Lade Inhalt...

Compliance Defence

Kartellrechtliche Umsetzung im verfassungsrechtlichen Rahmen

von Alexander Roos (Autor:in)
©2015 Dissertation 360 Seiten

Zusammenfassung

Die Diskussion um die Compliance Defence – der Frage danach, ob für ein effektives Compliance-Programm eine Bußgeldreduzierung oder gar ein Erlass zu gewähren ist – wird nirgendwo so kontrovers geführt wie im Kartellrecht. Es gibt gute Gründe sie abzulehnen, jedoch bessere sie anzuerkennen. So teilen sich die Lager in Kritiker und Befürworter auf: Die Europäische Kommission und Gerichte vertreten neben dem Bundeskartellamt eine ablehnende Haltung. Große Teile der Literatur, der Unternehmenspraxis und immer mehr nationale Behörden befürworten die Berücksichtigung bzw. haben sie eingeführt. Dieses Buch will aufzeigen, weshalb eine Compliance Defence im deutschen und europäischen Kartellrecht zu berücksichtigen ist und an welcher Stelle im Normengefüge sie sinnvollerweise verortet wird.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • § 1 Problemaufriss – Bedürfnis für ein kartellrechtliches Compliance-Programm
  • A) Gang und Methode der Darstellung
  • B) Konsequenzen eines Kartellverstoßes
  • I. In zivilrechtlicher Hinsicht
  • II. In strafrechtlicher Hinsicht
  • III. In ökonomischer Hinsicht
  • IV. In ethischer und moralischer Hinsicht
  • V. In bußgeldrechtlicher Hinsicht
  • C) Defence durch Compliance
  • I. kəm’plaiəns – Ein Systembegriff
  • 1. Der Wortlaut: complere, compleo, complevi, completum
  • 2. Systematische Einordnung und Abgrenzung von anderen Prozessen
  • a) Nationalstaatliche Perspektive – Deutsches Recht
  • b) Unionsrechtsliche Perspektive
  • 3. Rechtshistorische Perspektive auf Compliance
  • 4. Telos im Allgemeinen – Funktionales Verständnis und Eigeninteresse
  • 5. Telos im Speziellen – Besonderheiten der kartellrechtlichen Compliance
  • a) Die Bonusregelung als Anreiz für Compliance
  • b) Umgekehrt gedacht – Compliance als Chance zu Best Practice
  • 6. Zwischenergebnis und Stellungnahme
  • D) Status Quo – Die Bußgeldpraxis im Unionsrecht
  • I. Wandel der Entscheidungspraxis von Kommission und Rechtsprechung
  • 1. Status Ante – Positive Berücksichtigung von Compliance-Programmen
  • a) National Panasonic 1982
  • b) Fisher-Price/Quaker Oats Ltd. – Toyco 1987
  • c) Eurofix-Bauco/Hilti 1987
  • d) Napier Brown 1988
  • e) Viho/Toshiba 1991
  • f) VIHO/Parker Pen 1992
  • g) Zwischenfazit
  • 2. Änderung der vorhandenen oder gar Einführung einer neuer Entscheidungspraxis?
  • a) Kommissionsentscheidung Polypropylen 1986
  • aa) Die Kommissionsentscheidung
  • bb) Die Nichtigkeitsklage vor dem EuG
  • cc) Kritische Würdigung
  • b) Kommissionsentscheidung Karton 1994
  • aa) Die Nichtigkeitsklage vor dem EuG
  • bb) Kritische Würdigung
  • c) Kommissionsentscheidung PVC II 1994
  • aa) Die Nichtigkeitsklage vor dem EuG
  • bb) Kritische Anmerkungen
  • d) Kommissionsentscheidung British Sugar II 1998 vs. British Sugar 1988
  • aa) Kritische Anmerkungen
  • 3. Kommissionsentscheidung Graphitelektroden – die heutige Praxis und Status Quo
  • a) Kommissionsentscheidung Graphitelektroden 2001
  • aa) Die Nichtigkeitsklage vor dem EuG
  • bb) Kritische Würdigung und Einordnung
  • b) Keine Berücksichtigung als mildernder Umstand
  • aa) Exemplarisch: Kommissionsentscheidung Aminosäuren 2000
  • bb) Fortführung in weiteren Fällen: Der „Sechsklang“ der Kommission
  • c) Keine Berücksichtigung bei Wiederholungsaufschlag
  • aa) Cholinchlorid 2004
  • bb) Kupferinstallationsrohre 2004
  • cc) Methacrylate 2006
  • d) Kein Auslassen eines Abschreckungsaufschlages
  • aa) Methionin 2002
  • bb) Cholinchlorid 2004
  • cc) Kautschukchemikalien 2005
  • dd) Aufzüge und Rolltreppen 2007
  • e) Kein Abbruch der Verantwortlichkeit der Konzernobergesellschaft
  • aa) Kautschukchemikalien 2005
  • bb) Aufzüge und Rolltreppen 2007
  • f) Wirksame Änderung der Bußgeldpraxis im Hinblick auf den Vertrauenssgrundsatz?
  • g) Zwischenergebnis
  • E) Status Quo – Die Bußgeldpraxis im nationalen Recht
  • I. Praxis des Bundeskartellamts
  • II. Rechtsprechungspraxis
  • 1. Verbindliche Maßnahmen
  • 2. Grenzen der Maßnahmen
  • F) Rechtsvergleichende Perspektive
  • I. USA – Vorgaben und Leitbild
  • 1. Compliance Defence Übersee – Die United States Sentencing Guidelines
  • a) Prevent – Detect – React
  • b) Die konkrete Berechnung nach den USSG – Saldierung von Bonus und Malus
  • aa) Bildung des Multiplikanden – base fine
  • bb) Bildung des Multiplikators – culpability score
  • cc) Bildung des Strafmaßes
  • c) Der konkrete Fall – Price-Fixing in Detroit
  • aa) Bußgeldberechnung unter Berücksichtigung eines Compliance-Programms
  • (1) Bestimmung der base fine
  • (2) Bestimmung der culpability score
  • (3) Bildung des Strafmaßes
  • bb) Bußgeld ohne Berücksichtigung eines Compliance-Programms
  • (1) Bestimmung der base fine
  • (2) Bestimmung der culpability score
  • (3) Bildung des Strafmaßes
  • cc) Zwischenergebnis
  • d) Kritik an den USSG
  • 2. Ausstrahlungswirkung und Tauglichkeit als Vorbild?
  • II. Großbritannien – Die Bußgeldpraxis des Office of Fair Trading
  • 1. Compliance im Rahmen der Competition Disqualification Order
  • 2. Compliance im Rahmen der Bußgeldbemessung im Englischen Recht
  • a) Guidance as to the approproate amount of a penalty
  • b) Die Haltung des OFT zu Compliance
  • c) Im Kern: „Commitment“
  • aa) Risikoidentifizierung – Risk Identification
  • bb) Risikobewertung – Risk Assessment
  • cc) Risikobegrenzung – Risk Mitigation
  • dd) Revison und Nachbetrachtung – Review
  • 3. Übertragbarkeit der Praxis und Vorbildcharakter für andere Rechtsordnugen
  • § 2 Gesellschaftsrechtlicher Teil: Von „Binsenweisheit“ und „alten Schläuchen“ – Rechtspflicht zu Compliance?
  • A) Reichweite eines Compliance-Programms
  • B) Geschriebene Rechtspflichten – Das „Ob“ zu Compliance
  • I. Spezialgesetzliche Regelungen der regulierten Bereiche – Herleitung einer Gesamtanalogie?
  • II. Geschriebene Rechtspflicht aus dem Aktienrecht
  • 1. Pflicht des Vorstands aus § 91 Abs. 2 AktG
  • 2. Pflicht des Vorstands aus § 76 Abs. 1, § 93 Abs. 1 AktG
  • 3. Soft Law – Pflichten aus dem Deutschen Corporate Governance Kodex
  • 4. Compliance Verantwortung des Aufsichtsrats
  • III. Geschriebene Pflichten außerhalb des Aktienrechts
  • 1. Pflicht aus § 130 (§ 30) OWiG
  • 2. Vertragliche Pflicht
  • 3. Pflicht aus Deliktsrecht §§ 823, 831 BGB
  • 4. Faktischer Druck – Compliance als common sense
  • 5. „Ausstrahlung“ auf andere Gesellschaftsformen
  • IV. Geschriebene Rechtspflichten zu Compliance ausländischer Rechtsordnungen – der US-amerikanische Sarbanes-Oxley Act
  • C) Compliance im Konzern
  • D) Ausgestaltung und Umfang der Pflicht – Das „Wie“ eines effektiven Compliance-Programms
  • I. Der IDW PS 980 als Best-Practice Maßstab?
  • II. Kein „one fits all“ sondern „Baukasten“
  • III. Errichtung eines effektiven kartellrechtlichen Compliance-Programms
  • 1. Der richtige Zeitpunkt
  • 2. Mission statement
  • 3. Kodifikation
  • 4. Kommunikation
  • 5. Kontrolle und Sanktion
  • 6. Weisungsfreiheit der Compliance-Abteilung
  • 7. Umfang und Risikomanagement
  • E) Stellungnahme
  • I. Compliance als „übererfüllungsmäßige Voraussetzung“ belohnenswert?
  • II. Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt
  • III. Rechtspolitischer Ausgangspunkt
  • § 3 Kartellrechtlicher Teil: Compliance Defence im Bußgeldverfahren
  • A) Gesetzliche Anknüpfungspunkte
  • I. Unionsrechtliche Perspektive
  • 1. Rechtlicher Rahmen für die Verhängung von Kartellgeldbußen
  • a) Die Bußgeldleitlinien der Kommission
  • b) Ermittlung des Grundbetrags
  • c) Anpassung anhand mildernder und erschwerender Umstände
  • d) Sinn und Zweck
  • e) Vom weiten Ermessen
  • 2. Anknüpfungspunkte auf der Tatbestandsebene
  • a) Berücksichtigung in zwei Richtungen: Compliance Offence vs. Compliance Defence
  • b) Art. 23 Abs. 2 lit. a) VO 1/2003 i.V.m. Art 101 AEUV
  • aa) Ausschluss des Milderungsgrund der Fahrlässigkeit
  • bb) Ausschluss wegen fehlender Möglichkeit eines Verbots
  • cc) Geringere Schwere des Verstoßes
  • 3. Anknüpfungspunkte auf der Rechtsfolgenebene
  • a) Verortung innerhalb der Bußgeldpraxis der Kommission242
  • aa) Compliance als mildernder Umstand im Sinne der Leitlinien
  • bb) Compliance im Rahmen des „Entry Fee“
  • b) Die Bonusregelung als Anknüpfungspunkt – Gedanken zur antizipierten Selbstbindung
  • aa) „Spannungsverhältnis“ zur Leniency- und Settlement-Bekanntmachung?
  • bb) Leniency- und Settlement-Mitteilung als antizipierte Selbstbindung für Compliance?
  • cc) Diskriminierung der KMU
  • dd) Verzicht auf Verzinsungsspflicht
  • ee) Verzicht auf Pressemitteilungen
  • c) Ausschlussgründe von der Berücksichtigung der Compliance Defence
  • aa) Keine Berücksichtigung bei Hardcore-Kartellen
  • bb) Keine Berücksichtigung bei Verstoß durch Geschäftsleiterebene
  • 4. Zwischenergebnis
  • II. Nationalstaatliche Perspektive – Deutsches Recht
  • 1. Rechtlicher Rahmen zur Verhängung eines Bußgeldes
  • a) Kartellverstoß einer natürlichen Person – Ahndung nach §§ 30, 9 OWiG
  • b) Kartellverstoß einer natürlichen Person – Ahndung nach §§ 130; 9 OWiG
  • c) Kartellverstoß einer juristische Person – Ahndung nach § 30 (§ 130) OWiG
  • aa) Direkter Verstoß gegen § 30 OWiG
  • bb) Indirekter Verstoß gegen §§ 30; 130 OWiG
  • cc) Zum Verhältnis von § 30 und §§ 30; 130 OWiG
  • d) Die konkrete Bußgeldbemessung
  • aa) Natürliche Person
  • bb) Juristische Person – weniger schwerwiegende Variante
  • cc) Juristische Person – schwerwiegende Variante
  • dd) Die (neuen) Bußgeldleitlinien des Bundeskartellamtes 2013
  • ee) Die Bemessung in zwei Schritten
  • e) Vom weiten Ermessen
  • f) Exkurs: Bebußung der Konzernmutter für den Kartellverstoß der Tochter nach §§ 130, 30 OWiG?
  • 2. Dogmatische Anknüpfungspunkte der Compliance Defence
  • a) Anknüpfungspunkte auf der Tatbestandsebene
  • aa) Berücksichtigung bei der Bußgeldverhängung gegenüber der natürlichen Person
  • bb) Berücksichtigung bei der Bußgeldverhängung gegenüber juristischen Personen, Personenvereinigungen und Verbänden
  • (1) Im Rahmen von § 130 OWiG
  • (2) Im Rahmen von § 30 OWiG
  • b) Anknüpfungspunkte auf der Rechtsfolgenebene
  • (1) Besonderheit der Leitlinien des Bundeskartellamtes 2006: Das Nachtatverhalten
  • (2) Gedanken zur „Einheit der Verwaltungsverfahren“
  • 3. Zusammenfassung und Stellungnahme
  • § 4 Verfassungsrechtlicher Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen der Compliance Defence
  • A) Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
  • B) Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz
  • I. Europäisches Kartellrecht
  • II. Deutsches Kartellrecht
  • 1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Vermögensstrafe
  • 2. Die Kritik an § 81 GWB im Einzelnen
  • 3. § 81 Abs. 4 S. 2 GWB – Ober- oder Kappungsgrenze?
  • 4. Edit: Die Entscheidung Grauzement des BGH
  • 5. Übertragbarkeit auf das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht
  • III. Ausgleich und Korrektur der rechtsstaatlichen Bedenken?
  • C) Umsetzung der Compliance Defence im vorhandenen Normengefüge
  • § 5 Schlussbemerkung und Kernthesen
  • Literaturverzeichnis

| 17 →

§ 1 Problemaufriss – Bedürfnis für ein kartellrechtliches Compliance-Programm

1006-896-5531 und 252-142-1202 – diese Zahlenreihen stehen für die Ausschüttung vieler Millionen Euro in der jüngeren Vergangenheit.3 Bei den Abfolgen handelt es sich um die drei höchsten Bußgelder, die seit dem Jahre 2000 von der Europäischen Kommission bzw. dem Bundeskartellamt in Millionen Euro jeweils gegen ein einzelnes Unternehmen verhängt wurden.

In dem vergangenen Jahrzehnt ist die Politik der Kartellrechtsbekämpfung und -bebußung erheblich verschärft worden. Die ehemalige Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes (2004–2010) nahm diese Politik sehr wörtlich und brachte dies auch bildhaft zum Ausdruck.4 Wenngleich ihr Nachfolger, Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia (seit 2010), etwas sanftere Töne anschlägt,5 hat doch die Kartellverfolgung für ihn weiterhin allerhöchste Priorität.6 ← 17 | 18 →

Dass die Verfolgungsbehörden – allen voran die Europäische Kommission – den Worten der ehemailgen Wettbewerbskommissarin auch Taten folgen ließen, spiegelt sich nicht zuletzt in der stetigen Zunahme der Bußgeldhöhen und verstärkten Aufklärungsquote der Behörden, vor allem durch Aufstockung ihrer Abteilungen und den herausragenden Erfolg der Bonusregelung, wider.7

Das Bundeskartellamt hat in den Jahren 2005 und 2008 eine 11. und 12. Beschlussabteilung eingerichtet, die sich als Spezialbeschlussabteilungen einzig mit der Verfolgung von hardcore Kartellverstößen befassen.8 Die Kartellbehörden gehen also nicht nur vermehrt gegen Kartellsünder vor, sondern erhöhen zusätzlich die Bußgelder.9 So wurde im Jahre 2003 ein Bußgeld gegen führende Unternehmen der Zementbrache, dem so genannten Zementkartell,10 in Höhe von 660 Millionen Euro auf nationaler und im Jahre 2012 ein Bußgeld in Höhe von 1,47 Milliarden Euro auf europäischer Ebene gegen führende Hersteller von Bildröhren für Fernsehgeräte und Computerbildschirme verhängt.11 Allein im Jahr 2007 hat die Kommission 41 Unternehmen Bußgelder in Höhe von 3,3 Milliarden Euro ← 18 | 19 → auferlegt.12 Zwar wird diese Summe in den folgenden Jahren nicht überschritten,13 doch das Bußgeldniveau bleibt weiterhin hoch.14

Vier der sechs höchsten Bußgelder durch das Bundeskartellamt im dreistelligen Millionenbereich wurden seit Ende 2007 festgesetzt. In denselben Zeitraum fallen auch zwei der drei höchsten Bußgelder der Kommission. Das Bußgeldniveau der Europäischen Kommission sucht seither weltweit seinesgleichen.15

Ein Kartell stellt freilich für den gesamten Markt, vor allem für Abnehmer und Wettbewerber, einen äußerst schädlichen Zustand dar, so dass ein Unternehmen, das sich dem Verbot widersetzt, für die Zuwiderhandlung auch mit einer spürbaren Geldbuße bestraft werden muss.16

A) Gang und Methode der Darstellung

Ziel der Arbeit ist es, zu analysieren, ob und sodann mit welchen Mitteln eine Compliance Defence im kartellrechtlichen Bußgeldverfahren möglich und ← 19 | 20 → sinnvollerweise seitens der Kartellverfolgungsbehörden akzeptiert werden sollte.

Nachdem das Bedürfnis für die Einrichtung eines kartellrechtlichen Compliance-Programms aufgrund der drohenden zahlreichen und zum Teil existenzbedrohenden (Rechts-)Folgen herausgestellt wurde, steht die Untersuchung der Entscheidungspraxis der Kommission zu dem Thema im Vordergrund. Dies ist insofern aufschlussreich, als sie sich bereits von den frühen 1980er bis heute mit Compliance – oder seinen Vorläufern – mehr oder weniger umfangreich und mit unterschiedlichen Ergebnissen in ihren Entscheidungen befasst und zuletzt im November 2011 mit der Broschüre „Compliance Matters“ und dem webbasierten Informationsmaterial auf ihrer Homepage dem Thema Bedeutung zugemessen hat. Ein rechtsverlgeichender Ausblick in die Rechtsordnugen der USA und Großbritannien zeigt sodann auf, wie de lege ferenda eine Berücksichtigung der Compliance Defence von Seiten der Kartellbehörden vorgenommen werden könnte.

Im Anschluss liegt der Fokus der Arbeit auf der Frage, ob und sodann in welchem Umfang und mit welchem Inhalt bereits eine Pflicht der Unternehmensorgane besteht, ein (kartellrechtliches) Compliance-Programm aufzubauen und zu verbessern. Ausgangspunkt der Überlegung ist dabei, dass in einem Bußgeldverfahren eine Tatsache nicht ohne weiteres (mildernd) berücksichtigt werden kann, wenn ihre Einhaltung bereits (vor dem Verstoß) rechtlich verpflichtend war.

Die Arbeit wendet sich sodann der Kernthematik, der dogmatischen Verortung der Compliance-Defence im europäischen und deutschen Kartellrecht zu. Dabei werden die möglichen Anknüpfungspunkte für eine Berücksichtigung de lege ferenda sowohl im Tatbestand als auch auf der Rechtsfolgenebene, insbesondere im Rahmen des Ermessens und der Bußgeldleitlinien der Verfolgsungsbehörden, untersucht.

Schließlich soll im verfassungsrechtlichen Teil kursorisch auf die bestehenden Bedenken seitens der Literatur an dem aktuellen Bußgeldregime und seiner Anwendung eingegangen und sodann der verfassungsrechtliche Rahmen zur Verankerung der Compliance Defence dargestellt werden.

Am Ende werden die erarbeiteten Ergebnisse in Thesen zusammengefasst.

B) Konsequenzen eines Kartellverstoßes

Der Schaden, den ein Unternehmen nach Bekanntwerden eines Kartells trägt, beschränkt sich keinesfalls auf das verhängte Bußgeld, sondern kann in Art und Umfang weit darüber hinausgehen. ← 20 | 21 →

I. In zivilrechtlicher Hinsicht

Als zivilrechtliche Konsequenz droht zunächst die Nichtigkeit umfassender Vertragsgestaltungen mit der Folge, dass diese erst einmal rückabgewickelt,17 neu ausgestaltet, verhandelt und abgeschlossen werden müssten.18 Diese Nichtigkeit kann zum Teil langfristige Kooperations- und Vertriebsverträge, aber auch Unternehmenszusammenschlüsse betreffen.19 Sie folgt für einen Verstoß gegen Art. 101 AEUV unmittelbar aus dessen Abs. 2; für einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV ergibt sich die zivilrechtliche Folgen der Nichtigkeit aus dem nationalen Recht. Im deutschen Kartellrecht ist die anfängliche Nichtigkeit nach § 1, 19, 20 GWB; Art. 102 AEUV i.Vm. §§ 134, 138 BGB anerkannt.20

Die Kartellbehörden werden die Unternehmen nach Art. 7 VO 1/2003 und § 32 GWB verpflichten, die kartellrechtliche Zuwiderhandlung abzustellen. Dabei steht ihnen auch die Möglichkeit zur Seite, den Unternehmen geeignete Abhilfemaßnahmen, vgl. § 32 Abs. 2 GWB, vorzuschreiben, zu denen durchaus die Entflechtung nach Art. 8 Abs. 4 FKVO bzw. § 41 Abs. 3 GWB bereits vollzogener (rechtswidriger) Zusammenschlüsse zählt.21 Einem neuvorzunehmenden Abschluss können wiederum hohe Beratungskosten innewohnen und bis er erreicht und vollzogen ist, stehen laufende Geschäftsbeziehungen auf keiner sicheren Rechtsgrundlage.

Des Weiteren folgen dem behördlichen Bußgeldverfahren hohe Schadensersatzforderungen von Wettbewerbern und Kunden auf nationaler (§ 33 GWB) und unionsrechtlicher Ebene22 und damit einhergehende Beratungs- und ← 21 | 22 → Prozesskosten.23 Dieser Schadensersatzanspruch kann unter Umständen sogar das Bußgeld übersteigen, das ein Unternehmen mit geringer Kartellbeteiligung zu tragen hat, wenn es keine allzu große Verantwortung für die Wettbewerbsbeschränkung trägt.24 Ein solcher Anspruch ergibt sich im europäischen Kartellrecht aus der Rechtsprechung EuGH in den Rechtssachen Crehan/Courage und Manfredi;25 im deutschen Kartellrecht folgt er unmittelbar aus § 33 GWB und § 823 Abs. 2 BGB i.V.m Art. 101, Art 102 AEUV.26 Die Möglichkeit der Vermarktung von Schadensersatzansprüchen und Geltendmachung aus abgetretenem Recht, verschärft den Trend zum „private enforcement“.27 Im Nachgang des Wasserstoffperoxid- und Zementkartellverfahren hat der BGH die Klage der belgischen Cartel Damage Claims, die im Wege des Factorings die Ansprüche der Geschädigten angesammelt hat, für zulässig erklärt.28

Ferner mehren sich die Stimmen in der Literatur, die eine persönliche kartellrechtliche Schadensersatzhaftung des Geschäftsleiters verlangen.29 Schließlich ← 22 | 23 → droht der (natürlichen) Person, die den Kartellverstoß begangen hat, ein umfangreicher Haftungsprozess, in dem das Unternehmen versuchen wird, sich schadlos zu halten und Regress für Teile der gezahlten Summen verlangen wird.30 Die Verjährungsfrist für diesen Regressanspruch ist kürzlich von fünf auf zehn Jahre erhöht worden.

Zudem drohen gesellschaftsrechtliche Konsequenzen, indem mangelhafte Compliance-Maßnahmen dazu führen können, dass der Unternehmensleitung die Entlastung zu verweigern ist bzw. ein getroffener Entlastungsbeschluss anfechtbar ist, § 120; 243 AktG.31

Es gibt also neben dem „public enforcement“ der Kartellbehörden verstärkt ein „private enforcement“32 durch vereinfachte Formen des zivilrechtlichen Ausgleichs des Geschädigten des Kartellrechtsverstoßes.33 ← 23 | 24 →

II. In strafrechtlicher Hinsicht

Zwar drohen dem Einzelnen im nationalen Recht empfindliche Freiheits- oder Geldstrafen nur bei Submissionsabsprachen nach § 298 und § 263 StGB,34 doch werden Kartellverstöße in anderen Rechtsordnungen strafrechtlich sanktioniert.35 Diese Sanktionierung trifft auch Nicht-Staatsangehörige, da letztlich jeder, der auf dem betroffenen Markt agiert, Adressat der jeweiligen nationalen Kartellnormen ist.36 So ordnet der britischen Enterprise Act Freiheitsstrafen von bis zu fünf Jahren für einen horizontalen Kartellverstoß an, der US-amerikanische Sherman Act sogar von bis zu zehn Jahren.37 ← 24 | 25 →

III. In ökonomischer Hinsicht

Grundsätzlich besteht keine Kooperationspflicht des Unternehmens und seiner Mitarbeiter gegenüber den Kartellbehörden im Falle der Ermittlungen. Jedoch kann der Geschäftsablauf und – nicht zu unterschätzen – das Betriebsklima durch behördliche (vor allen bei den so genannten Dawn Raids), aber auch durch eigene Ermittlungen (Internal Investigations) nicht unerheblich gestört werden.38 Nicht nur wegen der zum Teil langen Verfahrensdauer, sondern auch aufgrund der Komplexität der Sachverhalte können gar langfristige Einbußen im operativen Geschäft entstehen, da Unternehmensteile nunmehr mit Bewältigung und Aufklärung des Sachverhalts beschäftigt werden, statt sich ihren eigentlichen Aufgaben zu widmen.39 Hinzu kommen Anwalts- und Beratungskosten für die Dauer des Verfahrens und schließlich müssen Rücklagen für etwaige Bußgelder und Schadensersatzzahlungen gebildet werden.40

Details

Seiten
360
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653045406
ISBN (ePUB)
9783653983067
ISBN (MOBI)
9783653983050
ISBN (Hardcover)
9783631653494
DOI
10.3726/978-3-653-04540-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Januar)
Schlagworte
Rechtspflicht zu Compliance Bussgeldpraxis Bussgeltleitlinien Bussgeldreduzierung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 360 S.

Biographische Angaben

Alexander Roos (Autor:in)

Alexander Roos ist promovierter Volljurist. Er studierte Rechtswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum und forschte am dortigen Nachwuchsforscherkolleg intradisziplinäre Rechtswissenschaft mit Unterstützung der Stiftung Mercator.

Zurück

Titel: Compliance Defence
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
360 Seiten