkt schon leergemordet.

Die vorliegende Arbeit widmet sich in ihrer Betrachtung einer dieser Anstalten in Polen, die durch die nationalsozialistische Besatzung von einer Heil- und Pflegeanstalt zur Tötungsanstalt umfunktioniert wurde: der Anstalt Tiegenhof ← 9 | 10 → im Reichsgau Wartheland. Die besondere Relevanz Tiegenhofs liegt gerade darin, dass sie eine der wenigen Anstalten im neugegründeten Reichsgau war, deren Betrieb nach der Einnahme am 11. September 1939 nicht eingestellt wurde. Bis die Rote Armee die Anstalt am 21. Januar 1945 eroberte, starben hier mehrere tausend Menschen an den Folgen von Vergasungen, Nahrungsentzug, medikamentöser Tötung und Mangelversorgung. Da über die Geschehnisse in Tiegenhof kaum Nachweise existieren, stützt sich die Arbeit zum Großteil auf die Ermittlungs- und Prozessakten der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung Ludwigsburg, die sich vereinzelt mit den „Euthanasie“-Verbrechen im Wartheland befassen. Die Problematik zeigt sich vor allem durch die juristische Behandlung der Patientenmorde in verschiedenen Verfahren, die das Archivmaterial enorm anwachsen ließen. Einige Akten werden daher auch erstmalig im Zusammenhang mit der Vernichtung von „lebensunwertem Leben“ im Warthegau angeführt. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Rekonstruktion der Geschehnisse in Tiegenhof in den Jahren 1939–1945 anhand des erschlossenen Archivmaterials. Dabei wird die Arbeit von zwei wesentlichen Fragen geleitet: Wo liegen die Gründe für den frühen Patientenmord im Warthegau bzw. Tiegenhof? Und welcher Zusammenhang besteht mit den reichsweiten Tötungen unter dem Deckmantel der „Euthanasie“?

Um diesen Fragen nachzugehen, gliedert sich die Arbeit in drei wesentliche Hauptpunkte. In einem ersten Schritt werden die geistigen Ursprünge des „Euthanasie“-Diskurses beleuchtet. Insbesondere die Situation der deutschen Psychiatrie ab dem Ersten Weltkrieg soll der Anstalt Tiegenhof kontrastierend gegenübergestellt werden. Gleichsam sollen die ideologischen Anknüpfungspunkte der Nationalsozialisten bei einer Gesellschaft gezeigt werden, die schon früh Termini wie „Ballastexistenzen“ und „überflüssige Esser“ verinnerlicht hatte. Um die Vernichtungen in Tiegenhof in ihrem Raum kontextualisieren zu können, richtet sich der Fokus im nächsten Arbeitsschritt auf die Gründung und Entstehung des Reichsgaus. Dabei stehen vor allem die organisatorischen Bedingungen und die Täter im Mittelpunkt. Gerade hier soll der Frage nach den Voraussetzungen des frühen Krankenmordes nachgegangen werden. Die Voranstellung der strukturellen Gründe der Vernichtung vor die chronologischen Geschehnisse in Tiegenhof ist der Tatsache geschuldet, dass die Ereignisse in ihrem Spannungsfeld analysiert werden müssen. Im Hauptteil der Arbeit wird sich der Anstalt Tiegenhof selbst gewidmet. Anhand des Quellenmaterials erfahren sowohl die verschiedenen Einflüsse auf das Anstaltswesen, die personelle Besetzung, die Art der Tötung als auch die Phasen des Tötens nähere Betrachtung. Ein wesentliches Augenmerk liegt dabei stets auf den etwaigen Gemeinsamkeiten ← 10 | 11 → oder Unterschieden zur „Aktion T4“ beziehungsweise der später einsetzenden reichsweiten dezentralisierten Tötung von Anstaltsinsassen. Zum Zwecke einer zielgerichteten Untersuchung und um das Vorgehen in Tiegenhof in seiner Differenziertheit darzustellen, verfolgt die Arbeit die zentrale These, dass der Mord in Tiegenhof in seiner ersten Phase wesentlich den organisatorischen Bedingungen eines überwiegend polnisch geprägten Gaues bedingt war, in dem die Vernichtung von Anstaltsinsassen dem allgemeinen Ziel einer rassischen „Flurbereinigung“ diente. In der dezentralisierten Phase der Anstaltstötungen hingegen war die Gauselbstverwaltung williger Kooperationspartner der Berliner „T4-Zentrale“, während das leitende Anstaltspersonal in Tiegenhof aus Eigenmotivation handelte und aus Anerkennungsgründen tötete. Die Ergebnisse der Untersuchung werden im Fazit noch einmal zusammengefasst.

1.2 Forschungsstand

Erste Erforschungen hinsichtlich der „Euthanasie“-Verbrechen lassen sich in Deutschland schon früh finden. Einen zentralen Beitrag hierzu leistete der junge Arzt Gerhard Schmidt, der unmittelbar nach Kriegsende durch die Alliierten als kommissarischer Direktor der bayerischen Anstalt Eglfing-Haar eingesetzt wurde. Ihm gelang es noch im Jahr 1945, anhand des im Nationalsozialismus tätigen Personals, einen ausführlichen Bericht über Vorkommnisse und Tötungen in acht bayerischen Anstalten zu erstellen. Der Bericht wurde jedoch aufgrund mangelnden wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses erst 1965 publiziert.3 Ein weiterer wichtiger Schritt war die Entsendung einer Kommission durch die westdeutsche Ärztekammer zu den Nürnberger Ärzteprozessen. Noch während des Verfahrens kam es 1947 zu einer Teilveröffentlichung der Ergebnisse durch die Autoren Alexander Mitscherlich und Fred Mielke mit dem Titel „Diktat der Menschenverachtung“. 1949 folgte darauf in erweiterter Fassung der Abschlussbericht unter dem Namen „Wissenschaft ohne Menschlichkeit“. Ähnlich wie Schmidts Werk fand auch dieser keine große Beachtung, sodass er 1960 unter dem Namen „Medizin ohne Menschlichkeit“ erneut erschien.4 Alice Platen-Hallermund, ein weiteres Mitglied dieser Ärztekommission, veröffentlichte 1948 ihre Prozessbeobachtungen unter dem Titel „Die Tötung Geisteskranker in Deutschland“. Gleichartig wie die anderen Beiträge stieß auch dieser ← 11 | 12 → auf wenig Resonanz und erfuhr erst im Jahr 1993 eine Wiederauflage.5 Obgleich alle erwähnten Arbeiten bei ihrem Kenntnisstand späteren Abhandlungen weit unterlagen, beschrieben sie bereits in ihrer frühen Form exemplarisch die wesentlichen Aspekte der nationalsozialistischen „Euthanasie“. Dass die Werke keine große öffentliche und wissenschaftliche Resonanz fanden, lag zum einen daran, dass die deutsche Bevölkerung nach der Niederlage kein Interesse an einer Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen hatte und zum anderen an den Institutionen der Ärzteschaft selbst, die die Verstrickungen in den Vernichtungsapparat nicht einräumen wollten.6 So war man bestrebt „alles zu tun, den Begriff der Kollektivschuld von der Ärzteschaft in der Presse und in der Öffentlichkeit abzuwenden“7. Selbst Platen-Hallermunds Erkenntnis, dass die „größte Zahl der an der Aktion Beteiligten innere Widerstände gegen die Ermordung“8 gehabt hätte, zeigt deutlich den Versuch die Täter zu verteidigen und steht damit nicht nur sinnbildlich für die damalige Einstellung der Ärzteschaft, sondern vor allem für die Einstellung der deutschen Bevölkerung zu den Verbrechen.9 Letztlich waren dies die wesentlichen Ursachen dafür, dass es bis in die 1960er Jahre zu keinen weiteren nennenswerten Publikationen kam.

Erst mit etwas Verspätung und infolge der juristisch zu ahnenden Medizinverbrechen unter der deutsch-alliierten Gerichtsbarkeit entstand ein sich ← 12 | 13 → wandelndes öffentliches Interesse. Besonders die Prozesse des Landgerichts Frankfurt gegen ehemalige Mitglieder der zentralen Krankenmordorganisation von 1946–1948, die Prozesse in Dresden im Jahr 1947, die Hartheim-Prozesse 1947 und die Grafeneck-Prozesse 1949, führten dazu, dass das Bedürfnis nach Informationsgewinnung in den Folgejahren in der Öffentlichkeit anwuchs. In den 1960er Jahren folgte der Prozess vor dem Frankfurter Schwurgericht, das im Gegensatz zu den Euthanasieprozessen der 1940er Jahre bemüht war, sich von der regionalen Perspektive zu lösen, um den Gesamtkomplex des Krankenmordes zu erfassen.10 So kam es nicht nur zu den bereits erwähnten Neuauflagen der jungen Mediziner, sondern allgemein auch zu neuen Publikationen. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang sind die Werke von Helmut Ehrhardt und Bert Honolka. Ehrhardt, der seit 1937 selbst NSDAP- Mitglied und Gutachter im Erbgesundheitsgericht war, und somit direkt an Urteilen über Zwangssterilisationen beteiligt war, bietet in seiner Untersuchung erstmalig die verschiedenen Ebenen der „Euthanasie“ und deren Begriffskomplexität an.11 Der Beitrag vom Journalisten Bert Honolka hatte weniger den Ansatz die Ebenen der „Euthanasie“ erklären zu wollen, als vielmehr das Schweigen darüber in der Gesellschaft zu brechen. Für ihn war es entscheidend, „daß die NS-Euthanasie ein aktuelles Thema ist und damit mehr ein Stück unbewältigter Gegenwart als ein Stück der vielzitierten unbewältigten Vergangenheit ist.“12 Ebenfalls infolge der gerichtlichen Aufarbeitung erschien in der DDR das Werk von Karl Friedrich Kaul, der seine Erfahrungen als Nebenkläger in verschiedenen Verfahren gegen Täter und Verantwortliche der „Euthanasie“ niederschrieb.13

Diese erste Phase der „Euthanasie“-Erforschung war primär eine am Interesse der alliierten und späteren deutschen Strafjustizbehörden orientierte Befassung mit der Thematik.14 Daraus ergab sich die Problematik, dass die Nachforschungen zumeist sehr sachbezogen ausfielen. Da die juristische Beschäftigung mit der Thematik ausschließlich dem Nachweis einer individuellen Tatbeteiligung ← 13 | 14 → nachging, wurden viele für die Geschichtswissenschaft relevante Aspekte gar nicht oder nur beiläufig verfolgt.15 Die aus den Ermittlungen und Prozessen hervorgegangen Akten sind jedoch eine unverzichtbare Grundlage für die Auseinandersetzung mit den „Euthanasie“-Verbrechen und die spätere Forschung geworden.

Eine zweite wegweisende Phase der Erforschung der NS-„Euthanasie“ kann auf die Veröffentlichung einer erstmalig umfassenden Monographie zum Tatkomplex durch den verstorbenen Journalisten Ernst Klee im Jahr 1983 datiert werden: „Euthanasie im NS-Staat“, die nach mehrfacher Neuauflage im Jahr 2010 unter einem neuen Namen und etlichen Ergänzungen erschienen ist.16 Klees Werk unterschied sich zu den marginalen vorherigen Publikationen anhand zweier wesentlicher Punkte. Erstmalig wurde sich überhaupt dem enormen Aktenbestand gewidmet und dieser durch Zeugenaussagen von Tätern und Betroffenen ergänzt. Klee fügte die Ergebnisse seiner Untersuchung zu einem Narrativ zusammen, das die „Euthanasie“ als erste Form einer nationalsozialistisch bürokratischen Massenvernichtung kennzeichnete. Er benannte die Institutionen, wies die Abläufe der verschiedenen Euthanasieformen nach und zeigte auch erstmalig, dass die Vernichtungsaktionen bis zum Kriegsende liefen und nicht mit dem sogenannten „Euthanasie“- Stopp vom 24. August 1941 endeten. Ein Kapitel allein ist speziell dem Luminal-Schema und der Hungerkost als der gebräuchlichsten Mordmethode in den späteren Kriegsjahren gewidmet. Aufgrund der untersuchten Aktenlage gelingt es ihm auch viele neue Namen von „Euthanasie“-Anstalten ins Feld zu führen: Obrawalde, Hadamar, Eichberg, Klagenfurt, Tiegenhof, Sachsenberg usw. Zugleich fragt die Untersuchung auch nach den ideologischen Wurzeln des Mordens. Ein wesentlicher Makel ist jedoch die unsystematische Herangehensweise sowie die chronologische Erzählart, die die Zusammenhänge teilweise verwischen lässt. Ebenfalls gelingt es ihm nicht, sich von den großen Orten des Massensterbens (Hadamar, Brandenburg, Grafeneck usw.) zu lösen. Das mag zum einen seinem eigentlichen Berufszweig geschuldet sein, zum anderen ging es Klee nach Eigenaussagen primär um eine Bewusstseinsschaffung innerhalb der deutschen Bevölkerung. Zudem spiegelte es ebenfalls die gesichtete Quellenlage wider. In der historischen und juristischen Aufarbeitung der NS- Psychiatrien ← 14 | 15 → und –Anstalten waren es primär Vorgänge um Zwangssterilisation und der „Aktion T4“, die letztlich den Hungermord und andere Formen der Tötung verdecken ließen.

Ein breiteres Bewusstsein für Öffentlichkeit und Wissenschaft zu schaffen, wurde auch schon 1980 mit dem Gesundheitstag „Medizin und Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – ungebrochene Tradition?“ unternommen.17 Auch hier waren es nicht Vertreter der Geschichtswissenschaft, die erste Schritte unternahmen, sondern junge Ärzte, Psychiater und vereinzelt Medizinhistoriker. Medizingeschichte stellte für die Historiker und Historikerinnen noch keinen selbstständigen Bereich dar. Die NS- Rassenpolitik wurde noch weitgehend mit der Judenverfolgung gleichgesetzt, weshalb die im NS-Staat praktizierte „Euthanasie“ kaum in das Blickfeld der Forschung geriet. Für den medizinhistorischen Bereich sind vor allem die Untersuchungen von dem Psychiater Klaus Dörner hervorzuheben, die sich schon recht früh mit der Problematik befassten,18 sowie die Arbeiten der Sozialwissenschaftler Florian Tennstedt und Stephan Leibfried, die nach den Folgen der Machtergreifung für das Gesundheitswesen fragten.19 Klee ergänzte seine Publikation in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre um zwei weitere Bände; „Dokumente zur Euthanasie“ beinhaltet die wichtigsten Quellen der Anstalten, den Schriftverkehr der involvierten Institutionen, die Namen der Verantwortlichen und „Was sie taten – was sie wurden“ behandelt das Leben und die Karrieren verschiedener „Euthanasie“- Verantwortlicher und deren nichterfolgte juristische Ahndung.20 Den drei Publikationen Klees folgten zahlreiche Darstellungen, die sein Standardwerk vertieften und sich regional mit einzelnen Tötungsanstalten und der Vernichtung anstaltseigener Patienten beschäftigten.21 Seit den achtziger Jahren ← 15 | 16 → nahm die Zahl einschlägiger Untersuchungen demnach zu und führte gar dazu, dass der Medizinhistoriker Paul Weindling von einer „Volksbewegung“22 medizin- und biologiehistorischer Arbeiten sprach. Bis heute sind viele dieser Werke durch einen starken Gegenwartsbezug geprägt, sei es, dass die Verfasser die Geschichte ihrer Arbeitsstätten erkundeten oder durch historische Reflexion die ethischen Grundlagen der eigenen Profession erforschten.23 Wesentliche Erkenntnisfortschritte gelangen in der Mitte der achtziger Jahre als die bis dato weitgehend unverbundenen Diskussionsstränge von Medizinkritik, Medizingeschichte und Zeitgeschichte enger zusammengeführt wurden. Während das Medizinhistorische Journal bei der Vermittlung von Medizin- und Zeitgeschichte eine Vorreiterrolle übernahm, war es bei der sozialhistorisch interessierten Zeitgeschichte Michael H. Kater, der auf das Desiderat einer Professionsgeschichte der Medizin im Nationalsozialismus verwies.24 Wie rasant der Forschungsstand sich in dieser Zeit erweiterte, wird auch an zwei Tagungsbänden des Instituts für Zeitgeschichte in München deutlich. Während sich der Kolloquiumsband von 1988 noch als vorsichtiges Ertasten des Themenfeldes präsentierte, zeigte sich drei Jahre später ein Sammelband, der etliche Spezialstudien beinhaltete und den gesicherten Forschungsstand auf Basis neuer Quellen erweiterte.25 Spätestens ab diesem Zeitpunkt ist die Gesundheitspolitik als eigenständiges Themenfeld in die Historiographie der ← 16 | 17 → nationalsozialistischen Herrschaft integriert.26 Ein weiterer nennenswerter Vertreter, der diesen Prozess beeinflusste war Hans- Walter Schmuhl mit seinem Werk „Rassenhygiene. Nationalsozialismus. Euthanasie“27. Schmuhl hat die schubweise Ausdehnung der „Euthanasie“ auf neue Bevölkerungsgruppen als einen Prozess beschrieben, der durch das Ineinandergreifen von charismatischer Legitimation und polykratischem Konflikt zunehmend radikalisiert wurde. Seine Ausführungen hingegen, die die Wirkungsgeschichte der eugenischen Ideen beschrieb und in der These endete, dass die Verbindung rassenhygienischer Ideen mit dem politischen Durchsetzungswillen des Nationalsozialismus zwangsläufig im Massenmord gipfelte, wurden scharf kritisiert.28

Ebenfalls kam es zu gründlicheren Beschreibungen einzelner Anstalten wie beispielsweise den Karl-Bonhoeffer-Heilstätten in Berlin. Hier wurde erstmalig die Rolle des Krieges in den Mittelpunkt gestellt und die damit einhergehenden sich verschlechternden Lebensbedingungen untersucht. Neuartig war auch die präzise Beschreibung der Anwendung und Auswirkung des Hungers als Teil der Tötungsmethode in den hessischen Anstalten Hadamar und Eichberg.29 Die Entwicklung der Sterblichkeit in den Anstalten blieb jedoch vor den Ereignissen von Zwangssterilisation und „Aktion T4“ weiterhin wenig beachtet. Stattdessen wurde das Hauptaugenmerk auf die Zeit nach der „Aktion T4“ gerichtet.

Dennoch lässt sich behaupten, dass sich das Desinteresse an der Erforschung der „Euthanasie“ seit Mitte der achtziger Jahre verändert hat. Winfried Süß geht dabei sogar so weit zu behaupten, dass es neben der Judenvernichtung und der Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus das am meisten erforschte Feld sei.30 Neben den bereits erwähnten Werken wurde der Wandel vor allem dadurch begünstigt, dass sich die Forschung auch zunehmend der nationalsozialistischen Sozialpolitik widmete und dabei vor allem neben der ← 17 | 18 → loyalitätsstiftenden Wirkung die exkludierende Funktion dieser beleuchtete. Ebenso widmeten sich alltagsgeschichtliche Fragestellungen den Teilen der Bevölkerung, die von der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen wurden. Neben den Juden als größte Opfergruppe gerieten so auch die anderen Opfer der nationalsozialistischen Sozial- und Gesundheitspolitik in das Blickfeld der Historiker. Zu nennen sind hier Sinti und Roma31, als „Asoziale“32 definierte Menschen, die nahezu 400 000 Zwangssterilisierten33 und eben jene Euthanasieopfer. Die Forschungslandschaft umfasste fortan neben den Studien zur Ideengeschichte der Krankenmorde,34 die Erforschung der Täter,35 der Opfer,36 und die Phasen der „Euthanasie“.37 Eine sehr umfangreiche Monographie zur „Aktion T4“ lieferte Henry Friedländer und legte damit einen wichtigen Grundstein für die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung.38 Auch die Rolle der Kirche zwischen passiver Duldung des Krankenmordes und öffentlichem Protest wurde in der Forschung berücksichtigt.39

Spätestens seit Beginn der 1990er Jahre zeichnet sich in der Forschung die Tendenz der Einbettung der „Euthanasie“ in das Verständnis des NS-Staates ab. ← 18 | 19 → So geschehen bei der Verbindung von Judenmord und Krankenvernichtung,40 der Integration der „Euthanasie“ in die Regionalgeschichte und der Beleuchtung des Krieges als „Kontext des Massenmordes“41.

Details

Seiten
148
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653048544
ISBN (ePUB)
9783653981643
ISBN (MOBI)
9783653981636
ISBN (Hardcover)
9783631652367
DOI
10.3726/978-3-653-04854-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (November)
Schlagworte
Psychiatrie Aktion T4 SS-Sonderkommando Nationalsozialismus
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 147 S.

Biographische Angaben

Enno Schwanke (Autor:in)

Enno Schwanke studierte Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Jena und Neueste Geschichte an der Freien Universität Berlin. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Medizinhistorischen Institut der RWTH Aachen mit dem Schwerpunkt Medizin im Nationalsozialismus.

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Titel: Die Landesheil- und Pflegeanstalt Tiegenhof
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