Lade Inhalt...

Sachlichkeit als Argument

Der Beitrag der Allgemeinen Pädagogik zur Lehrerbildung

von Jürgen Rekus (Band-Herausgeber:in)
©2014 Sammelband 129 Seiten
Reihe: Grundfragen der Pädagogik, Band 18

Zusammenfassung

Aktuelle Lehrerbildungskonzepte legen den Akzent zunehmend auf personale Kompetenzen und relativieren damit die Bedeutung des Unterrichtsgegenstandes für die Gestaltung von Unterricht. Durchsetzungsvermögen und strategisches Handeln sollen das fehlende sachliche Argument kompensieren. Demgegenüber kann die Allgemeine Pädagogik zeigen, dass es im Unterricht nicht um die Durchsetzung einer Sache, sondern um ihren Geltungsanspruch geht. Diesen prüfen zu lernen ist Gegenstand des Unterrichts. Dieser grundlegende Zusammenhang wird von den Autoren des Bandes unter verschiedenen Aspekten entfaltet. Damit wollen sie zugleich an Jürgen-Eckardt Pleines erinnern, der die philosophische Fundierung der Lehrerbildung immer wieder angemahnt hat.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Sachlichkeit als Argument. Der Beitrag der Allgemeinen Pädagogik zur Lehrerbildung
  • Willensfreiheit oder praktische Vernunft?
  • Meinung, Glaube und Wissen in der Schule
  • Schulaufgaben: Sachlichkeit und Menschlichkeit
  • Von der Sachlichkeit zu den Sachen und zurück. Anmerkungen zu einer Theorie schulischer Bildung
  • Zur Sache der Moral
  • Sache und Argument in einem dialogischen Unterricht
  • Zur Differenz von Berufswissen und Berufstüchtigkeit. Konsequenzen für Lehrerbildung und Lehrerbeurteilung
  • Publikationen

← 6 | 7 → Sachlichkeit als Argument. Der Beitrag der Allgemeinen Pädagogik zur Lehrerbildung

Jürgen Rekus

In den Nachbesprechungen zu Lehrproben wird in der Regel der Gang des Unterrichts nachgezeichnet und bewertet. Was wird dabei angesprochen? Die Schüler hätten prima mitgearbeitet, heißt es dann etwa, oder die Gruppenarbeit sei sehr kooperativ verlaufen. Die Lernenden haben sich selber einbringen und zahlreiche Aktivitäten entfalten können, auch die Arbeitsblätter seien stimulierend gewesen, das Tafelbild habe die Kinder gut angesprochen, die Freiarbeitsphasen seien gelungen usf. Wer in der Lehrerbildung tätig ist und an Unterrichtshospitation teilnimmt, kennt solche und ähnliche Aussagen. Selten wird dabei die Frage aufgeworfen, was denn die Schüler eigentlich gelernt hätten, oder was sie nun mehr oder anders als vorher wüssten. Der Inhalt des Unterrichts erscheint heute eher als Nebensache, die Form der Vermittlung ist zur Hauptsache geworden.

Die Verschiebung weg von der Sache hin zur Form reicht sogar bis in Prüfungsrichtlinien hinein, etwa wenn heute sogenannte Projektprüfungen favorisiert werden, bei denen es vor allen Dingen auf die Präsentation des Wissens ankommt, so kümmerlich es im Einzelfall dann sein mag. Powerpoint springt oft dort ein, wo die Kraft der Rede nicht mehr auf den Punkt gebracht werden kann.

Freilich ist das heute kein singuläres Phänomen der Schule. Wahlkämpfe zum Beispiel zeigen immer wieder, dass die um die Wählergunst Buhlenden nicht die Sachlichkeit für das entscheidende Wahlkriterium halten. Auch hier hat meistens die Form Vorrang vor dem Inhalt. Es kommt auf die Form des „Wahlkampfauftritts“ an, auf die bessere Show, und eben nicht auf die überzeugenderen Argumente.

Und – um ehrlich zu sein – zeigt nicht der eigene Wissenschaftsbetrieb Ähnliches? Wir sprechen heute nicht mehr von neuen oder neuartigen Erkenntnissen in den Sozial- und Geisteswissenschaften, sondern von verschiedenen Wissensformen. Unterschieden werden etwa rationale und intuitive, maskuline und feminine, theoretische und praktische Formen des Wissens, die allesamt scheinbar gleichrangig nebeneinander stehen. Der Ausdruck „Wissensform“ betont im Unterschied zum „Wissensbegriff“ stärker die Bindung an das Hier und Jetzt der Lebenswelt. Der mit dem Wissensbegriff eigentlich verknüpfte universelle, lebensweltüberschreitende Geltungsgedanke tritt in den Hintergrund oder verschwindet gleich. In postmodernen Diskursen wird deshalb auch nicht mehr die Geltung ← 7 | 8 → dieses oder jenes Satzes dialogisch thematisiert, da es sich bei „Wissensformen“ gerade nicht um argumentierbare Einsichten und Erkenntnisse handelt, die eine bestimmte und bestimmbare Relation zur Wahrheit beanspruchen. Vielmehr geht es im Diskurs um den Austausch der je eigenen mehr oder weniger begründeten Sichtweisen. Es geht nicht um „Etwas“, sondern um „Mich“. Es geht um das, was mich interessiert, und nicht um das von mir unabhängige, sachliche „an sich“. Diskurse laufen auf die Akzeptanz von vielfältigen Meinungen und Sichtweisen hinaus. Dagegen finden geltungsgebundene Dialoge, die sich der Wahrheit annähern wollen, im Wissenschaftsbetrieb immer weniger statt.

Die Bedeutungsverschiebung weg von den Inhalten hin zu den Formen ist in der Erziehungswissenschaft kein ganz neues Phänomen. Es fand seinen entschiedenen Ausdruck in der Reformpädagogik. Das Kind und seine formativen Kräfte standen im Mittelpunkt dieser Bewegung, ihm sollte geholfen werden, alles Lernen selbst, aber nicht unbedingt richtig zu tun. Das damit verbundene Spannungsverhältnis von formaler und materialer Bildung hat die Pädagogik seitdem intensiv beschäftigt.

Festzuhalten ist, dass der formbezogene Vermittlungsgedanke heute den engeren Rahmen der Pädagogik verlassen hat und gewissermaßen „totalitär“ auftritt, etwa wenn Parteien erklären, sie hätten ein „Vermittlungsproblem“, weil sie ihre Botschaften nicht in eine Form bringen könnten, die die Wähler akzeptieren, oder wenn Wirtschaftsbetriebe als „lernende Organisationen“ betrachtet werden, in denen die Beschäftigten durch Supervision, Coachings und ähnliche verhaltensbeeinflussende Interventionsstrategien am Ende betriebskonforme Standards und Kompetenzen zeigen sollen.

Das alles lässt sich kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen, aber der Verlust der Sachlichkeit ist in pädagogischen Kontexten besonders prekär. Denn mit ihm geht die eigentliche bildende Sinnrichtung des Lernens verloren. Es geht dann nicht mehr um begründete Erkenntnisse und Einsichten, sondern nur noch um gewünschte Verhaltensbereitschaften, die als willfährige Kompetenzen formuliert werden. Die Geltungsfrage, die das Lernen seinem Wesen nach bestimmt, spielt dann überhaupt keine Rolle mehr. Denn Kompetenzen sind weder wahr noch falsch, sondern allenfalls erwünscht oder ungewollt. Statt um Bildung geht es allenfalls noch um die Ausbildung von vor- und ausführbaren und deshalb auch messbaren Standards.

Aktuelle Lehrerbildungskonzepte spiegeln diese Entwicklung wider und legen den Akzent zunehmend auf sogenannte personale Kompetenzen. Damit wird die Bedeutung der fachlichen Urteilsfähigkeit für die Gestaltung des Unterrichtsprozesses relativiert. An die Stelle der Fähigkeit zur sachlichen Argumentation wird dann – wie etwa in der Prüfungsordnung für das Lehramt an Gymnasien in ← 8 | 9 → Baden-Württemberg – „Durchsetzungsvermögen“ und „Konfliktmanagement“ als Kernkompetenz vom Lehrer erwartet (vgl. Prüfungsordnung 2009, S. 439).

Demgegenüber haben Vertreter der Allgemeinen Pädagogik immer wieder gezeigt, dass es im Unterricht gerade nicht um die Durchsetzung einer Sache, sondern um ihre Ingeltungsetzung geht. Diese kann nicht invasiv durch eine falsch verstandene „Methodenkompetenz“ bewerkstelligt, sondern nur argumentativ befördert werden. Sachlichkeit und Argument sind deshalb zusammengehörige Prinzipien des Pädagogischen, die im Dialog fällig werden. Wo Meinung und Durchsetzungsfähigkeit an die Stelle von Sachlichkeit und Argument treten, muss der Unterricht in Manipulation und Indoktrination umschlagen.

Sehr früh hat Jürgen-Eckardt Pleines darauf aufmerksam gemacht, dass Sachlichkeit zum Geschäft der Pädagogik gehört – dieses durch jene geradezu fundiert wird. Mehr noch: Sachlichkeit hat im Pädagogischen eine doppelte Konnotation. Zum einen geht es ja immer um eine Sache, wenn zwei Personen sich im Dialog als Lehrer und Schüler konstituieren. Ohne diese Sache käme ein Lehrer-Schüler-Verhältnis gar nicht erst zustande. Worüber sollten sich Lehrer und Schüler sonst auseinandersetzen, wenn nicht über einen Sachverhalt? Aber der Sachverhalt ist ja immer ein gedachter, sonst könnte man nicht über ihn sprechen. Insofern ist jeder Sachverhalt immer auch ein „Ichverhalt“, der in je unterschiedlicher Weise gesehen und argumentiert wird.

Details

Seiten
129
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653045697
ISBN (ePUB)
9783653982763
ISBN (MOBI)
9783653982756
ISBN (Hardcover)
9783631653661
DOI
10.3726/978-3-653-04569-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
Bildungsphilosophie Unterricht Schule Schulaufgaben Berufswissen Lehrerbildung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 129 S.

Biographische Angaben

Jürgen Rekus (Band-Herausgeber:in)

Jürgen Rekus war Lehrer an verschiedenen Schulen und ist seit vielen Jahren Hochschullehrer. Er leitet das Institut für Allgemeine Pädagogik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).

Zurück

Titel: Sachlichkeit als Argument
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
132 Seiten