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Sartre

Eine permanente Provokation- Une provocation permanente- A Permanent Provocation

von Alfred Betschart (Band-Herausgeber:in) Manuela Hackel (Band-Herausgeber:in) Marie Minot (Band-Herausgeber:in) Vincent von Wroblewsky (Band-Herausgeber:in)
©2014 Sammelband 324 Seiten

Zusammenfassung

Die deutsche Sartre-Gesellschaft feierte 2013 ihr zwanzigjähriges Bestehen als ordentlich eingetragener, gemeinnützig anerkannter Verein und lud Sartre-Forscher und -Interessierte dazu ein, ihre aktuellen Ergebnisse und Überlegungen vorzustellen. In deutscher Übersetzung erscheint in diesem Band auch Sartres Rede «Die Wasserstoffbombe – Eine Waffe gegen die Geschichte» (1954). Möge Sartre eine Provokation bleiben, im etymologischen Sinne des provocare hervorrufen, herausfordern, oder, in seine Sprache übersetzt, ein Appell, ein Appell an die Freiheit – des Anderen, des Lesers, des Zeitgenossen und auch, wie dieser Band zu belegen hofft, an die Freiheit der Nachgeborenen. Ein Appell, der Zustimmung, auch Ablehnung, seltener jedoch Gleichgültigkeit hervorruft.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Editorial
  • 20 Jahre Sartre Gesellschaft in Deutschland
  • Passionierte Freiheit als Gabe? Jean-Paul Sartres Entwürfe für eine Moralphilosophie im kontrolliert-anachronistischen Gegenwartsbezug
  • 1.
  • 2.
  • Literatur
  • Jean-Paul Sartre, um 1954
  • Literaturverzeichnis
  • Die Wasserstoffbombe – Eine Waffe gegen die Geschichte (übersetzt von Severin Eckert)
  • Die „Gabe“ bei Jean-Paul Sartre. Unterwerfung, Anerkennung, Solidarität
  • 1. Die Gabe als Instrument der Unterwerfung
  • 2. Die Gabe als Freiheitsappell
  • 3. Die Gabe – eine Sackgasse?
  • Literatur
  • Sartre und Beauvoir – eine Ethik fürs 21. Jahrhundert
  • 1. Sartres und Beauvoirs Metaethik
  • 1.1 Anthropologische Wertethik
  • 1.2 Diskursethik
  • 1.3 Situationsethik
  • 2. Sartres und Beauvoirs normative Ethik
  • 2.1 Authentizitätsethik
  • 2.2 Ethik der Freiheit
  • 2.3 Ethik des Engagements
  • 2.4 Ethik der Einheit von Mittel und Zweck
  • 3. Sartres normative Metaethik
  • 4. Sartre, Beauvoir und die Ethik des 21. Jahrhunderts
  • Literaturverzeichnis
  • „Verstehen heißt, sich ändern, über sich hinausgehen“ – Sartres kritisches Ethos
  • 1. Sartres philosophisches Projekt
  • 2. Zum Verhältnis von Wahrheit(sanspruch), Ontologie und Ethik
  • 2.1 Das unauthentische cogito der individuellen phänomenalen Erfahrung
  • 2.2 Das cogito der sozio-historischen Dialektik
  • 3. Sartres Philosophie als Brückenkopf zur Post-Moderne?
  • Literaturverzeichnis
  • Zum Verhältnis von Anerkennung und ethischer Motivation
  • 1. Ethische Motivation
  • 1.1 Externalismus
  • 1.2 Internalismus
  • 1.3 Quellen der Motivation
  • 1.3.1 Normative Gründe (Internalismus)
  • 1.3.2 Es gibt eine berühmte Alternative zu normativen Gründen: Wünsche (Externalismus)
  • 1.3.3 Ein weiterer Kandidat: Anerkanntsein als Mitmensch
  • 2. Anerkennung
  • 2.1 Die Verbesserung der eigenen Situation
  • 2.2 In welcher Weise streben Subjekte danach, anerkannt zu werden?
  • 2.3 Der Einfluss anderer Menschen
  • 2.4 Der ethische Rahmen
  • Literaturverzeichnis
  • Les annotations de Sartre dans l’Éthique de Spinoza. Pistes d’interprétation
  • Bibliographie
  • Sartre’s Story “The Wall”, His Play The Victors and Kant’s Moral Principle “It Is a Duty to Tell the Truth” in a Philosophical, Literary and Political Context
  • Bibliography
  • L’esthétique de la mort et de l’amitié dans le projet (auto)biographique sartrien
  • 1. Le Renouveau de l’amitié
  • 2. Thanatographie scripturale
  • 3. Les incompatibilités électives
  • 4. L’exercice auto nécrographique
  • Bibliographie
  • Der Andere im Selbst. Kierkegaard und Sartre zu einer Abhängigkeit
  • 1. Überblick
  • 2. Verzweiflung als misslingende Synthese
  • 3. Der Ursprung des Selbst im Andern
  • 4. Jenseits des Selbst?
  • Literatur
  • Zweideutigkeit und Komplementarität bei Kierkegaard und Sartre
  • 1. Problemstellung und Thesenübersicht
  • 2. Sartres Pseudo-Dialektik
  • 3. Relevanz der Zweideutigkeit in Kierkegaards Begriff Angst
  • 3.1 Die Schlüsselfunktion des Begriffs der Zweideutigkeit
  • 3.2 Zweideutigkeit des Begriffs des Individuums
  • 3.3 Das Dogma der Erbsünde
  • 3.4 Zweideutigkeit und Sündenfall
  • 4. Zweideutigkeit in Sartres Das Sein und das Nichts
  • 4.1 Verwandtschaft und Fremdheit zwischen Kierkegaard und Sartre
  • 4.2 Zweideutigkeit des „Für-sich-für-Andere“
  • 4.3 Das Streben des Menschen, „wie Gott zu sein“
  • 5. Komplementarität in Das Sein und das Nichts
  • Literatur
  • Sartre et le langage du corps
  • 1. Mise en mots du corps
  • 1.1 Langage et structures pour autrui
  • 1.2 Mon corps ineffable
  • 2. Quel pouvoir discursif?
  • 2.1 Rôle de la bouche et de la main
  • 2.2 Quelques exemples d’expressions corporelles
  • 3. Corps et personnages
  • 3.1 Une question d’incarnation
  • 3.2 Rapport obsessionnel
  • 3.3 Le geste comme langage
  • Bibliographie
  • Sartre and Beauvoir on Embodiment and Sexuality
  • 1. Sartre and the Body
  • 2. Beauvoir and the Body
  • 3. Embodied Freedom: Radical Transcendence vs Transcendence in Immanence
  • Bibliography
  • « Je serais comme un baromètre à capucin ». Cut-up aporétique sur l’inconciliabilité entre amour et stoïcisme
  • Endnotes
  • Cartes postales (#Paris #Houston-Miami #Liège). De la synthèse appropriative de la ville à la découverte des irréalisables
  • 1. De Houston, Texas à Miami, Floride : tribulations d’un néo-liégeois en Amérique
  • 2. La neige sous le sable...
  • 3. Un fleuve et des ponts
  • Bibliographie
  • Engagements de Sartre. Controverses sur Sartre
  • 1. Introduction
  • 2. La passion du réel
  • 2.1 De la philosophie en général
  • 2.2 De Sartre en particulier
  • 3. La passion de l’histoire
  • 4. La passion de l’autre
  • 5. Conclusion
  • Bibliographie
  • Repenser la révolution. Du dialogue avec Sartre à la critique de la vision politique du monde
  • Bibliographie
  • Sartres Engagement – was bleibt?
  • Literaturverzeichnis
  • Autoren

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Editorial

Der Anlass zu diesem Band ist das zwanzigjährige Bestehen der Sartre Gesellschaft in Deutschland als ordentlich eingetragener, als gemeinnützig anerkannter Verein. Die erreichte „Zeit der Reife“ motivierte uns zu einer Ausschreibung ohne thematische Vorgabe, jedoch mit der Auslobung eines Preisträgers. Zwischen mehreren preiswürdigen Texten entschied sich die Jury – mit den Herausgebern identisch – schließlich für den Aufsatz von Burkhard Liebsch.

Unser Erwarten wurde voll erfüllt, durch die Ausschreibung Texte zur Veröffentlichung angeboten zu bekommen, die die Vielfalt der Weiterwirkung Sartres gut drei Jahrzehnte nach seinem Tod bezeugen – entsprechend der Breite seines philosophischen, literarischen, ethischen Schaffens und auch seines unermüdlichen politischen Engagements. Und auch hinsichtlich der Form war uns Vielfalt willkommen. So stehen hier streng akademische Texte neben essayistischen oder literarischen – bis zur Form des cut up, die in wissenschaftlichen Veröffentlichungen wohl eher selten anzutreffen ist.

So bleibt Sartre eine Provokation im etymologischen Sinne des pro-vocare „hervorrufen“, „herausfordern“, oder, in seine Sprache übersetzt, ein Appell, ein Appell an die Freiheit des Anderen, des Lesers, des Zeitgenossen und auch, wie dieser Band zu belegen hofft, an die Freiheit der Nachgeborenen. Ein Appell, der Zustimmung, auch Ablehnung, seltener jedoch Gleichgültigkeit hervorruft.

Was wir weniger erwartet hatten, war die geografisch weitgespannte Reaktion, die von Kanada über Brasilien bis Europa reichte und uns bewog, die Sprachen über Deutsch hinaus auf Englisch und Französisch zu erweitern. Bleibt uns zu hoffen, dass die Aufnahme dieses Bandes ähnlich breit sein wird.

Wir danken Adrian van den Hoven für die Durchsicht der Abstracts.

Kurz vor Redaktionsschluss traf uns die erschütternde Nachricht, dass Marie-Andrée Charbonneau (Université de Moncton, Kanada), Autorin von „Les annotations de Sartre dans l’Ethique de Spinoza. Pistes d’interprétation“, am 24. Februar verstorben ist. Wir widmen dieses Heft ihrem Andenken.

Die Herausgeber
Berlin, im Juli 2014

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Vincent von Wroblewsky, in Zusammenarbeit mit Wolfgang Weber

20 Jahre Sartre Gesellschaft in Deutschland

Abstract This article deals with the twenty year history of the German Sartre Society, from 1993 to 2013. It evokes the situation of Sartrians during the time when Germany was divided and after unification. It lays stress on its internation­al relations and the Society’s diverse activities.

Jede Gesellschaft ist eine besondere, einmalige. So auch die Sartre Gesellschaft. Da ist zunächst ihr „Gegenstand“, der Philosoph, Romanautor, Stückeschreiber, Autor von Drehbüchern (u.a. ein umfangreiches über Sigmund Freud), Essayist, der politisch Engagierte, Gründer von Zeitschriften und Zeitungen (Les Temps Modernes, La Cause du Peuple, Libération), der Biograph, Literaturkritiker, der Verfasser von Aufsätzen über Malerei, Film, Musik, der Tagebuch und Briefe Schreibende…

Die Sartre Gesellschaft ist Mitglied der ALG. Passt Sartre in eine Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften? Ein Stück von ihm sicher, und bisher hat niemand verlangt, dass der Rest draußen bleibt. Und passt er in eine nationale Gesellschaft, und das in Deutschland, er, der Ausländer, der Franzose, der Kosmopolit, der Weltbürger? In seinem „Heimatland“ Frankreich gibt es keine Sartre Gesellschaft, dafür jedoch eine Groupe d’Études Sartriennes (GES), die jedes Jahr am vorletzten Juniwochenende in der Sorbonne eine zweitägige Tagung veranstaltet, ein Tag dem Philosophen, der andere dem Literaten gewidmet. Der Präsident, Michel Contat, leitet zugleich eine Forschungsgruppe im CNRS, dem nationalen Forschungszentrum Frankreichs, die sich unter anderem um die Herausgabe von Sartre-Manuskripten verdient macht. Er ist zusammen mit Michel Rybalka Autor der kommentierten Bio-Bibliographie (ein unentbehrliches Werkzeug für jeden, der sich mit Sartre beschäftigt), die in den siebziger Jahren in Zusammenarbeit mit Sartre entstand, und nebenbei auch Literatur- und Jazzkritiker für die Zeitung Le Monde. Die praktische, organisatorische und auch konzeptionelle Arbeit wird jedoch von belgischen Sartre-Forschern geleistet. In Belgien hat sich seit Jahren eine „Sartre-Schule“ herausgebildet mit inzwischen zwei Generationen von Wissenschaftlern, denen in der Nachfolge des 2013 verstorbenen Pierre Verstraeten (auch er ein ehemaliger Vertrauter Sartres, dem bei der Tagung der GES am 20. und 21. Juni 2013 besonders gedacht wurde) hervorragende Untersuchungen zu verdanken sind. An den jährlichen Tagungen der ← 11 | 12 → GES nehmen Sartre-Forscher und Interessierte aus aller Welt teil, von Japan, Südkorea und China bis Kanada, den USA und Südamerika, von Italien, Spanien bis Deutschland, selten jedoch aus Afrika und so gut wie nie aus Osteuropa. Die größte Sartre Gesellschaft ist sicher die North American Sartre Society (NASS) mit regelmäßigen Tagungen in verschiedenen Universitäten der USA und Kanadas; recht aktiv sind auch die englische (UKSS), italienische, spanische, japanische … und seit zwanzig Jahren auch jene in Deutschland, von der nunmehr die Rede sein soll.

Ihre Geschichte geht auf eine besondere, eigene deutsche Ost-West-Vereinigung zurück. Als in den achtziger Jahren in Westberlin im Zusammenhang mit Protestbewegungen Lehrveranstaltungen an der Universität ausfielen, beschloss eine Gruppe von Studenten, das Sartre-Seminar, das Prof. Rainer Zimmermann veranstalte, außerhalb der Hochschule fortzuführen. So entstand ein informeller Kreis, der an Sartre Interessierte zusammenführte. Katrin Sollich, eine der damaligen Studentinnen, war bis Ende 2013 im Vorstand der Sartre Gesellschaft tätig und für deren Finanzen verantwortlich. Auch im Osten unterhielten einige passionierte Sartre-Leser einen Kontakt zueinander (so Peter Knopp, Mathematiker, fast zwanzig Jahre lang stellvertretender Vorsitzender der Sartre Gesellschaft und Mitherausgeber der Sartre Jahrbücher Carnets Sartriens und Wolfgang Weber, bildender Künstler, der gemeinsam mit seiner Frau Karin Weber sowie seiner Tochter Helena Weber-Pogrzeba viele Veranstaltungen der Sartre Gesellschaft mit Plakaten und anderen Formen begleitet, die ihr graphisches Erscheinungsbild prägten).

An irgendeine organisierte Form war jedoch unter den Bedingungen der DDR nicht zu denken. 1987 fand in Frankfurt/Main, organisiert vom (1991 verstorbenen) Herausgeber der Werke Sartres im Rowohlt Verlag, Traugott König, unterstützt von eben diesem Verlag und der Goethe Universität Frankfurt, eine große internationale Sartre-Tagung statt. Traugott König, der Vincent von Wroblewsky vor allem als Verfasser von Nachworten zu den Werken Sartres, die in der DDR erschienen, kannte und schätzte, lud diesen nach Frankfurt ein. Nach hartnäckigen Bemühungen (unter anderem eine Eingabe an Erich Honecker) erhielt dieser schließlich die Genehmigung, nach Frankfurt zu reisen, um an genannter Tagung (als einziger Vertreter des „Ostblocks“) teilzunehmen. Hier lernte er viele namhafte Sartre-Forscher aus vielen Ländern kennen – mit denen er bis heute befreundet ist – und eben auch seinen Nachbarn aus der anderen Berliner Stadthälfte, Rainer Zimmermann. Bald nach dem Fall der Mauer beschlossen die Ost-West-„Sartrianer“ eine gemeinsame Veranstaltung, die in der Akademie der Wissenschaften der Noch-DDR im Juli 1990 stattfand (gemeinsam aß man im Brecht-Keller in der Chausseestraße). Aus diesen Anfängen entstand dann ← 12 | 13 → schließlich im Herbst 1993 die Sartre Gesellschaft in Deutschland als ordentlich eingetragener Verein.

Ist es ein Vor- oder Nachteil, einen derartig weiten – inhaltlich wie in seiner Rezeption – „Gegenstand“ gewählt zu haben? Sicher beides. Der Vorteil liegt gewiss in der Vielfalt möglicher internationaler Kontakte, den fast unbegrenzten (im doppelten Sinne) Austauschmöglichkeiten, in der Fülle der möglichen Zugänge zu seinem Werk und seinem Leben, in der Unerschöpflichkeit der Fragen und Antworten, der immer wieder überraschenden Aktualität bestimmter Aspekte. Damit sind zugleich Probleme verbunden: ein Einzelner ist kaum in der Lage, einen derartigen Autoren in allen seinen Facetten, Entwicklungen und Bezügen auch nur annähernd zu erfassen oder selbst zu überblicken. Einseitigkeiten, die einzelnen persönlichen Neigungen geschuldet sind, sind schwer zu vermeiden, die vielfältigsten Erwartungen kaum zu erfüllen. Es droht die Gefahr der „Atomisierung“; um ihr entgegenzuwirken, müssen Wege und Mittel gefunden werden, die vielen Partikularismen zu „totalisieren“, um mit Sartre zu sprechen, wobei der Prozess der „Totalisierung“ nicht in eine abgeschlossene Totalität münden darf.

Doch zuvor – obwohl mit dieser Ebene verbunden – sind scheinbar elementarere Fragen zu beantworten, die interessanter Weise besonders im zwanzigsten Jahr des Bestehens der Gesellschaft sich schärfer als zuvor stellten, verbunden mit einer Krise, aus der sie, wie bereits deutlich ablesbar, gestärkt hervorgeht. Eine Krise, die sich nicht zuletzt auch aus divergierenden bis inkompatiblen Antworten auf diese Fragen ergab: wer sind wir, was wollen wir, mit wem und wozu, wie?

Wer sind wir? Eine Vereinigung von Sozial-und Humanwissenschaftlern, von Philosophen und Literaturwissenschaftlern, von bewährten und angehenden Fachleuten auf diesem Gebiet mit besonderem Interesse an Sartre, oder eine Gruppe von – aus den verschiedensten Gründen – an Sartre Interessierten, Vertreter anderer Bereiche, Ärzte, Lehrer, Künstler, Selbstständige aller Arten, politisch Engagierte (mehrfache Ankreuzungen sind möglich)…? Oder beides?

Was wollen wir? Von der Beantwortung der ersten Frage hängt teilweise die Antwort auf diese zweite ab. Geht es in erster Linie um einen wissenschaftlichen Austausch innerhalb einer Gruppe, der es um ihre wissenschaftliche Entwicklung, einschließlich universitärer Laufbahn geht? Geht es um einen Austausch innerhalb eines breiteren Kreises? Geht es um eine Wirkung über diese Kreise hinaus, soll ein breiteres Publikum erreicht werden, mit Sartre bekannt gemacht werden? Verfolgen wir damit zugleich politische, aufklärerische, sozial eingreifende Absichten?

Von der Beantwortung dieser zweiten Frage hängt teilweise die der dritten ab. Dass wir als kleine Gesellschaft weder inhaltlich noch organisatorisch und auch ← 13 | 14 → nicht finanziell diese Ziele, unabhängig davon, wie restriktiv oder extensiv wir sie definieren, allein verwirklichen können, versteht sich von selbst. Wer sollen, können unsere bevorzugten Partner sein? Wenn unsere Intentionen vorwiegend wissenschaftliche sind, werden wir uns natürlich in erster Linie an Universitäten wenden, werden wir nach Hochschul„anbindungen“ Ausschau halten (so gab es konstruktive Kooperationen mit diversen Universitäten, in Berlin, aber auch in Jena und anderswo). Wenn wir uns nicht darauf beschränken, werden wir auch andere Partner in der Zivilgesellschaft suchen müssen. Da unser „Gegenstand“ mit keinem besonderen Ort, mit keiner besonderen Einrichtung in Deutschland verbunden ist, wird im Normalfall kein Bundesland, keine Stadt uns helfen können, wollen (wie bei vielen anderen Gesellschaften üblich). Dafür haben sich in der Vergangenheit unter anderen die französische Botschaft und französische wissenschaftliche oder kulturelle Einrichtungen oder auch die Landesvertretung des Saarlandes in Berlin als Partner bewährt.

Damit sind wir bei der Frage des „Wie?“ Sie beantwortet sich am Besten – abhängig von der Beantwortung der vorangegangenen Fragen – durch einen kritischen Rückblick auf die vergangenen zwanzig Jahre, auf die Tagungen, Vorträge, Publikationen. Das ist nicht nur hilfreich, sondern auch nötig, da neue Mitglieder, auch des Vorstandes, zwar die Gewähr für ein neues Leben und die Zukunft der Gesellschaft sind, jedoch diese Geschichte weniger kennen. Diese Kenntnis ist jedoch unverzichtbar, im Sinne eines Satzes von Hegel, den Sartre mehrfach und gern zitierte: „Wesen ist was gewesen ist.“

Der Rückblick auf unsere zwanzigjährige Aktivität zeigt, dass wir obige Fragen zwar kaum ausdrücklich thematisiert, jedoch immer wieder praktisch beantwortet haben.

Wer sind wir? Bereits bei der Gründung und der Wahl des ersten Vorstandes am 10. September 1993 im damaligen Künstlerclub „Die Möwe“ (heute Vertretung des Landes Sachsen-Anhalt), in Berlin, Luisenstraße 18, zeigte sich die „personelle“ Vielfalt: zum Präsidenten wurde Vincent von Wroblewsky gewählt, Romanist und Philosoph, als Stellvertreter Peter Knopp, Mathematiker, als Schatzmeisterin Kathrin Sollich, Studentin, als erste Beisitzerin Gabriele Heidötting, Philosophin, als zweite Beisitzerin Sabine Grunwald, Philosophin, als dritte Beisitzerin Bozena Ehrend, Philologin, wobei ungeplant ein Ost-West-Proporz annähernd eingehalten wurde. Nach dem Ausscheiden der drei letztgenannten kamen Wolfgang Weber, bildender Künstler, und Heiner Wittmann, Romanist, dann Manuela Hackel, Doktorandin, ebenso wie Marie Minot, und schließlich aus Zürich Alfred Betschart hinzu - eine beachtliche fachliche und geographische Erweiterung, die sich auch bei den Mitgliedern nachweisen ließe. ← 14 | 15 →

Was wollen wir? Das Statut gab darauf von Anfang an eine klare Antwort: Zweck des Vereins ist die Erforschung, Reflexion, Dokumentation und Verbreitung des literarischen, philosophischen, kunsttheoretischen und politischen Werkes von Jean-Paul Sartre. Die kritische Auseinandersetzung mit seinem vielfältigen Werk soll im weltoffenen Geiste Sartres zu Verständigung und Toleranz beitragen. Diese Ziele verfolgt der Verein – national und international – insbesondere durch den Austausch und die Diskussion von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, Vorträgen und Projekten, sowie durch gegenseitige Informationen.

Diese Ziele bemühten wir uns zu verwirklichen, mit unseren Veranstaltungen und den Publikationen, die ihnen teilweise vorausgingen oder auf diesen beruhten. So veröffentlichten wir 1999 den Sammelband Existentialismus heute, 2001 die Carnets 2000 – Jean Paul Sartre, 2003 einen weiteren Band der Carnets sartriens unter dem Titel Jean-Paul Sartre, „Die Freiheit des NEIN“, dann 2006 Jean Paul SartreDer Lauf des Bösen, 2008 Eine Moral in Situation, 2012 Jean Paul SartreReisende ohne Fahrschein, und schließlich 2014 der vorliegende Band Jean-Paul Sartre – eine permanente Provokation. Eine genauere Auskunft gibt unsere Homepage www.Sartre-Gesellschaft.de, auf der sich auch die Inhaltsverzeichnisse dieser Bände finden. Aus der Fülle der Veranstaltungen können nur einige ausgewählt werden.

Beginnen wir mit Buchvorstellungen. Im Herbst 1993 gab es gleich drei von ihnen: Paris 1939–1944–Dichter und Denker auf der Straße, herausgegeben im Elster Verlag, ein nachgelassenes Romanfragment von Sartre Die Königin Albemarle oder der letzte Tourist und das Freud-Scenario, das Sartre für den Film von John Hustons „Freud“ von 1962 geschrieben hatte. Im Frühjahr 1994 folgte die Vorstellung der neuen Übersetzung von Sartres Überlegungen zur Judenfrage (alle im Rowohlt Verlag). 1996 stellten wir im Institut Français Berlin die Neuausgabe der Tagebücher Sartres vor, 1997 daselbst die Briefe von Simone de Beauvoir an Sartre und Nelson Algren. 1999 konnten wir im Roten Salon der Volksbühne den Band Die Suche nach dem Absoluten mit verschiedenen Aufsätzen Sartres zur bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts aus der Rowohlt Reihe Schriften zur bildenden Kunst und Musik vorstellen. Als Bernard-Henri Levy im Dezember 2002 im Rahmen der Berliner Festspiele sein Buch Sartre, der Philosoph des 20. Jahrhunderts vorstellte, übernahm Vincent von Wroblewsky die Moderation und Übersetzung. Ein eigenes Buch, das anlässlich des hundertsten Geburtstag von Sartre zunächst 2005 in Frankreich unter dem Titel Pourquoi Sartre? erschien (Editions Bord de l’eau, Bordeaux) und 2009 als Lebendiger Sartre – 115 Begegnungen (im Basis Druck Verlag, es versammelt Autoren aus 23 Ländern von 4 Kontinenten und 4 Generationen, die über ihre prägende Beziehung mit J.-P. Sartre schreiben), stellte er am 25. September 2009 im Berliner Klub „Helle Panke“ und am 27. Januar 2010 im ← 15 | 16 → Literaturforum im Brecht-Haus in Form einer Lesung und eines Gesprächs zwischen Walter van Rossum, Gesine Bey und dem Herausgeber vor. Auch bei vielen der zuvor genannten präsentierten Büchern waren Mitglieder der Sartre Gesellschaft als Autoren, Herausgeber oder Übersetzer beteiligt.

Der internationale Charakter unserer nationalen Gesellschaft bestätigte sich bei vielen Veranstaltungen. Nennen wir einige Beispiele. Unter dem Titel „Enthüllte Geheimnisse“ sprachen 1997, moderiert von der Berliner Professorin Christina von Braun, u.a. Ursula Konnertz und Barbara Schulz mit Dominique Desanti, nicht nur als Frau von Jean-Toussaint Desanti bekannt, sondern auch durch zahlreiche eigene Veröffentlichungen. Sie konnte bei diesem Gespräch aus ihrem umfangreichen Erinnerungsschatz schöpfen, dem sie der intimen persönlichen Kenntnis von Sartre und Beauvoir, aber auch Louis Aragon und Elsa Triolet, Pablo Picasso und anderen verdankt – mit denen sie bereits im Widerstand gegen die Nazi-Besetzung Frankreichs in Kontakt stand. Sie nahm auch an der Tagung statt, die die Sartre Gesellschaft anlässlich von Sartres hundertstem Geburtstag 2005 im Institut français in Berlin veranstaltete. Dominique Desanti, 1914 in Moskau geboren, starb 2013 in Paris. Eine andere grande dame des öffentlichen Lebens Frankreichs, die 1994 unserer Einladung folgte, war Elisabeth Roudinesco. Die bekannte Psychoanalytikerin und Historikerin der Psychoanalyse sprach über die vielschichtigen Beziehungen Sartres zu Freud und zur Psychoanalyse. Bei unserer Tagung im Oktober 1994 im Künstlerclub „Möwe“ zum Thema Fragen der Methode und ihre Anwendung begrüßten wir neben inländischen Referenten den Anthropologen Emanuel Terray, der über Marx, Sartre und Derrida sprach. Im September 1995 veranstalteten wir im Institut français Berlin eine internationale Jahrestagung zum Thema „50 Jahre Les Temps Modernes – Interferenzen zwischen Ästhetik, Ethik und Politik im Denken Jean-Paul Sartres“. Adrian van den Hoven aus Kanada sprach über die Hierarchie der Künste im Ekel („La hiérarchie des arts dans La Nausée“), Geneviève Idt aus Paris über das Stück Der Teufel und der liebe Gott („Intrigue métaphysique et histoire dans Le Diable et le Bon Dieu“), Jean-François Louette, ebenfalls Paris, über „Sartre contre Nietzsche – À propos des Mouches“ („Sartre contra Nietzsche, anlässlich der Fliegen“), Kari Palonen aus Finnland über „Die Chancen der Handlungstheorien (Sartre, Weber, Arendt)“ und Annie Cohen-Solal, Autorin der maßgeblichen Sartre-Biographie, über „Sartre und seine Vorstellungen von der Kultur des Anderen“. Aus Deutschland referierten der Psychoanalytiker Claus von Bormann über „Die Theorie des Blicks bei Sartre und ihre Diskussion bei Lacan“, Vincent von Wroblewsky über „Sartres schwierige Freundschaften – Aron, Camus, Merleau-Ponty“, und Peter Knopp stellte eine „Anmerkung zur Todesdeutung bei Sartre und Max Frisch“ vor. In einem Rundtischgespräch debattierten u.a. Michel Rybalka, Michel Contat und Geneviève Idt sowie der Berliner Schriftsteller ← 16 | 17 → Manfred Flügge. Im Juni 1996 sprach Tosiko Asabuki, Dolmetscherin, im Institut français Berlin, gestützt auf Fotos, zum Thema „28 Tage mit Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre in Japan“. Im Oktober 1997 hielt daselbst der französische Schriftsteller Bernard Pingaud einen Vortrag über „Sartre écrivain malgré lui – Sartre, Schriftsteller wider Willen“. Im Februar 2002 stellte Gerard Dessons aus Paris in der Freien Universität Berlin seine Gedanken zum Verhältnis von Kunst, Sprache und Engagement bei Sartre vor.

Details

Seiten
324
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653046090
ISBN (ePUB)
9783653982367
ISBN (MOBI)
9783653982350
ISBN (Hardcover)
9783631653876
DOI
10.3726/978-3-653-04609-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (September)
Schlagworte
Existentialismus Freiheit Atombombe Ethik
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 324 S.

Biographische Angaben

Alfred Betschart (Band-Herausgeber:in) Manuela Hackel (Band-Herausgeber:in) Marie Minot (Band-Herausgeber:in) Vincent von Wroblewsky (Band-Herausgeber:in)

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Titel: Sartre
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