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«Weiße Bruderschaft» und «Delphische Idee»

Esoterische Religiosität in Bulgarien und Griechenland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

von Thomas Heinzel (Autor:in)
©2015 Dissertation 287 Seiten

Zusammenfassung

Diese religionswissenschaftliche Studie untersucht in vergleichender Perspektive zwei Manifestationen der sogenannten Esoterik in Südosteuropa: die religiöse Bewegung Weiße Bruderschaft des Bulgaren Petăr Dănov (1864-1944) und das utopische Erlösungsprojekt Delphische Idee des Griechen Angelos Sikelianos (1884-1951). Der Verfasser analysiert zum einen, auf welche Weise die beiden Protagonisten soziale Anerkennung für ihre religiösen Wahrheitsansprüche zu gewinnen und eine Anhängerschaft zu mobilisieren versuchen. Zum anderen beleuchtet er das gegenseitige Verhältnis von esoterischer Religiosität und offizieller Kirche im regionalen und historischen Kontext des orthodoxen Südosteuropa. Eine weitere Betrachtung gilt den rituellen und inszenatorischen Aspekten von Weißer Bruderschaft und Delphischer Idee.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Einleitung
  • 1. Umriss des Untersuchungsgegenstands
  • 2. Der historische Kontext
  • 3. Erkenntnisinteresse
  • Theorie und Methodik
  • 1. Pierre Bourdieus Theorie sozialer Felder
  • 2. Martin Riesebrodts handlungstheoretisches Religionsverständnis
  • 3. Höheres Wissen als Kapital: Esoterische Religiosität
  • 3.1 Historischer Umriss und Definition von Esoterik
  • 3.2 Esoterik in der „entzauberten Welt“: Die Theosophische Gesellschaft und ihr Einfluss
  • 4. Vorgehensweise
  • Forschungsstand und Quellenlage
  • 1. Petăr Dănov und die Weiße Bruderschaft
  • 2. Angelos Sikelianos und die Delphische Idee
  • Manifestationen esoterischer Religiosität
  • 1. Petăr Dănov und die Weiße Bruderschaft
  • 1.1 Biographisch-historischer Überblick
  • 1.2 Das Selbstbild Dănovs und seiner Anhänger
  • 1.3 Zentrale Punkte in Dănovs Lehre
  • 1.3.1 Die Verwirklichung der göttlichen Liebe
  • 1.3.2 Das Streben nach Einklang mit der Natur
  • 1.3.3 Das Kommen der „Sechsten Rasse“ und das Erwachen des kollektiven Bewusstseins
  • 1.3.4 Die Mission des Slawentums
  • 1.4 Die Weiße Bruderschaft im politischen Kontext
  • 1.4.1 Gesellschaftsethische Ideale und politische Implikationen
  • 1.4.2 Der Fall Ljubomir Lulčev
  • 1.5 Weiße Bruderschaft und Orthodoxes Christentum
  • 1.5.1 Dănovs Positionierung gegenüber der Orthodoxie
  • 1.5.2 Kirchliche Reaktionen und Stellungnahmen
  • 1.6 Ritualisierung: Die Paneurhythmie
  • 1.6.1 Entstehung und historischer Kontext
  • 1.6.2 Ausübungspraxis, Struktur und Symbolik
  • 1.6.3 Zugesprochene Funktionen und Effekte
  • 2. Angelos Sikelianos und die Delphische Idee
  • 2.1 Biographisch-historischer Überblick
  • 2.2 Sikelianos’ Welt- und Selbstbild
  • 2.3 Die Delphische Idee
  • 2.3.1. Das Erbe des „Delphischen Griechenlands“
  • 2.3.2 Eine neue „Geistesaristokratie“
  • 2.3.3. Die Delphische Universität
  • 2.3.4 Fürsprecher und Anhänger
  • 2.3.5 Intellektuelle und kulturjournalistische Kritik
  • 2.4 Sikelianos nach 1936 und das Erbe der Delphischen Idee
  • 2.5 Delphische Idee und Orthodoxes Christentum
  • 2.5.1 Sikelianos’ Positionierung gegenüber der Orthodoxie
  • 2.5.2 Orthodoxe Stellungnahmen zur Delphischen Idee
  • 2.6 Inszenierungen im Rahmen der Delphischen Idee
  • 2.6.1 Der historische Kontext
  • 2.6.2 Die Delphischen Festspiele
  • 2.6.2.1 Aufführungspraxis und religiöse Deutung
  • 2.6.2.2 Inszenierung und Vision
  • 2.6.3 Das Mysterienspiel „Der letzte orphische Dithyrambus“
  • Vergleichend-analytische Betrachtungen
  • 1. Soziale Beglaubigung und Mobilisierung
  • 2. Esoterik und Orthodoxie
  • 3. Ritualisierung und Inszenierung
  • Abschließende Bemerkungen
  • Literaturverzeichnis
  • 1. Quellen
  • 1.1. Quellen zu Petăr Dănov und der Weißen Bruderschaft
  • 1.2 Quellen zu Angelos Sikelianos und der Delphischen Idee
  • 1.3 Sonstige Quellen
  • 2. Sekundärliteratur
  • 2.1 Sekundärliteratur zur Weißen Bruderschaft
  • 2.2 Sekundärliteratur zur Delphischen Idee
  • 2.3 Sonstige Sekundärliteratur

Vorwort

Die Anfänge meiner Beschäftigung mit esoterischer Religiosität in Südosteuropa liegen im Jahr 2007, als ich auf der Suche nach einem Thema für meine Masterarbeit in einem wissenschaftlichen Bulgarien-Handbuch auf den Begriff Weiße Bruderschaft stieß. Die darauffolgenden Recherchen vermittelten mir nicht nur Kenntnisse über eine in Deutschland so gut wie unbekannte religiöse Bewegung, sondern richteten meine Aufmerksamkeit zum ersten Mal auf das Forschungsfeld der sogenannten Esoterik. Die eher randständige Position dieses Arbeitsgebietes innerhalb der deutschsprachigen Religionswissenschaft und die äußerst überschaubare Anzahl von empirischen kultur- und sozialwissenschaftlichen Arbeiten zur Weißen Bruderschaft bzw. zu esoterischer Religiosität im Balkanraum motivierten mich dazu, mich dieses Themas auch in meiner Dissertation anzunehmen und so einen entsprechenden wissenschaftlichen Beitrag zu leisten. Neben eine im Vergleich zu meiner Masterarbeit deutlich vertiefte und erweiterte Beschäftigung mit der bulgarischen Bewegung sollte dabei die Untersuchung einer weiteren südosteuropäischen Manifestation esoterischer Religiosität treten: der Delphischen Idee des griechischen Literaten Angelos Sikelianos, deren spezifischer religiöser Gehalt ebenfalls noch kaum in ausreichendem Maße Gegenstand wissenschaftlicher Analysen geworden ist. In einer vergleichenden Untersuchung sollten diese beiden Phänomene – so die Zielstellung des Projekts – in einem gemeinsamen historischen Kontext verortet und das gesellschaftliche Handeln der jeweiligen Akteure in einer Zusammenschau beleuchtet werden, um auf diese Weise länderübergreifende religions-, ideen- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge herauszuarbeiten. Das Graduiertenkolleg 1412 der DFG, das sich der interdisziplinären Erforschung Südosteuropas widmet, bildete mit seinen fruchtbaren wissenschaftlichen Austauschmöglichkeiten den idealen Rahmen für mein Unterfangen, das unter der Betreuung von Prof. Dr. Vasilios N. Makrides (Professur für Religionswissenschaft/Orthodoxes Christentum an der Universität Erfurt) schließlich Gestalt annahm.

Mein herzlicher Dank gilt meiner Familie für ihre unerschütterliche Unterstützung und Zuversicht, und meiner Frau Astrid Willenbacher, M.A., für ihren liebevollen Rückhalt, ihre unentbehrliche Hilfe bei der Korrektur und Formatierung des Textes sowie viele fruchtbare Gespräche über das Thema der Dissertation.

Erfurt, im Mai 2014

Thomas Heinzel

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Einleitung

1.Umriss des Untersuchungsgegenstands

Während der krisengeschüttelten 1920er Jahre treten in Bulgarien und Griechenland zwei Männer ins Rampenlicht, die sich als Werkzeuge des Göttlichen verstehen; beide verkünden den Anbruch eines neuen Zeitalters des dauerhaften Friedens und der Harmonie sowie die Schaffung bzw. Entstehung des „Neuen Menschen“, der im Einklang mit Natur und kosmischer Ordnung lebt. Im bulgarischen Fall handelt es sich um den studierten methodistischen Theologen Petăr Dănov (1864–1944), der als geistlicher Führer und spiritistisches Medium bereits um 1900 einen kleinen Anhängerkreis um sich sammelt, bevor er nach dem Ersten Weltkrieg mit seiner religiösen Bewegung Weiße Bruderschaft breitere gesellschaftliche Präsenz und Relevanz gewinnt. In Griechenland tritt der Dichter Angelos Sikelianos (1884–1951), der sich durch seine lyrischen Werke bis dato ein hohes literarisches Renommée erworben hat, mit der Delphischen Idee an die Öffentlichkeit: Die Gründung eines spirituellen Zentrums in Delphi, an dem eine geistige Elite die Erlösung der Menschheit zu Wege bringen soll.

Beide Phänomene sind Manifestationen eines religiösen Denkens und Handelns, das sich als Alternative zu den offiziellen Glaubenssätzen und traditionellen Frömmigkeitsformen des damals in Griechenland wie Bulgarien verfassungsmäßig „vorherrschenden“ Orthodoxen Christentums konstituiert und sich außerhalb kirchlicher Strukturen entfaltet. Dănov und Sikelianos sind Vertreter einer Religiositätsform, deren vielfältige Ausprägungen von der heutigen Forschung zumeist mit dem Sammelbegriff Esoterik bezeichnet werden. Die esoterische Religiosität, deren geistige Wurzeln vor allem in den spätantiken philosophisch-religiösen Strömungen des Neoplatonismus und Gnostizismus liegen, ist durch den Anspruch auf ein höheres, erlösendes Wissen über das Sein gekennzeichnet, also eines Heils, das unabhängig von religiösen Institutionen in einer individuellen „Selbstermächtigung“ gewonnen wird. Die Begründer respektive Initiatoren der Weißen Bruderschaft und der Delphischen Idee proklamieren einen derartigen Anspruch, mit dem sie antreten, ihre jeweiligen Völker aus der Krisensituation der Zwischenkriegszeit in eine strahlende Zukunft zu führen und den Grundstein für die spirituelle Vervollkommnung der gesamten Menschheit zu legen.

Auf der Basis eines esoteriktypischen holistischen Weltbildes predigen beide die universale Verbrüderung und Vereinigung der in ihren Augen geistig, politisch und religiös zersplitterten Menschheit (sie sehen sich im Besitz einer Wahrheit, die diese Differenzen transzendiert), die Überwindung eines einseitigen rationalistischen und materialistischen Paradigmas der Naturwissenschaften zugunsten einer tieferen Wahrheit über das Dasein, und die Harmonisierung des Menschen mit der mütterlichen, als göttlich beseelter Organismus gedeuteten Natur, um so eine „naturgemäße“, für die Höherentwicklung des Menschen ← 11 | 12 → geschlechts unabdingbare Ganzheit des Lebens (wieder-)herzustellen. Dănov und Sikelianos, die um 1900 religiös und intellektuell sozialisiert wurden, sind zutiefst von den seit dieser Zeit in ganz Europa und Nordamerika aufkeimenden alternativ-religiösen, lebensreformerischen und antimodernistischen Diskursen und Strömungen beeinflusst, die zu einem großen Teil Ausdruck einer auflebenden esoterischen Religiosität sind.

2.Der historische Kontext

Seit der Mitte des 19. Jahrhundert vollzieht sich in Europa ein fundamentaler Wandlungsprozess, den man als „Übergang in die industriegesellschaftliche Moderne“ bezeichnen kann.1 Seine Kennzeichen sind Urbanisierung, Industrialisierung, Technisierung und Verwissenschaftlichung, die Rationalisierung von Ökonomie und Verwaltung, die Auflösung und Wandlung traditioneller Sozialstrukturen und Wertvorstellungen, die Standardisierung des Alltags durch Moden und Massenkonsum, eine zunehmende Beschleunigung, Pluralisierung und Individualisierung von Leben und Alltagswelt. Neue naturwissenschaftliche, technologische, psychologische sowie philosophische Erkenntnisse und Errungenschaften sorgen einerseits für Fortschrittseuphorie, erschüttern jedoch gleichzeitig die bis dato gültigen Vorstellungen über Mensch und Welt in ihren Grundfesten.2 Die von Aufklärung und Französischer bzw. Industrieller Revolution geprägte Entwicklung erreicht um 1900 ein Stadium, in dem das Überwiegen moderner Tendenzen gegenüber traditionalen Strukturen nicht mehr zu übersehen ist und in dem Verunsicherung und Orientierungslosigkeit Fuß fassen:

Die nüchterne Rationalität wissenschaftlicher Welterklärung und die darauf gründende Fortschrittsgewissheit machte mit den Triumphen des menschlichen Geistes den Zeitgenossen die Ohnmacht des Menschen eigentlich erst deutlich. Der Glaube an eine „natürliche“ Ordnung, die Hoffnung auf die Ganzheitlichkeit menschlicher Existenz und die Gewissheit absoluter Erkenntnis zerstoben buchstäblich angesichts der Relativität der Natur (Albert Einstein) und des Menschen (Sigmund Freud) sowie infolge der Aufhebung von Kohärenz und in der Unübersichtlichkeit pluralistischer Vielfalt. Die Beschleunigung des Transports der Informationen und der Güter, des Reisens und des täglichen Verkehrs, des Geschmacks und der Moden drohte das Gewordene, die Tradition zu zerstören […] und den Menschen zu einer nomadenhaften Existenz der „Ortlosigkeit“ zu verurteilen.3

Die „Moderne“ wird von damaligen Zeitdiagnostikern als konfuse Gemengelage unvereinbarer Antinomien wahrgenommen: Universalismus versus Partikularismus, Kollektiv versus Individuum, Differenzierung versus Einheit, Konfor ← 12 | 13 → mität versus Individualität, Sicherheit versus Selbstverantwortung, Bindung versus Freiheit, Rationalität versus Irrationalismus.4 Im wilhelminischen Deutschland kommt es im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer immer extensiveren Verwendung von Begriffen wie „Atomisierung“, „Zersetzung“, „Dekomposition“ oder auch „Fäulnis“ als Metaphern für eine wachsende politische Fragmentierung, soziale Segmentierung sowie „entsprechender Desintegrationsprozesse im geistigen Kosmos der Bildungsschichten“.5

Besonders bildungsbürgerliche Kreise6, Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler suchen nach einer neuen Ganzheit, nach einer versöhnenden Synthese der Antinomien, nach der Überwindung von sozialer Entfremdung, Wertezerfall und auch „transzendentaler Obdachlosigkeit“7: Die Folgen der auf-klärerischen Religionskritik, des Darwinismus, die Etablierung der rasant fortschreitenden Naturwissenschaften als Weltdeutungsinstanzen, die Veränderung des Menschenbildes durch die Psychologie und die Einführung der historisch-kritischen Methode in die Theologie führen zu einer beträchtlichen Plausibilitätseinbuße der christlichen Verkündigung und damit zu einem Autoritätsverlust der Kirchen – gerade bei den genannten sozialen Gruppen. Hinzu kommt, dass durch Kolonialismus und Missionstätigkeit Informationen über außereuropäische religiöse Traditionen wie Buddhismus, Zoroastrismus oder Hinduismus in den Westen gelangen, wo Übersetzungen der entsprechenden religiösen Texte angefertigt werden, so dass die Bedeutung des Christentums relativiert wird und gleichzeitig „Material“ für neue religiöse Ansätze bereit steht.8

Um 1900 bilden sich aus der Suche nach neuer Ganzheit, Sinnstiftung und Wertorientierung zahlreiche alternative religiöse Weltanschauungen, Bewegungen und Gruppierungen außerhalb der überkommenen christlichen Konfessionen wie auch der jüdischen Gemeinden heraus.9 Die seit der Frühen Neuzeit immer weiter vorangetriebene Ausdifferenzierung getrennter religiöser und säkularer ← 13 | 14 → sozialer Wertsphären, resultierend in einer Schwächung oder auch Aufhebung der gesamtgesellschaftlichen Normativität kirchlicher Wertvorstellungen und Autoritätsansprüche, schafft Raum für eine Pluralisierung des religiösen Feldes – es bildet sich ein deregulierter religiöser Markt:

Die Erwartungen des 19. Jahrhunderts, Religion – vor allem christliche Religion – würde ihrem raschen Ende entgegen gehen, liefen ins Leere. Mit einer Pluralisierung des religiösen Feldes hat sich das Spektrum möglicher Orientierungen deutlich erweitert: Es reicht nun von Erweckungsbewegungen und einem rigiden christlichen Literalismus über eine Affinität zu fremden, östlichen Religionen bis hin zu einer aktualitäts- und bedarfsorientierten Form religiöser Praxis. Zugleich bleiben bestimmte „Hauptströmungen“ der Europäischen Religionsgeschichte präsent: Neuplatonismus, Hermetik, Manichäismus und Gnosis sind weiterhin als strukturgebende und kombinationsfähige Elemente im Spiel und liefern Modelle für die Alternativen zwischen einem wissenschaftlichen oder religiösen Monismus und „dualistischen Häresien“.10

Aus Neuplatonismus, Hermetik und Gnosis (genauer gesagt: Gnostizismus) stammen die konstitutiven Elemente der esoterischen Religiosität, die seit der Frühen Neuzeit ihren festen Platz in den gebildeten Schichten Europas hat; während sie damals aber vornehmlich eine individuelle Option sich selbst grundsätzlich als katholische oder protestantische Christen verstehender Personen darstellt (die Aufgrund ihrer Vorstellungen und Praktiken zumindest potentiell Sanktionen zu fürchten hatten bzw. innerhalb der geschützten Sphäre von Geheimbünden oder freimaurerischen Logen agieren mussten11), ist seit dem 19. Jahrhundert eine Entfaltungsmöglichkeit in offen außer-kirchlichen, ja mitunter antikirchlichen Gemeinschaftsbildungen und Organisationsstrukturen gegeben. Der zentrale Impuls zu einem Aufleben und einer größeren Verbreitung esoterischer Religiosität kommt dabei aus den USA, wo seit jeher eine pluralistischere Konfiguration des religiösen Feldes als in Europa vorliegt, und wo der gesellschaftliche Wandel im 19. Jahrhundert eine Abkehr von den strengen Lehren der puritanisch-calvinistischen Mainstream-Denominationen zugunsten religiöser Alternativen befördert12: Der Spiritismus, der „experimentelle“ Beweise für ein Leben nach dem Tod liefern will, und die in einigen Punkten an ihn anknüpfende, stark aus den Textquellen asiatischer Religionen schöpfende Theosophie Helena Blavatskys schwappen nach Europa, wobei vor allem letztgenannte Bewegung für zahlreiche neuere religiöse Ausdrucksformen wie die Weiße Bruderschaft zum Vorbild wird.

Das Aufleben esoterischer Religiosität ist Teil eines um die Jahrhundertwende generell zu konstatierenden Trends zum, erstens, Mystischen, Magischen, Irrationalen, Existentiellen als „transzendentaler Schutz der Individualität gegen den Zugriff der ‚objektiven‘ Zwänge der Moderne wie gegen die Selbstzerstörung ← 14 | 15 → des Menschen und der Kultur“13, und zweitens, zum Natürlichen, Vitalen, Organischen und der Gemeinschaftlichkeit gegenüber der Vereinzelung, Entfremdung, gesichtslosen Massenkultur und industriellen Standardisierung in der „kalten Maschinenzivilisation“. Das Leiden an den „Auswüchsen“ der Moderne führt bis in die zwanziger Jahre zu Formen des Eskapismus, wie Gunther Mai prägnant ausführt:

Flucht in die harmonischen Gegenwelten der Esoterik, in östlichen (Aldous Huxley) und katholisierenden Mystizismus (Paul Verlaine, Oscar Wilde…), Paganismus (Somerset Maugham) und neuheidnische Naturkulte, in das vermeintliche Paradies „primitiver“ Kulturen der Südsee (Arthur Rimbaud, Paul Gauguin), Afrikas oder Tibets, in die „reine“ Form des Geistigen. Völkische, kommunistisch-anarchistische, religiös-esoterisch-okkultistische, anarcho-syndikalistische Kommunen suchten Heilung, Ganzheitlichkeit und Gemeinschaft. Rurale Keimzellen zur Erneuerung der Gemeinschaft wurden von rechten und linken Bewegungen schon vor 1914 gegründet, die in der Natur die Natürlichkeit des Lebens suchten: Wandervogel und Pfadfinder bzw. Boy Scouts, Landheim- und Lebensreformbewegung oder Reformpädagogik, Land- und Künstlerkommunen, Natur- und Freikörperkultur, ‚Heimatschutz‘ und Gartenstadt, die Propagandisten von „Blut und Boden“, „Retour a la Terre“ (Jules Méline, 1905) und von „La Terre et les Morts“.14

Viele zeitgenössische Stimmen erwarten bei Kriegsausbruch 1914 eine umfassende Katharsis, die einen radikalen Neubeginn ermöglichen soll, die Fassaden des „alten Europa“, hinter dem sich der Modernisierungsprozess vollzieht, niederreißt und so dem Fortschritt in eine bessere Zukunft oder der Rückkehr in eine idealisierte Vergangenheit den Weg ebnen soll. Der Weltkrieg hinterlässt Millionen Tote und Verwundete und erschüttert nicht nur die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch bis dato etablierte Gewissheiten und verbürgte Bedeutungen. Die alte Ordnung wird in der Tat zerstört, jedoch gibt es kaum präzise Vorstellungen darüber, wie eine neue Ordnung aussehen soll; der gesellschaftliche Strukturwandel beschleunigt sich durch den Krieg, gibt ihm aber keine neue Richtung, sondern verschärft seine sozialen und politischen Kosten und lässt ihn in der Wahrnehmung der Zeitgenossen als fundamentale Krise erscheinen.15 Das Gefühl, in einer „Übergangszeit“ zu leben, in „Heimatlosigkeit“ und „Entwurzelung“ prägt schon die Intellektuellendiskurse um 1900 und wird in der Zwischenkriegszeit zu einem Mehrheitsbewusstsein, das die Suche nach radikalen Auswegen begünstigt:

In der anhaltenden Extremsituation von Revolution und Bürgerkrieg, von Wirtschaftskrise und individueller Not erhielt Freiheit einen Tauschwert, sie wurde zur „Ware“, die gegen „Sicherheit“ eingehandelt wurde. Das Vakuum der Freiheit, der Verlust eines Korsetts normativer Verbindlichkeiten, die Suche nach neuer Sinnvergewisserung und Orientierung, ← 15 | 16 → nach umfassender Sicherheit in allen Lebensbezügen begünstigten die „Flucht aus der Freiheit“ (Erich Fromm), die Flucht in geschlossene weltanschauliche Systeme und radikale Lösungsangebote. […] Die Versöhnung der als unvereinbar wahrgenommenen Gegensätze war die herkulische Aufgabe dieser orientierungslosen Übergangszeit; die Versöhnung von Gestern und Morgen, von Beharrung und Dynamisierung, […] von agrarischer Mentalität und industriegesellschaftlichen Lebensformen […].16

Diese Situation schafft schließlich europaweit den Boden für diverse Diktaturen und autoritäre Regime, welche die unversöhnten Gegensätze durch Zwang überwinden wollen und das Ziel einer selektiven Aneignung der „Moderne“ verfolgen, in der die Fehlentwicklungen letzterer vermieden oder revidiert werden.17 Gleichzeitig (und in Überschneidung mit den antidemokratischen Systemen) ist zu beobachten, dass die von Bildungseliten und Künstlern getragenen alternativ-religiösen, antimodernistischen und ganzheitlichen Strömungen der Jahrhundertwende eine verstärkte utopisch-millenaristische Aufladung erfahren, dass es nun weniger um eine „Flucht in Gegenwelten“ geht, sondern die Schaffung einer neuen, erlösenden Ordnung, des „Neuen Menschen“ und einer „anderen Moderne“.18

Dănov und Sikelianos stehen mit ihrem esoterischen Wissensanspruch und der von ihnen verkündeten Versöhnung aller Gegensätze in der kosmischen Einheit genau in diesem diskursiven Kontext der Zwischenkriegszeit. Von einem Strukturwandel, wie er sich etwa in Deutschland, Frankreich oder den USA seit dem 19. Jahrhundert darstellt, kann in ihren Heimatländern Bulgarien und Griechenland indes keine Rede sein: Wie überall in Südosteuropa gibt es dort in der Zwischenkriegszeit nur eine punktuelle Urbanisierung und Industrialisierung, es handelt sich um Agrargesellschaften mit einer großen ländlich-bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit.19 Dieser Mehrheit steht in den existierenden urbanen Räumen eine Schicht von Intellektuellen, Künstlern und Intelligenzberuflern gegenüber, die man zusammenfassend als Intelligenzija20 bezeichnen kann: Lehrer, Ärzte, Anwälte, Schriftsteller, Wissenschaftler, Journalisten usw. Als Verkünder und Verbreiter nationalkultureller Werte und Wissensbestände wie auch in ihrem Einsatz für die Unabhängigkeit und staatliche Einheit ihrer jeweiligen Länder kommt der Intelligenzija eine entscheidende Rolle bei der Nationsbildung in der ← 16 | 17 → Region zu.21 Ihre Haltung gegenüber der agrarischen Bevölkerungsmehrheit schwankt im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen Verachtung ob der Rückständigkeit des ländlichen Lebens und einer Romantisierung der dörflichen Gemeinschaft und volkstümlicher Traditionen als Manifestationen der Nationalkultur. In ihrem Elitebewusstsein sieht sie es als ihre Aufgabe, das einfache Volk zu erziehen, es auf ein höheres kulturelles, bildungsmäßiges und auch ökonomisches Niveau zu bringen.22 Das Vorbild, an dem sich die Intelligenzija orientiert, sind die Länder West- und Mitteleuropas, deren geistig-kulturelle Einflüsse – von Aufklärung und Romantik über Marxismus bis Nietzscheanismus und Theosophie – für ihr Denken prägend sind.23

Der Theologe Petăr Dănov und das Gros seiner Bewegung wie auch der Literat Angelos Sikelianos und der antirationalistische Personenkreis um ihn gehören der Intelligenzija an; auch für sie ist „der Westen“ ein zentraler Bezugspunkt (sowohl im positiven Sinne als auch als Negativfolie), auf dessen alternativ-religiösen, lebensreformerischen und antimodernistischen Diskursen ihr eigenes Denken und Handeln fußt. Ebenfalls bildet die Höherentwicklung ihrer Völker einen zentralen Punkt ihrer millenaristischen Visionen, wobei sie selbst sich als geistig vervollkommnete Träger und Agenten dieser Erhöhung begreifen. Eine essentielle Bewusstseinstransformation der Bulgaren und Griechen und davon ausgehend der gesamten Menschheit ist für sie der einzige Ausweg aus der Krisensituation der Zwischenkriegszeit, die Bulgarien und Griechenland genauso wie andere Teile Europas schwer trifft. Der Erste Weltkrieg verschärft die seit langem in den südosteuropäischen Gesellschaften angelegten Mängel – eine international kaum wettbewerbsfähige Landwirtschaft sowie von Korruption, Nepotismus und Willkür gekennzeichnete staatliche Institutionen – in dramatischem Maße und generiert massive politische Spaltungen und Radikalisierungen. Durch die Weltwirtschaftskrise verlieren zahlreiche Bauern ihre Existenz und verelenden.24 Die autoritären Regime des bulgarischen Königs Boris III. und des griechischen Generals Ioannis Metaxas machen sich in den dreißiger Jahren schließlich daran, die Krise mit diktatorischen Mitteln zu überwinden. Vorher stellen jedoch bereits Dănov und Sikelianos eine umfassendere Erlösung in Aussicht.

3.Erkenntnisinteresse

Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich untersuchen, wie die beiden Protagonisten Dănov und Sikelianos mit ihren esoterischen Wissensansprüchen und ihren Heilsbotschaften gesellschaftlich agieren, d.h. wie sie ihre individuelle Reli ← 17 | 18 → giosität, Weltanschauung und Wertvorstellungen zur handlungsleitenden Orientierung für andere Personen in der Gesellschaft machen bzw. machen wollen, und welche Position sie dabei gegenüber bereits bestehenden Orientierungen und den sie tragenden sozialen Akteuren einnehmen. Dabei richtet sich mein Interesse auf drei übergeordnete Themenkomplexe mit entsprechenden Fragestellungen:

Soziale Beglaubigung und Mobilisierung: Auf welchem Selbst- und Weltbild basiert das Handeln von Dănov und Sikelianos? Auf welche Weise versuchen sie Anerkennung für ihren Wahrheitsanspruch zu erlangen, um damit Anhänger und Unterstützer zu mobilisieren? An welche Personenkreise wenden sie sich und umgekehrt: Welche Personenkreise finden zu ihnen, wie kommunizieren sie ihre religiösen Inhalte? In welchem religions-, ideen- und kulturgeschichtlichen Kontext sind diese Inhalte zu verorten? Dănov und Sikelianos vertreten esoterische Geschichtsbilder – in welches Verhältnis setzen sie sich damit zu vorherrschenden nationalen Geschichts- und Identitätsdiskursen? Wie verhalten sie sich zum zeitgenössischen politischen Kontext, welche Verbindungen gibt es zwischen ihren Weltanschauungen und ihren Anhängern auf der einen und den totalitären politischen Ideologien der Zwischenkriegszeit bzw. den autoritären Regimen ihrer Heimatländer auf der anderen Seite?

Esoterik und Orthodoxie: Der bulgarische Theologe und der griechische Literat stammen beide aus frommen orthodoxen Elternhäusern, Dănov bleibt bis zu seiner Exkommunikation Anfang der zwanziger Jahre, Sikelianos bis an sein Lebensende nominell orthodoxer Christ. Ihr religiöses Denken und Handeln steht jedoch in bewusster Abgrenzung zur orthodoxen Kircheninstitution, Theologie und Frömmigkeitspraxis, beide streben außerkirchliche religiöse Vergemeinschaftungen bzw. Organisationsformen an. Hieraus ergeben sich folgende Fragen: Was sind allgemeine Grundmotive im Verhältnis von esoterischer Religiosität und kirchlichem Christentum? Wie positionieren sich die Akteure inhaltlich gegenüber der Orthodoxie? Welche Perspektive auf die Kirche ist mit ihren Weltbildern verbunden und was sind die Kritikpunkte der beiden Esoteriker an ihr? Ist in ihrem religiösen Denken und Handeln eine Prägung durch die Orthodoxie bzw. eine spezifische Aneigung oder Umdeutung orthodoxer Elemente zu erkennen? Wie reagiert die Orthodoxie in Bulgarien und Griechenland auf die außerkirchlichen Aktivitäten, auf die konkurrierenden Heilsverkündigungen und Wahrheitsansprüche?

Ritualisierung und Inszenierung: Gegenstand meiner Analyse soll nicht nur gesellschaftliches Handeln sein, durch das Ideen, Glaubensvorstellungen und Verkündigungen sprachlich-textuell kommuniziert werden, sondern auch Praktiken, die auf eine Visualisierung und Ästhetisierung weltanschaulicher Inhalte und gleichzeitig auf eine rituelle Gemeinschaftsstiftung bzw. –bekräftigung oder die Kontaktaufnahme mit übermenschlichen Mächten abzielen. Im Einzelnen handelt es sich um die tänzerisch-gymnastische Paneurhythmie der Weißen Bruderschaft und Theateraufführungen im Kontext der Delphischen Idee; bei beiden rituell-inszenatorischen Handlungsformen wird zeitgenössische Avantgardekunst mit religiösen Deutungen versehen – ein Phänomen, das ich in einem ← 18 | 19 → breiteren historischen Kontext verorten und – hier ergibt sich eine Überschneidung mit dem zweiten Themenkomplex – auf ihre Prägung durch die orthodoxe Liturgiekonzeption hin in Augenschein nehmen möchte.

Das theoretisch-methodische Grundgerüst meiner Untersuchung bildet die Praxeologie Pierre Bourdieus, ein Ansatz, in dem Gesellschaften als „Spielfelder“ erscheinen, auf denen verschiedene Akteure in einem marktähnlichen Konkurrenzkampf um materielle und symbolische Güter und damit um eine möglichst vorteilhafte soziale Positionierung stehen. Diese theoretische Konzeption eignet sich sehr gut zur Analyse von gesellschaftlichen Konfliktdynamiken und Machtkonstellationen, wie sie z.B. im Zusammenhang mit dem Streben von Dănov und Sikelianos nach sozialer Legitimation erkennbar sind. Ihr esoterischer Anspruch auf höheres Wissen und die daraus abgeleitete Heilsverkündigung ist das Kapital, mit dem sie auf dem gesellschaftlichen Spielfeld antreten, und das ich im Folgenden, neben dem Ansatz Bourdieus und einer ihn ergänzenden handlungstheoretischen Religionsdefinition, genauer bestimmen möchte. ← 19 | 20 →← 20 | 21 →

1Vgl. Mai 2001, 8.

2Vgl. Pytlik 2005, 10.

3Mai 2001, 11.

4Vgl. ebd., 11.

5Vgl. Ulbricht 2001, 15.

Details

Seiten
287
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653045451
ISBN (ePUB)
9783653983005
ISBN (MOBI)
9783653982992
ISBN (Hardcover)
9783631653524
DOI
10.3726/978-3-653-04545-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Dezember)
Schlagworte
Esoterik Millenarismus Orthodoxes Christentum Amtskirche
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 287 S.

Biographische Angaben

Thomas Heinzel (Autor:in)

Thomas Heinzel studierte Religionswissenschaft in Erfurt und forschte am Lehrstuhl für Religionswissenschaft (Orthodoxes Christentum) der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt.

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Titel: «Weiße Bruderschaft» und «Delphische Idee»
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