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Kirche: Gegenwart Christi in der Welt

Eine Untersuchung von Dietrich Bonhoeffers Werk "Sanctorum Communio" in seiner Bedeutung für die Kirche in China

von Ruomin Liu (Autor:in)
©2014 Dissertation 263 Seiten

Zusammenfassung

«Die Studie bietet im Kern eine Untersuchung zu Dietrich Bonhoeffers Doktor-arbeit Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche. Sie konzentriert sich dabei zunächst auf die sozialphilosophischen und soziologischen Ansätze zur Analyse der Kirche sowie auf die Lehre von der Stellvertretung und deren christologische Begründung. Außerdem geht der Autor auf die soteriologische Erneuerung der Menschheit in Christus und die Gestalt der Kirche als Gemeinschaft von Gott und Mensch und schließlich auf die «äußeren und inneren» Funktionen der Kirche ein. In all dem will die Arbeit aber vor allem «die Bedeutung der Ekklesiologie Bonhoeffers im Kontext der protestantischen Kirche in China» erhellen.»
Prof. Dr. Dr. Dres. h.c. Michael Welker (Universität Heidelberg)

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort von Herrn Prof. Dr. Dr. Dres. h. c. Michael Welker
  • Vorwort
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Allgemeine Problemstellung
  • 1.2 Zum Stand der Forschung
  • 1.3 Methodische Vorüberlegungen
  • 1.4 Skizze von Sanctorum Communio
  • 2. Der Biographische Hintergrund von Bonhoeffers Ekklesiologie in Sanctorum Communio
  • 2.1 Bonhoeffers Elternhaus als erster Einfluss auf seine Ekklesiologie
  • 2.1.1 Die Familie Bonhoeffers
  • 2.1.2 Die Wurzeln der Eltern: Verantwortung und Liebe
  • 2.1.2.1 Die Wurzeln des Vaters: Prägung durch Verantwortung
  • 2.1.2.2 Die Wurzel der Mutter: liebevolles Miteinander
  • 2.1.3 Beschäftigung mit Krieg und Tod
  • 2.1.4 Selbständiger Entschluss zur Theologie
  • 2.1.5 Fazit
  • 2.2 Studienreise nach Rom
  • 2.3 Die theologischen Lehrer Bonhoeffers
  • 2.3.1 Die Berliner Schule der Theologie
  • 2.3.2 Ernst Troeltsch
  • 2.3.3 Karl Barth
  • 2.3.4 Fazit
  • 3. Kirche als Kollektivperson und die Stellvertretung als verantwortliche Entscheidung des Christen
  • 3.1 Der Personbegriff, das Ich-Du-Verhältnis und Kirche als Kollektivperson
  • 3.1.1 Der Personbegriff als Grundlage des Denkens eines Gemeinschaftsbegriffes
  • 3.1.2 Schemata des philosophischen Personbegriffs
  • 3.1.2.1 Der Personbegriff bei Aristoteles
  • 3.1.2.2 Der Personbegriff in der Stoa
  • 3.1.2.3 Der Personbegriff im Epikureismus
  • 3.1.2.4 Der Personbegriff des Deutschen Idealismus
  • 3.1.3 Das transzendentalistisch-idealistische und das christliche Gottesbild
  • 3.1.4 Der Personbegriff und das Ich-Du-Verhältnis
  • 3.1.5 Der christliche Personbegriff
  • 3.1.6 Die Sozialität der Person und die Kollektivperson
  • 3.1.7 Kirche als Kollektivperson
  • 3.1.8 Fazit
  • 3.2 Stellvertretung als verantwortliche Entscheidung
  • 3.2.1 Verantwortung
  • 3.2.2 „Christentum bedeutet Entscheidung“: Entscheidung als Kulminationspunkt der Verantwortung der Person
  • 3.2.3 Verantwortung und Stellvertretung
  • 3.2.4 Fazit
  • 4. Das stellvertretende Handeln Christi als Begründung der Kirche: „Christus als Gemeinde existierend“
  • 4.1 Die Beziehung zwischen Christologie und Ekklesiologie
  • 4.2 Die Adam-Christus-Typologie
  • 4.3 Für andere da sein: Christi Werk und die Bestimmung der Kirche
  • 4.3.1 Das Werk Christi: kein Selbstzweck
  • 4.3.2 Christus als Stellvertreter
  • 4.3.3 In Christus Sein heißt: in der Gottesgemeinschaft Sein
  • 4.4 Die Kirche: Gegenwart Christi
  • 4.4.1 Christus: das Fundament und Haupt der Kirche
  • 4.4.2 Die Kirche: Leib Christi
  • 4.5 Christus als das Lebensprinzip der Gemeinde
  • 4.6 Fazit
  • 5. Die neue Menschheit und ihre Stellvertretung für die Welt
  • 5.1 Die „Adamsmenschheit“: die gebrochene Gemeinschaft
  • 5.1.1 Adam als Repräsentant aller Sünder
  • 5.1.2 Die adamitische Menschheit: die gebrochene Gemeinschaft
  • 5.2 Die „Christusmenschheit“: die versöhnte Gemeinschaft
  • 5.2.1 Die Stellvertretung Christi als Versöhnungsgeschehen
  • 5.2.2 Die Christusmenschheit: die erneuerte Gemeinschaft
  • 5.3 Leben mit Christus: Stellvertretung der christlichen Gemeinschaft
  • 5.4 Fazit
  • 6. Die Kirche: Gemeinschaft von Gott und Mensch
  • 6.1 Die Kirche als der neue Wille Gottes mit den Menschen
  • 6.2 Die Kirche: christliche Gemeinschaft
  • 6.2.1 Die Kirche als Glaubensgemeinschaft
  • 6.2.2 Die Kirche als Liebesgemeinschaft
  • 6.2.3 Die Kirche als Hoffnungsgemeinschaft
  • 6.3 Die empirische Kirche: Gegenwart Christi in der Welt
  • 6.3.1 Die empirische Kirche
  • 6.3.2 Zusammentreffen der Gemeinschaft der Heiligen und der Gemeinschaft der Sünder
  • 6.4 Fazit
  • 7. Die Funktionen der Kirche
  • 7.1 Der Zusammenhang von Gabe und Aufgabe der Kirche
  • 7.2 Die Funktionen der Kirche als Geschehen ihrer Stellvertretung
  • 7.3 Die gekreuzigte Liebe als Prinzip: das Miteinander und Füreinander der Christen
  • 7.4 Die Versöhnung in Christus als Grund der versöhnten menschlichen Gemeinschaft
  • 7.5 Die Fürbitte
  • 7.6 Die inneren Funktionen der Kirche: Kirche als die sich versammelnde Gemeinschaft
  • 7.6.1 Nachfolge
  • 7.6.2 Die Geisteinheit in Christus: die Kirche als Haugenossin Gottes
  • 7.6.3 Die autoritative Verkündigung des Gotteswortes
  • 7.6.4 Der Gottesdienst, die Predigt und die Sakramente
  • 7.6.4.1 Die Predigt
  • 7.6.4.2 Die Sakramente: Taufe und Abendmahl
  • 7.6.5 Die Seelsorge
  • 7.7 Die äußeren Funktionen der Kirche: Kirche als zerstreute Gemeinschaft
  • 7.7.1 Die Mission
  • 7.7.2 Das Prinzip des diakonischen Handelns
  • 7.8 Fazit
  • 8. Würdigung des Werkes Sanctorum Communio
  • 8.1 Der Beitrag von Sanctorum Communio zur Ekklesiologie
  • 8.1.1 Das interdisziplinäre Vorgehen der Ekklesiologie Bonhoeffers
  • 8.1.2 Sanctorum Communio: Ekklesiologie in neuer Perspektive
  • 8.2 Die ekklesiologische Essenz der Theologie Bonhoeffers
  • 8.2.1 Die Verknüpfung des Wortes mit der Lebenswirklichkeit in der Gemeinde
  • 8.2.2 Die Kirche als Voraussetzung der Theologie
  • 8.2.3 Zwei Brennpunkte der Theologie Bonhoeffers
  • 8.2.4 Theologie als Hilfsmittel
  • 8.3 Bonhoeffers Ekklesiologie in ihrem konkreten Kontext
  • 8.4 Sanctorum Communio als Schlüssel zur Theologie Bonhoeffers
  • 8.5 Fazit
  • 9. Theologische Reflexion der Ekklesiologie Bonhoeffers im Kontext der protestantischen Kirche Chinas
  • 9.1 Die Beziehung zwischen Gemeinschaft und Einzelnem
  • 9.2 Das Wesen der Hauskirche im Kontext der Situation der protestantischen Kirche in China
  • 9.3 In Christus, in der Kirche?
  • 9.4 Kriterien für die Ausübung der Funktionen der Kirche
  • 9.5 Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • a) Dietrich Bonhoeffer
  • b) Literatur zu Bonhoeffer in Auswahl

← 8 | 9 → Vorwort von Herrn Prof. Dr. Dr. Dres. h. c. Michael Welker

Herr Liu Ruomin über Bonhoeffers Ekklesiologie und ihre Bedeutung für die Kirche in China

Dieses Buch will vor einer internationalen theologischen Fachwelt bestehen. Primär ist es aber geschrieben mit einer gegenwärtigen chinesischen akademischen und kirchlichen Öffentlichkeit vor Augen.

Die von Herrn Liu Ruomin im Jahre 2013 an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg vorgelegte Dissertation bietet im Kern eine Untersuchung zu Dietrich Bonhoeffers anspruchsvoller Doktorarbeit „Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche“. Sie konzentriert sich dabei auf die sozialphilosophischen und soziologischen Ansätze zur Analyse der Kirche, auf die Lehre von der Stellvertretung und deren christologische Begründung, auf die soteriologische Erneuerung der Menschheit in Christus und die Gestalt der Kirche als Gemeinschaft von Gott und Mensch, schließlich auf die „äußeren und inneren“ Funktionen der Kirche. In all dem will sie aber vor allem „die Bedeutung der Ekklesiologie Bonhoeffers im Kontext der protestantischen Kirche in China“ erhellen.

Das große Vorbild der Person Bonhoeffers und sein Beitrag zu einer interdisziplinär erschlossenen und zugleich christologisch begründeten Ekklesiologie sollen „Christinnen und Christen in China, Pfarrern, Kirchenleitungen und Gemeinden“ vertieft vermittelt werden. Deshalb nimmt die Arbeit immer wieder Bezug nicht nur auf die akademisch gängige (west) deutsche Bonhoeffer- Forschung und die nordamerikanische Bonhoeffer-Rezeption. Es werden auch die frühe Würdigung Bonhoeffers bzw. Bonhoeffer-kritische Stimmen aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und eher negative Äußerungen Karl Barths über ihn sowie subtile Bonhoeffer-Würdigungen zum Beispiel aus Finnland und der Schweiz, aber auch erste Ansätze zu seiner Rezeption in ← 9 | 10 → Hongkong und in der Volksrepublik China mit einbezogen. Diese Ausrichtung verleiht diesem Buch sein besonderes Profil.

Herr Liu entwickelt einen stark zugespitzt pädagogisch intendierten Beitrag für die Situation seiner Heimatkirche. Er sieht Bonhoeffer in seiner Ekklesiologie gegen die Extreme von Kollektivismus und Individualismus argumentieren. Mutig würdigt er die Bedeutung der Hauskirchen in Zeiten der Unterdrückung und Verfolgung der Kirchen, obwohl er mit Bonhoeffer die Gestalt der Hauskirchen der Gestalt der öffentlichen Kirche nachgeordnet wissen will: „So können die privaten gottesdienstlichen Haussitten chinesischer Christen in dieser Zeit (scil. der Unterdrückung kirchlichen Lebens) als Beispiel für offene und auf weitere Teile der Menschheit ausgerichtete Versammlungen gelten, die trotz ihres privaten Charakters in einer Extremsituation nicht zu einer Individualisierung der Kirche, sondern zu einer sich vergrößernden Gemeinschaft geführt haben.“

Schließlich hebt er die große Bedeutung von „Wort und Gemeinschaft“ als konstitutive Form der Kirche hervor. Er deutet die schwierigen Übergänge zwischen einem „Kulturchristentum“, einem „Wissenschaftschristentum“ und einem entschieden kirchlichen Christentum an, aber auch Grenzen der frühen Ekklesiologie Bonhoeffers, die schwierigen und ambivalenten Rollen von „Mitläufern“ – gerade in Zeiten der Verfolgung – hinreichend zu erfassen. Es wäre eine wichtige Aufgabe der Zukunft, die späteren Schriften Bonhoeffer daraufhin zu untersuchen, in welchen Hinsichten er angesichts seiner Erfahrungen nach 1933 in Deutschland in dieser Frage zu vertieften Einsichten gelangt ist. Im Blick auf die programmatischen Gedanken des Verfassers darf man auf eine Entfaltung seiner abschließenden Forderung gespannt sein: Im Geiste Bonhoeffers (und Ruomin Lius) sollte die Theologie von einer kontextualisierten zu einer christologisch-pneumatologisch inspirierten kontextualisierenden Theologie werden.

← 10 | 11 → Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2013 von der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität zur Heidelberg als Inauguraldissertation angenommen.

Dass die jahrelange theologischen Auseinandersetzung mit Bonhoeffer einen guten akademischen Abschluss finden konnte, verdanke ich vielen Menschen, allen voran meinem verehrten Doktorvater Prof. Dr. Dr. Dres. h.c. Michael Welker, der den Weg vom Anfang der Arbeit bis zum Ende meiner Promotion mit Geduld, Freundlichkeit und mit seiner umfassenden Kenntnis der Theologie und Philosophie begleitet hat. Für seine aufmerksame und engagierte Begleitung will ich ihm hier danken, im Wissen, dass kein Dank dem Geschenk seiner Hilfe und Unterstützung entsprechen kann.

Herrn Prof. Dr. Gregor Etzelmüller danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Frau Charlotte Reda, Herr Prof. Dr. Miikka Ruokanen, Herr Prof. Dr. Ulrich Duchrow, Herr Dr. Winfried Glüer, Herr Dr. Alexander Maßmann haben Teile dieser Arbeit wiederholt kritisch durchgelesen und sprachlich korrigiert. Besonders haben Frau Reda und Herr Maßmann als meine theologischen Gesprächspartner und mit ihrer präzisen, konstruktiven Kritik wesentlich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Sowohl ihre Freundlichkeit und ihre persönlichen Kenntnisse der Theologie als auch ihre notwendige Strenge sind mir äußerst hilfreich gewesen.

Nach einigen Jahren der Arbeit an der Jinling Kirchlichen Hochschule und im Pfarramt in Nanjing, China erhielt ich die Möglichkeit, meine wissenschaftlichen Studien in Heidelberg weiterzuführen. Dafür danke ich vielen Menschen, ganz besonders Herrn Bischof Dr. K. H. Ting (1915–2012), Herrn Bischof Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber, Herrn Prof. Dr. Zemin Chen, Herrn Pfr. Paul Oppenheim, Frau Prof. Peng Wang und Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Aiming Wang. Ich danke den Gutachtern, die meine Qualifikation zum Erhalt ← 11 | 12 → das Stipendium des EEDs (Evangelischen Entwicklungsdienstes Deutschland, jetzt: Brot-für-die-Welt und Evangelischer Entwicklungsdienst) positiv würdigten. Ich danke den Mitarbeitern beim EED, Herrn Dr. Rudolf Ficker, Frau Susanne Werner und ihren Kolleginnen und Kollegen. Sie waren immer sehr freundlich und hilfsbereit.

Ich danke Frau Kathy Call beim China Connection und Frau Prof. Dr. Faye Pearson, Herrn Dr. Yilu Chen dafür, dass sie mich in vielfältige Art und Weise unterstützt und gefördert haben. Den Genannten und zahlreichen Ungenannten in meinen Freundeskreis und in der Gemeinde gilt mein aufrichtiger Dank, da ihre Sorge und Ermutigung mir ebenfalls viel geholfen haben. Meine Eltern, meine Schwiegereltern und meine Brüder in China haben mich besonders durch ihren ermutigenden Kontakt und ihre Fürbitten geistig begleitet. Ihre positive Erwartung in liebevoller Verbundenheit war und ist mir eine wichtige Hilfe.

Zum Schluss, aber nicht zuletzt, danke ich auch meiner Frau, Jingxia An und meinen Kindern, Zian Theophil und Yuan Theodor für ihre ermutigende Art, mich zu begleiten.

← 12 | 13 → 1. Einleitung

„Meritum, Vorbild, Lehre, diese drei machen einen Heiligen“ schrieb Chunqiu Zuozhuang1 in einer klassischen Schrift des Konfuzianismus über die notwendigen Voraussetzungen eines echten Meisters. Dietrich Bonhoeffer (4.2.1906–9.4.1945)2 spielt meines Erachtens eine solche bedeutende Rolle eines Meisters für die heutige Weltchristenheit. Nur wenige andere moderne deutschsprachige Theologen finden gegenwärtig so „viel Beachtung und Resonanz in der Weltchristenheit“3 auch über ein theologisches Fachpublikum hinaus. Diese große Aufmerksamkeit ist vor allem vor dem Hintergrund beachtlich, dass Bonhoeffer bereits im Alter von nur 39 Jahren kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges durch die Gestapo in einem Konzentrationslager ← 13 | 14 → hingerichtet wurde. Nicht einmal seine Grabstätte ist uns heute bekannt.4 Zu erklären ist die ihm zugesprochene Bedeutung unter anderem mit seinem Schriftreichtum, das er in seiner kurzen Lebenszeit für die Nachwelt hinterlassen hat und das auch heute noch von großer Bedeutung ist.5

Obwohl die philosophisch-theologischen Voraussetzungen und die Schwerpunkte der theologischen Werke Bonhoeffers im Einzelnen nicht ohne Schwierigkeiten einem einzigen eng umgrenzten Diskurs zuzuordnen sind,6 gilt sein Denken seit der Nachkriegszeit bis heute als wichtige Inspirationsquelle sowohl für die evangelische als auch für die katholische Theologie – nicht nur in den deutschsprachigen Ländern, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt.7

← 14 | 15 → In seinem Buch Freisein wozu? Dietrich Bonhoeffer als ständige Herausforderung gibt Clements zu bedenken, dass Bonhoeffer zwar ein bedeutender Theologe war, als Figur des Widerstandes jedoch „gemessen an dem, was er bewirkte, eine relativ unbedeutende Person“ war.8 Diese Einschätzung hat sicher gerade angesichts des Wirkens weiterer bedeutender Personen des Widerstands im Nationalsozialismus ihre Berechtigung. Dennoch zeigt die Rolle, die Bonhoeffer auch heute noch für das Christentum weltweit spielt, die Tiefe seines Handelns und seiner Schriften an. Für diese Wirkung lassen sich meines Erachtens mehrere Gründe feststellen: Ziel und Ausgangspunkt der Untersuchungen Bonhoeffers waren immer die Wirklichkeit des Glaubens und die Bedeutung dessen für den Einzelnen und die Gemeinschaft. Diesen Glauben gibt es für Bonhoeffer nur in der engen inhaltlichen Verknüpfung mit dem Leben. Er suchte folglich nach der Einheit von Glauben und Leben. Zwar bewundert Bonhoeffer in seiner Zelle in der Gefangenschaft das theologische und philosophische Wissen eines Harnack oder der Liberalen, seine eigene Frage jedoch war eine andere. So fragte er noch im Konzentrationslager im Jahre 1944: „Was glauben wir wirklich? Das heißt so, dass wir mit unserem Leben daran hängen?“ (Entwurf für eine Arbeit, DBW 8, 559) Auch sein eigenes Leben, sein Glaube und sein Werk stehen in dieser engen Verbundenheit. So äußert sich Bethge, der Freund, Schüler und Biograph Bonhoeffers in seinem Aufsatz Dietrich Bonhoeffer: Person und Werk hinsichtlich dieses Zusammenhangs des ← 15 | 16 → Lebens Bonhoeffers und seines als Reflexion des Glaubens verstandenen theologischen Werkes folgendermaßen: „Dietrich Bonhoeffer wusste zwei Dinge. Er wusste, dass einer die Schönheit dieser Welt genießen kann, indem er bereit ist, sie zu opfern: die Früchte der Erde, die Wärme der Sonne, Freundschaften, Humor und die Spiele des Geistes. […] Zum anderen: Er wusste, dass Worte nur Gewicht haben, wenn sie die Ermächtigung der Situation und der Persönlichkeit mit sich tragen. Sein Werk war ständig begleitet von Experimenten und Wagnissen.“9 Hier wird die Ausstrahlung von Bonhoeffers eigenem Leben und Glauben deutlich. Auch Feil kommt im seinem Buch Die Theologie Dietrich Bonhoeffers: Hermeneutik, Christologie, Weltverständnis zu einem ähnlichen Schluss: „Bonhoeffers Reflexionen [haben] sich aus dem Leben entwickelt“ und „seine Theologie [ist] der Versuch der Reflexion des gelebten Glaubens.“10

Bischof Bell äußert sich über die enge Verbindung von Glaube und Leben bei Bonhoeffer in einem Gedenkgottesdienst: „Er opfert sein Leben auf dem Altar seines Glaubens und seines Vaterlands.“11 Auch wenn es in diesem ← 16 | 17 → Zusammenhang wichtig ist, von einer unhinterfragten Glorifizierung der Person Bonhoeffers Abstand zu nehmen, bleibt dennoch festzuhalten, dass in seiner Person Glaube und Leben auf außergewöhnliche Weise aufeinander treffen und miteinander verschmelzen. Dieses nicht nur zu leben, sondern auch in seinen Werken weiter zu vermitteln, ist ein großes Verdienst Bonhoeffers.

Der tragende Grund seines Lebens wird in Sanctorum Communio, der Dissertation Bonhoeffers, bereits implizit deutlich: Als Teil der Widerstandsbewegung im Kampf gegen Hitler, der schließlich sein Leben forderte,12 wird Bonhoeffer das in Sanctorum Communio entfaltete „Für-einander-da-Sein“ und „Frei-für-andere-da-Sein“ auch praktisch ausüben, so dass in dieser Aktivität die Verbindung von Glaube und Leben kulminiert. So wird der Glaube zu einem tragfähigen Grund eines Lebens im Widerstand, wie es auch Hübner in seinem Buch Evangelische Theologie in unsere Zeit dargelegt hat.13

Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Wirkung, die Bonhoeffers Leben und Werk entfalten konnten, zeigt sich sowohl inhaltlich als auch formal in seinen Schriften: Es handelt sich um seine Weltoffenheit und seine Modernität, die seiner Arbeiten weitere Aussagekraft verleihen. So befand sich Bonhoeffer von Beginn seines akademischen Schreibens an in einem interdisziplinären Dialog auf der Suche nach neuen Perspektiven – sowohl mit der theologie-internen als auch mit der theologie-externen Perspektive – für die Theologie und wie im vorliegenden Fall besonders auch für die Ekklesiologie.14 Bereits in seiner Dissertation, die am 17. Dezember 1927 an der Alexander-von-Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde (vgl. DBW 1, 3; vgl. auch DB, 128), übt er Kritik an verschiedenen Missverständnissen, die er aus extremen Perspektiven der ← 17 | 18 → Kirche erwachsen sah. Der Titel seiner Arbeit lautet „Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche“ (DBW 1).15 Seine Kritik galt nicht nur einem konservativen, sondern auch einem allzu liberalen Verständnis der Kirche. Er versteht die Kirche weder als einen abgegrenzten geschlossenen Raum noch als eine allgemeine soziale Institution, sondern als eine Gemeinschaft von christlichen Personen, die im Glauben an Christus vereint werden. (vgl. DBW 1, 34. 175f) In letzter Konsequenz bedeutet das, dass er zum einen den Dialog zwischen Theorie und Empirie fordert, zum anderen dabei nicht die Glaubenswirklichkeit des einzelnen Christen aus den Augen verliert. So fordert er die Kirche auf, aus der konkreten Gesellschaft heraus in die geistige Auseinandersetzung mit der Moderne zu treten.16 Karttunen kommt zu ← 18 | 19 → dem Schluss, dass Bonhoeffer „jedes Ghetto und jede Marginalisierung a limine vermeiden“ will.17 Bonhoeffer geht es also weder um eine starre Abgrenzung der Kirche noch um eine Verwässerung derselben. Vielmehr fordert er einen lebendigen Dialog zwischen Kirche, Gesellschaft und Theologie.

Aus diesen Gründen spielt Bonhoeffer meines Erachtens eine bedeutende Rolle nicht nur für die Geschichte der Kirche und die Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts in Deutschland, sondern auch für den gegenwärtigen theologischen Diskurs in anderen Weltgegenden.18 Dabei lassen sich sowohl Verächter als auch Verehrer der Person Bonhoeffers finden: Rechte und Linke, bürgerliche Denker, die nach dem Sinn fragen und politische Theologen, denen es um gesellschaftlichen Wandel geht, ebenso Sozialisten in der damaligen DDR, ← 19 | 20 → z. B. Hanfried Müller.19 Die Bekanntheit des Lebens und der Werke Bonhoeffers erstreckt sich bis auf das chinesische Festland, wo der Name Bonhoeffer vielen Kirchenmitgliedern aber auch kirchenfernen Gesellschaftsschichten ein Begriff ist.20 Trotz dieser Bekanntheit gab es lange Zeit nur wenig theologische und systematische Auseinandersetzungen mit der Person und vor allem auch der Theologie Bonhoeffers auf dem Festland Chinas.

Erst in den letzten Jahrzehnten wurde von Menschen in den verschiedensten Weltgegenden aus den unterschiedlichsten theologischen Kontexten in ← 20 | 21 → sehr verschiedenen Situationen die Forschung über Bonhoeffers Leben und Werk durch unterstützende Denkanstöße angefacht.21 So hat Dorothee Sölle hinsichtlich dieser wachsenden Bedeutung Bonhoeffers einen berühmten Satz formuliert: „Dietrich Bonhoeffer is the one German theologian who will lead us into the third millennium.“22 Vor dem Hintergrund dieser umfassenden Bedeutung, die Bonhoeffer auf Grund seines Lebens und seines Werkes zugesprochen werden muss, stellt sich meines Erachtens die Frage, wie Christinnen und Christen in China, Pfarrer, Kirchenleitungen und Gemeinden von dieser Bedeutung profitieren können. Wo erfahren sie durch seine Schriften Unterstützung und Herausforderung?

Details

Seiten
263
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653044706
ISBN (ePUB)
9783653983685
ISBN (MOBI)
9783653983678
ISBN (Hardcover)
9783631653159
DOI
10.3726/978-3-653-04470-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Mai)
Schlagworte
Ekklesiologie Sanctorum Communio Soziologie der Kirche Bonhoeffer, Dietrich
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 263 S.

Biographische Angaben

Ruomin Liu (Autor:in)

Ruomin Liu studierte Theologie an der Jinling Kirchlichen Hochschule in Nanjing (China) und promovierte an der Universität Heidelberg. Der Autor ist Dozent an der Jinling Kirchlichen Hochschule in Nanjing sowie Pastor in Nanjing.

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