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Narrative Kompetenz in der Fremdsprache Englisch

Eine empirische Studie zur Ausprägung mündlicher Erzählfertigkeiten am Ende der Sekundarstufe I

von Hannah Ruhm (Autor:in)
©2015 Dissertation XX, 259 Seiten

Zusammenfassung

Erzählen ist eine kommunikative Grundfertigkeit und wichtige Kulturtechnik. Auch in der Fremdsprachendidaktik wird die Bedeutung von Erzählfähigkeit als Schlüsselkompetenz zunehmend betont. Diese empirische Studie untersucht und modelliert mündliche narrative Kompetenz in der Fremdsprache Englisch. Die Datengrundlage bilden mündliche Erzählungen von Schülerinnen und Schülern am Ende der Sekundarstufe I. Anhand der qualitativen Auswertung wird datengeleitet ein Modell entwickelt, das die Teilkompetenzen und die möglichen Abstufungen fremdsprachlicher narrativer Kompetenz konkret beschreibt. Die Studie kann somit Hinweise für die Diagnose und Förderung von Erzählkompetenzen im Fremdsprachenunterricht geben und zur Ausdifferenzierung curricularer Dokumente beitragen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Zusammenfassung
  • Abstract
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Forschungsgegenstand und Zielsetzungen
  • 1.2 Aufbau der Arbeit
  • Teil A: Theoretische Grundlagen
  • 2 Forschungsstand
  • 2.1 Perspektiven der Erzählforschung
  • 2.1.1 Erzählen als Forschungsfeld
  • Klassische Ansätze der Erzähltheorie und neuere Entwicklungen
  • Fluderniks Natural Narratology
  • Bezugspunkte für die vorliegende Arbeit: ausgewählte erzähltheoretische Aspekte
  • Erzählen als konstruktive Leistung: Sinn- und Identitätsbildung
  • Erzählen als genre- und medienübergreifendes Phänomen
  • 2.1.2 Modellbildungen in der mündlichen Erzählforschung
  • 2.1.2.1 Mündliches Erzählen: Grundlegende Definitionen
  • Der Sprachproduktionsprozess: Das Modell nach Levelt (1989)
  • Erzählen als Grundform alltäglicher mündlicher Kommunikation
  • Perspektive des Textes: Verknüpfung und lokale Struktur von Erzählungen
  • Perspektive des Inhalts: Gegenstand und globale Struktur von Erzählungen
  • Perspektive der Interaktion: Einbindung in den Kommunikationskontext
  • 2.1.2.2 Empirische Studien zur Beschreibung des mündlichen Erzählens
  • Strukturalistische Ansätze: Labov & Waletzky 1967, Labov 1972
  • Schematheoretische Ansätze: Boueke et al. 1995
  • Interaktionsbezogene Ansätze: Hausendorf & Quasthoff 1996
  • 2.1.3 Entwicklung mündlicher Erzählfertigkeiten in der Erstsprache
  • Untersuchungen zur Entwicklung kohäsiver Fähigkeiten
  • Untersuchungen zur Entwicklung narrativer Strukturen
  • Untersuchungen zur Entwicklung interaktiver Fähigkeiten
  • 2.1.4 Entwicklung mündlicher Erzählfertigkeiten in einer Fremdsprache
  • Der Sprachproduktionsprozess in der Fremdsprache
  • Empirische Untersuchungen und Modelle zum fremdsprachlichen Erzählen
  • 2.1.5 Zusammenfassung zu 2.1
  • 2.2 Perspektiven der Fremdsprachendidaktik
  • 2.2.1 Kompetenzen und Kompetenzerwerb im Englischunterricht
  • 2.2.2 Der Kompetenzbereich Sprechen
  • 2.2.3 Narrative Kompetenz
  • 2.2.3.1 Vorliegende Konzepte zum Begriff der narrativen Kompetenz
  • 2.2.3.2 Ansätze zur Entwicklung und Förderung narrativer Kompetenz
  • 2.2.3.3 Mündliche narrative Kompetenz in den bildungspolitischen Vorgaben
  • Mündliche narrative Kompetenz im GeR
  • Mündliche narrative Kompetenz in den Bildungsstandards
  • Mündliche narrative Kompetenz in den niedersächsischen Kerncurricula
  • 2.2.4 Zusammenfassung zu 2.2
  • Teil B: Empirische Untersuchung
  • 3 Fragestellungen
  • 4 Forschungsdesign und Methoden
  • 4.1 Grundlegende methodische Entscheidungen
  • 4.2 Entwicklung des Forschungsdesigns
  • Kriterien für die Auswahl der Untersuchungsteilnehmer und -teilnehmerinnen
  • Anlage der Untersuchung, Erhebungsverfahren, Gütekriterien
  • 4.3 Konzeption der Forschungsinstrumente und Erhebungsverfahren
  • 4.3.1 Erhebung mündlicher Erzählungen
  • Erlebniserzählungen als zu untersuchendes Erzählformat
  • Konzeption der Erhebungssituation
  • 4.3.2 Fragebögen
  • 4.3.3 Schriftliche Kurztests
  • 5 Datenerhebung
  • 5.1 Vorbereitung der Datenerhebung
  • Genehmigung der Untersuchung
  • Zugang zum Untersuchungsfeld und Auswahl der Stichprobe
  • 5.2 Durchführung der Datenerhebung
  • 5.2.1 Untersuchungsteil I: Schülerfragebogen und schriftliche Kurztests
  • 5.2.2 Untersuchungsteil II: Erhebung mündlicher Erzählungen
  • 5.2.3 Aufbereitung der Daten und Transkription
  • Fragebögen
  • Schriftliche Kurztests
  • Mündliche Erzählungen
  • 5.3 Beschreibung der Stichprobe
  • Geschlecht und Alter
  • Beginn des Englischunterrichts
  • Englischzensuren
  • Schriftliche Kurztests
  • 6 Datenauswertung
  • 6.1 Übersicht zur Datengrundlage
  • Zusammensetzung des Erzählkorpus
  • Übersicht zu den gewählten Erzählanlässen
  • 6.2 Ermittlung der Textlänge
  • 6.3 Qualitative Auswertung der Erzählungen
  • 6.3.1 Vorüberlegungen und Herleitung eines Auswertungsverfahrens
  • 6.3.2 Erläuterung der einzelnen Auswertungsschritte
  • (1) Differenzierung zwischen narrativen und nicht-narrativen Texten
  • (2) Analyse der narrativen Struktur
  • (2a) Zerlegung der Erzähltexte in Analyseeinheiten
  • (2b) Vergleich der Analyseeinheiten: Erarbeitung eines Kategoriensystems zur Beschreibung struktureller Merkmale
  • (3) Analyse affektiver Markierungen und Involvierungsstrategien
  • 7 Darstellung der Ergebnisse
  • 7.1 Nicht-narrative Texte
  • 7.2 Narrative Texte
  • 7.2.1 Analyse der narrativen Struktur
  • 7.2.1.1 Auftaktelemente
  • Unterkategorie AUF0: Auftaktelement nicht vorhanden
  • Unterkategorie AUF1: Bezugnahme auf Erzählthema
  • Unterkategorie AUF2: Nennung eines Hauptinhaltsaspekts
  • 7.2.1.2 Einleitungsteile
  • Unterkategorie EIN0: Einleitung nicht oder kaum vorhanden
  • Unterkategorie EIN1: Grundlegende Orientierung
  • Unterkategorie EIN2: Elaborierte Orientierung
  • 7.2.1.3 Hauptteile
  • Unterkategorie HT1: Darstellung in Form von Komplikation + Evaluation + Resolution
  • Unterkategorie HT2: Darstellung von Ereignisfolgen + Evaluation
  • Unterkategorie HT3: Darstellung von Ereignissen ohne Evaluation
  • 7.2.1.4 Schlussteile
  • Unterkategorie SCH0: kein Schlussteil vorhanden
  • Unterkategorie SCH1: Evaluation als Schluss
  • Unterkategorie SCH2: Elaborierte Evaluation oder Erklärung als Schluss
  • Unterkategorie SCH3: Coda als Schluss
  • 7.2.1.5 Zusammenfassung zur Analyse der narrativen Struktur
  • 7.2.2 Analyse der verwendeten affektiven Mittel
  • 7.2.2.1 Inhaltsebene
  • Kategorie (G): Darstellung von Gefühlen/Gedanken/Sinneswahrnehmungen
  • Kategorie (DR): Direkte Rede
  • Kategorie (P): Betonung von Plötzlichkeit/Unerwartetheit
  • Kategorie (WdSt): Wiederholungen/Steigerungen
  • 7.2.2.2 Sprachlich-lautliche Ebene
  • Kategorie (Ex): Expressive Wortwahl
  • Kategorie (Intens): Intensifikatoren
  • Kategorie (Into): Intonatorische Hervorhebungen
  • Kategorie (On): Onomatopoetische Ausdrücke/Onomatopoetische Interjektionen
  • 7.2.2.3 Adressatenbezogene Ebene
  • Kategorie (Ad): Expliziter Adressatenbezug
  • 7.2.2.4 Zusammenfassung zur Analyse der affektiven Mittel
  • 8 Diskussion
  • 8.1 Modellierung fremdsprachlicher narrativer Kompetenz
  • 8.1.1 Komponenten narrativer Kompetenz
  • 8.1.2 Abstufungen narrativer Kompetenz
  • 8.1.2.1 Zur Entwicklung des Stufenmodells
  • 8.1.2.2 Stufe 1: Vorwiegend lineare Äußerungen
  • 8.1.2.3 Stufe 2: Eingeschränkt narrative Äußerungen
  • 8.1.2.4 Stufe 3: Narrative Äußerungen
  • 8.1.2.5 Stufe 4: Fortgeschritten narrative Äußerungen
  • 8.1.2.6 Prozentuale Verteilung der einzelnen Ausprägungsgrade
  • 8.2 Vergleich mit Ergebnissen der bisherigen Erzählforschung
  • 8.3 Reflexion der Methoden
  • Reflexion der theoretischen Grundlagen
  • Reflexion der Forschungsinstrumente und der Datenerhebungen
  • Reflexion des Forschungsdesigns
  • Reflexion der zur Datenauswertung verwendeten Methoden
  • Reichweite der gewonnenen Ergebnisse
  • 9 Zusammenfassung und Fazit
  • 9.1 Zusammenfassung
  • 9.2 Schlussfolgerungen
  • Schlussfolgerungen für die Fremdsprachendidaktik
  • Schlussfolgerungen für die Unterrichtspraxis
  • Schlussfolgerungen für die Curriculumsentwicklung
  • 9.3 Ausblick
  • 10 Literatur
  • 11 Anhang
  • 11.1 Vorbereitung der Datenerhebung: Übersicht der verwendeten Anschreiben
  • 11.2 Datenerhebung Teil I
  • 11.2.1 Schülerfragebogen: Verwendete Items
  • 11.2.2 Schriftliche Kurztests und Lösungsschlüssel
  • Text A (Seite 19 im Schülerheft)
  • Driving a car in London
  • Text B (Seite 20 im Schülerheft)
  • Ring tones get Top-20 charts
  • Text C (Seite 21 im Schülerheft)
  • Global warming – a dangerous problem
  • 11.3 Transkriptionsregeln (GAT1 nach Selting et al. 1998)
  • 11.4 Bestimmungsregeln zur Ermittlung der Textlänge (Berman & Slobin 1994)
  • 11.5 Transkripte: Beispiele
  • Beispiele: vorwiegend lineare Erzählungen
  • 11.6 Übersichtstabelle zur Auswertung des Erzählkorpus

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1 Einleitung

Erzählungen sind aus unserem Alltag nicht wegzudenken. Erzählt wird in den unterschiedlichsten Situationen und in beinahe jedem lebensweltlichen Kontext. Menschen erzählen einander, was sie erlebt, was sie in der Zeitung gelesen oder im Fernsehen gesehen haben. Sie erzählen Witze, Anekdoten und Gute-Nacht-Geschichten. Erzählt wird im Privaten ebenso wie in der Schule und am Arbeitsplatz, beim Einkaufen ebenso wie vor Gericht und am Krankenbett. Erlebnisse und Erfahrungen erzählend mitzuteilen ist nach Nünning & Nünning ein „anthropologisches Grundbedürfnis des Menschen“, das im „Verlangen nach Erklärungen und nach Sinnstiftung“ begründet liegt (2007: 88). Geschichten helfen dabei, Erfahrungen, Ereignisse und Erinnerungen zu strukturieren und ihnen eine Bedeutung zu geben; sie tragen damit zur Identitätsbildung (ebd.) und zur Herstellung sozialer und kultureller Gemeinsamkeiten bei.

Narrative Kompetenz, also die Fähigkeit, Erzählungen in Alltagssituationen und in der Interaktion mit einem Gesprächspartner produzieren und gestalten zu können, ist somit eine wichtige kommunikative Grundfertigkeit. Narrative Kompetenz umfasst andererseits auch eine rezeptive Komponente, nämlich die Fähigkeit, Erzählungen – sowohl in mündlicher als auch in schriftlicher oder anderer medialisierter Form − verstehen und verarbeiten zu können. Dies bezieht sich nicht nur auf (traditionelle) literarische Formen des Erzählens, wie Romane und Kurzgeschichten, sondern auch auf Filme und Dramen, sowie auf „neuere“ narrative Genres und Medienformate wie Talkshows, sitcoms oder Hypertexte (Nünning & Nünning 2010: 229–230). Gerade angesichts der großen medialen und kulturellen Vielfalt in der heutigen Gesellschaft und der damit verbundenen Notwendigkeit, die Inhalte und spezifischen Wirkungsweisen von Mediengenres entschlüsseln und kritisch „lesen“ zu lernen, wird narrative Kompetenz als eine zentrale und sehr komplexe „Schlüsselkompetenz“ werden (ebd.: 89).

Aufgrund dieser Multidimensionalität und Vernetztheit werden die verschiedenen Ausprägungen und Erscheinungsformen des Erzählens längst nicht mehr nur als Gegenstand der Literatur- und Sprachwissenschaften betrachtet, sondern finden u. a. auch im Bereich der Kultur-, Film- und Medienwissenschaften sowie in der Psychologie und der Lehr- und Lernforschung große Beachtung (vgl. u. a. Nünning & Nünning 2002; Hartung et al. 2011; Hagelmoser et al. 2012).

Auch in der Fremdsprachendidaktik werden die Bedeutung des Erzählens und der Stellenwert narrativer Kompetenz zunehmend betont (u. a. Nünning & Nünning 2003, 2007, 2010; Kubanek 2012, Haß 2013). ← 1 | 2 →

Übergeordnetes Ziel des schulischen Fremdsprachenunterrichts ist die Entwicklung interkultureller fremdsprachlicher Handlungsfähigkeit, d. h., Schülerinnen und Schüler sollen befähigt werden, Kommunikationssituationen in der Zielsprache erfolgreich bewältigen zu können. Der Unterricht soll die Aneignung der dafür notwendigen kommunikativen und interkulturellen Kompetenzen sowie sprachlichen Mittel im Rahmen von möglichst authentischen, an natürliche Kommunikationskontexte angelehnten Lernarrangements ermöglichen. Fähigkeiten und Fertigkeiten sollen vernetzt und kumulativ vermittelt werden, damit sie nachhaltig verfügbar bleiben und flexibel verwendet werden können (Caspari et al. 2008: 3f). Die seit 2003 im Zuge der bildungspolitischen Reformprozesse eingeführten Bildungsstandards betonen somit die Bedeutung eines kompetenzorientierten, auf den „outcome“, also den tatsächlichen Lernertrag ausgerichteten Unterrichts (Klieme et al. 2007: 26f). Faktoren, die sich auf das Lehrerhandeln und die Lehrerpersönlichkeit beziehen, gelten, insbesondere seit den auch in der Fremdsprachendidaktik in jüngerer Zeit zunehmend rezipierten Ergebnissen der Meta-Studie von Hattie, als weitere entscheidende Einflussgrößen auf den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern (Hattie 2013: 151).

Sprechkompetenzen bilden eine elementare Basis für die Entwicklung fremdsprachlicher Handlungsfähigkeit. Die Forderung, der Mündlichkeit im Unterricht einen höheren Stellenwert einzuräumen, rückt daher verstärkt in den Blickpunkt der fremdsprachendidaktischen Forschung, insbesondere seitdem die 2006 veröffentlichten Ergebnisse der Schulleistungsstudie DESI wesentliche Defizite bei der Entwicklung von Sprechkompetenzen in der Unterrichtspraxis feststellten (Hallet 2011: 88). Kurtz kritisierte bereits 2001 eine „alltagsunterrichtliche Versteinerung der Sprechhandlungsprozesse“ (2001: 14). Mündlichen Aktivitäten im Unterricht fehle es oft an „Unmittelbarkeit, Lebendigkeit, Emotionalität und vor allem auch an Erlebnisqualität“, weshalb „das freie, ungesteuerte und selbstständige Sprechen“ kaum angemessen entwickelt und gefördert werden könne (ebd.).

Erzählen ist eine sozial-interaktive Form des Sprechens, die sich in der Alltagskommunikation gerade durch die von Kurtz genannten Merkmale − Lebendigkeit und Emotionalität − besonders auszeichnet. Beim Erzählen werden Erlebnisse ausgetauscht, Empfindungen ausgedrückt, Erfahrungen weitergegeben, Standpunkte verdeutlicht und Beziehungen hergestellt. Es handelt sich dabei um ein authentisches mündliches Format, das Schülerinnen und Schüler in der Regel bereits in der frühen Kindheit in ihrer Muttersprache erwerben und das zudem eine hohe lebensweltliche Relevanz im Alltag besitzt. Ein Fremdsprachenunterricht, der Lernende auf die Anforderungen alltäglicher ← 2 | 3 → Kommunikation und interkultureller Begegnungssituationen vorbereiten soll, muss mündliche Erzählkompetenz daher als einen essenziellen und nachhaltig zu fördernden Bestandteil fremdsprachlicher Handlungsfähigkeit begreifen.

Die Forderung, narrative Kompetenzen in der Unterrichtspraxis und in der fremdsprachendidaktischen Forschung stärker in den Vordergrund zu stellen, wurde insbesondere von Nünning & Nünning geäußert, die 2007 diesbezüglich ein erhebliches Defizit feststellten:

Überblickt man […] die didaktischen Diskussionen um Kompetenzen und Bildungsstandards, so fällt ins Auge, dass Überlegungen zum Erzählen als einer in der heutigen Medienkulturgesellschaft zentralen Schlüsselkompetenz bzw. Kulturtechnik ersten Ranges gerade durch ihre Abwesenheit auffallen. Während seit Jahr(zehnt)en über die Schulung von kommunikativer Kompetenz, interkultureller Kompetenz sowie Lese- und Schreibkompetenz intensiv diskutiert und ertragreich geforscht wurde […], steckt die didaktische und fachwissenschaftliche Forschung zur narrativen Kompetenz noch in den Kinderschuhen. (2007: 89)

Obwohl die Anzahl der Publikationen, die sich auf konzeptioneller und/oder unterrichtspraktischer Ebene mit dem Erzählen im Fremdsprachenunterricht beschäftigen, mittlerweile zugenommen hat1, liegen bislang kaum Untersuchungen vor, die darauf abzielen, diesen Bereich für den schulischen Fremdsprachenunterricht empirisch zu erschließen. Um ermitteln zu können, wie mündliche Erzählfähigkeiten im Unterricht systematisch gefördert werden können, ist es zunächst notwendig, fremdsprachliche narrative Kompetenz genauer zu beschreiben und empirisch zu modellieren. Wie lässt sich „narrative Kompetenz“ definieren? Wie bewältigen Schülerinnen und Schüler die Aufgabe, eine „Geschichte“ in der Fremdsprache zu erzählen? Aus welchen Teilbereichen besteht der Bereich der mündlichen narrativen Kompetenz? Was macht einen „kompetenten“ Erzähler bzw. eine „kompetente“ Erzählerin aus? Welche Unterschiede zeigen sich? Und weiterführend: Ist Erzählen überhaupt lernbar (und lehrbar)? Diese Fragen waren Ausgangspunkte für die vorliegende Arbeit.

1.1 Forschungsgegenstand und Zielsetzungen

Die Untersuchung ist in der empirischen Fremdsprachenforschung angesiedelt und soll zur Grundlagenforschung im Bereich der datenbasierten Kompetenzmodellierung beitragen. Das Ziel ist, anhand von konkreten Daten zu ermitteln, wie Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 102 in der ← 3 | 4 → Fremdsprache Englisch erzählen und wie ein Modell fremdsprachlicher narrativer Kompetenz aussehen kann. Damit kommt die Arbeit der in der Fremdsprachenforschung geäußerten Forderung nach, die Struktur einzelner Kompetenzbereiche empirisch genauer aufzuschlüsseln und im Hinblick auf mögliche Abstufungen mit Hilfe konkreter Deskriptoren erfassbar und beschreibbar zu machen (Caspari et al. 2008: 4; Hallet 2011: 37).

Die Untersuchung konzentriert sich auf ausgewählte Teildimensionen narrativer Kompetenz, indem sie die Fähigkeit des mündlichen Erzählens (also produktive bzw. aktiv-performative Aspekte narrativer Kompetenz)3 in den Mittelpunkt stellt.

Zur Erläuterung des Forschungsstands und zur Generierung eines theoretischen Vorverständnisses werden Grundbegriffe und Modelle aus dem Bereich der mündlichen Erzählforschung sowie empirische Ergebnisse verschiedener Studien zum muttersprachlichen und zum fremdsprachlichen Erzählen herangezogen. Die Auseinandersetzung mit diesen Studien dient der theoretischen Vorstrukturierung des Gegenstandsbereichs und des methodologischen Vorgehens bei der Datenerhebung und -auswertung. Trotz ihrer fremdsprachendidaktischen Ausrichtung zeigt die Arbeit also an vielen Stellen Berührungspunkte zur (linguistisch geprägten) Erzählforschung und Erzählanalyse, deren Begrifflichkeiten und Methoden hier als Basis für eine eigene, gegenstandsangemessen modifizierte Annäherung an den Bereich des fremdsprachlichen Erzählens genutzt werden.

Im Mittelpunkt der Datenauswertung stehen persönliche Erlebniserzählungen von Schülerinnen und Schülern (n = 165), die nach einem systematischen und regelbasierten Verfahren erhoben und transkribiert wurden. Die Auswertung dieser Erzählungen erfolgt durch ein insgesamt offen angelegtes, an inhaltsanalytischen Methoden orientiertes Kategorisierungsverfahren.

Die Ergebnisse der Studie können dazu beitragen, mündliches Erzählen als eine im Fremdsprachenunterricht zu entwickelnde Fähigkeit genauer zu erfassen und somit Anhaltspunkte für die Gestaltung von Curricula und Lehrplänen sowie Lernszenarien und Aufgabenformaten für verschiedene Kompetenzstufen geben.

Ein abschließender Hinweis: Die Untersuchung entstand als Teil eines gemeinsamen Forschungsprojekts der Didaktik des Englischen und des Instituts für Pädagogische Psychologie der Leibniz Universität Hannover. Bei der ← 4 | 5 → Datenerhebung wurden zusätzlich zu den mündlichen Erzählungen mit Hilfe von Fragebögen und Tests weitere Daten zu ausgewählten, auf die Lernerpersönlichkeit bezogenen Merkmalen sowie zum Leistungsstand im Fach Englisch und den Selbsteinschätzungen der Probandinnen und Probanden erhoben. Da die Vorgehensweisen bei der Datenerhebung teilweise dadurch geprägt waren, wird in dieser Arbeit an einigen Stellen (insbesondere Kapitel 4) notwendigerweise auch auf das Design des Gesamtprojekts eingegangen. Die Fragestellungen und die Datenbasis dieses zweiten, lernpsychologisch perspektivierten Untersuchungsstrangs werden im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht behandelt (vgl. dazu Faber 2008a, 2008b, 2009, 2012).

Die Zusammenführung beider Untersuchungsstränge ist in einem Folgeschritt denkbar und könnte im Sinne einer interdisziplinär angelegten Lern- und Unterrichtsforschung aufschlussreiche Anhaltspunkte zu möglichen Zusammenhängen zwischen fremdsprachlichen Kompetenzen und individuellen Lernerfaktoren liefern.

1.2 Aufbau der Arbeit

Die Arbeit gliedert sich in einen theoretischen Teil (A) und einen empirischen Teil (B).

Im Anschluss an Kapitel 1 (Einleitung) werden in Kapitel 2 (Forschungsstand) die theoretischen Grundlagen der Arbeit zusammengefasst. Der erste Teil des Kapitels bezieht sich auf die Perspektive der Erzählforschung. Es werden relevante Grundbegriffe und Theorien der Erzählforschung vorgestellt und bislang vorliegende Ergebnisse zum Erwerb narrativer Fähigkeiten als Teil des erstsprachlichen und fremdsprachlichen Entwicklungsprozesses dargelegt. Dabei wird begründet dargestellt, inwiefern die in diesem Abschnitt beschriebenen Studien zur Entwicklung der Forschungsfragen und des Untersuchungsdesigns beitragen.

Der zweite Teil des Kapitels bezieht sich auf die Perspektive der Fremdsprachendidaktik. Dort wird erläutert, wie mündliche narrative Kompetenz aktuell im Kontext der Fremdsprachendidaktik theoretisch-konzeptionell, curricular und unterrichtspraktisch verortet wird. Dabei wird die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit formuliert − die Entwicklung eines Modells zur Beschreibung der konkreten Teilfertigkeiten und Ausprägungen des fremdsprachlichen Erzählens. Dieses Forschungsdesiderat bildet den Ausgangspunkt für den empirischen Teil der Arbeit.

Auf der Grundlage des theoretischen Vorverständnisses werden in Kapitel 3 (Fragestellungen) die Zielsetzungen und Forschungsfragen der empirischen Untersuchung präzisiert. ← 5 | 6 →

In Kapitel 4 (Forschungsdesign und Methoden) werden grundsätzliche methodische Entscheidungen zur Planung der Untersuchung dargelegt. Darüber hinaus werden die einzelnen Forschungsinstrumente (Fragebögen, schriftliche Kurztests, mündliche Erzähldaten) im Hinblick auf ihre Konzeption und ihre Verwendung vorgestellt. Insbesondere wird hier erläutert, welche theoretischen Vorüberlegungen bei der Erhebung der mündlichen Erzähldaten leitend waren.

In Kapitel 5 (Datenerhebung) wird die Vorbereitung und Durchführung der Erhebung erläutert. Das Kapitel enthält außerdem eine kurze Beschreibung der Schüler-Stichprobe auf der Grundlage der Fragebogen- und Testdaten.

In Kapitel 6 (Datenauswertung) werden die Methoden vorgestellt, die zur Auswertung der mündlichen Erzählungen verwendet wurden. Im Mittelpunkt des Kapitels steht die Erläuterung des kategorienbasierten Auswertungsverfahrens, das auf der Grundlage des in Kapitel 2 abgeleiteten theoretischen Vorverständnisses entwickelt wurde. An dieser Stelle wird offengelegt, in welchen Arbeitsschritten die Erzählungen analysiert wurden und wie sich der Prozess der datengeleiteten Kategorienbildung und Kategorienzuweisung vollzog. Die Darstellung dient der Transparentmachung des Auswertungsprozesses und soll zeigen, wie die Ergebnisse im Einzelnen zustande kamen.

In Kapitel 7 (Darstellung der Ergebnisse) werden die Ergebnisse der Datenauswertung zusammenfassend vorgestellt. Dabei werden die mit Hilfe der kategorienbasierten Analyse ermittelten strukturellen und affektiven Merkmale der Erzählungen anhand von Beispielen aus dem Datenmaterial erläutert. Auf diese Weise können Aussagen darüber getroffen werden, wie die an der Untersuchung beteiligten Schülerinnen und Schüler die Aufgabe des fremdsprachlichen Erzählens insgesamt bewältigen und welche Unterschiede sich dabei zeigen.

Details

Seiten
XX, 259
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653046267
ISBN (ePUB)
9783653982329
ISBN (MOBI)
9783653982312
ISBN (Hardcover)
9783631653890
DOI
10.3726/978-3-653-04626-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Schlagworte
Grundlagenforschung Erzählforschung Fremdsprachendidaktik Fremdsprachenunterricht
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. XX, 259 S., 42 s/w Abb.

Biographische Angaben

Hannah Ruhm (Autor:in)

Hannah Ruhm studierte Anglistik, Germanistik und DaF/DaZ in Hannover und Liverpool. Sie war Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Didaktik des Englischen an der Universität Hannover. Zurzeit ist sie als Lehrerin im Berliner Schuldienst tätig.

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