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Der Dialog mit der organisierten Zivilgesellschaft in der Europäischen Union

von Svenja Pitz (Autor:in)
©2015 Dissertation 246 Seiten

Zusammenfassung

Im Zuge fortschreitender Integration steht die Europäische Union vor der Herausforderung, hinreichende Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger zu erreichen. Eine Möglichkeit hierzu liegt in der verstärkten Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen in die europäischen Gesetzgebungsprozesse. Eine solche Einbeziehung bedarf aber rechtlicher Vorgaben, um unkontrolliertem Lobbyismus vorzubeugen. Anhaltspunkte für eine Reglementierung lassen sich möglicherweise aus anderen Formen zivilgesellschaftlicher Partizipation gewinnen. Insbesondere dem Merkmal der Repräsentativität kommt dabei entscheidende Bedeutung zu.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Kapitel 1: Zivilgesellschaft – Geschichte und Definition
  • A. Historische Entwicklung
  • I. Antike
  • II. Mittelalter
  • III. Neuzeit
  • IV. Moderne
  • V. Fazit
  • B. Zivilgesellschaft im 20. und 21. Jahrhundert
  • I. Gegenwärtige Zivilgesellschaftstheorien
  • 1. Liberale Zivilgesellschaft
  • 2. Kommunitaristische Zivilgesellschaft
  • 3. Diskurstheoretische Zivilgesellschaft
  • 4. Fazit und Abgrenzungen
  • a. Verhältnis zum Staat
  • b. Verhältnis zur Wirtschaft
  • c. Verhältnis zum Privaten
  • II. Die organisierte Zivilgesellschaft in Europa
  • 1. Definition
  • 2. Die einzelnen Akteure
  • a. NGOs
  • b. Wirtschafts- und Berufsverbände
  • c. Einzelne Unternehmen
  • d. Sozialpartner
  • e. Politische Parteien
  • f. CBOs
  • g. Kirchen und Religionsgemeinschaften
  • 3. Fazit
  • C. Demokratische Legitimation
  • I. Unionsrechtliches Demokratieprinzip
  • II. Nationalstaatliches Demokratieprinzip
  • III. Bundesverfassungsgericht
  • 1. Maastricht-Urteil
  • 2. Lissabon-Urteil
  • IV. Input- und Output-Legitimation
  • V. Dreispuriges Legitimationsmodell
  • 1. Spur: Nationale Parlamente
  • 2. Spur: Europäisches Parlament
  • 3. Spur: Zivilgesellschaft
  • VI. Fazit
  • Kapitel 2: Der Soziale Dialog
  • A. Formeller Sozialer Dialog
  • I. Entwicklung
  • II. Das Verfahren der Art. 154, 155 AEUV
  • 1. Anhörung gem. Art. 154 AEUV
  • a. Europäische Sozialpolitik
  • b. Aktion
  • c. Ausrichtung
  • d. Inhalt
  • e. Verhandlungen
  • f. Verletzung der Anhörungspflicht
  • 2. Beziehungen gem. Art. 155 Abs. 1 AEUV
  • a. Vertragliche Beziehungen
  • b. Sachgebiete
  • aa. Vereinbarungen gem. Art. 155 Abs. 2 Var. 2 AEUV
  • bb. Vereinbarungen gem. Art. 155 Abs. 2 Var. 1 AEUV
  • cc. Zusammenfassung
  • 3. Durchführung
  • a. Voluntaristisches Verfahren
  • aa. Variante 1: Sozialpartner
  • bb. Variante 2: Mitgliedstaaten
  • b. Korporatives Verfahren
  • aa. Verfahrensablauf
  • bb. Rechtsnatur des Ratsbeschlusses
  • (1) Beschluss
  • (2) Richtlinie
  • (3) Verordnung
  • (4) Ergebnis
  • (5) Beispiele
  • cc. Umsetzung in den Mitgliedstaaten
  • dd. Akteure
  • B. Autonomer Sozialer Dialog
  • I. Sachgebiete
  • II. Durchführung
  • 1. Voluntaristisches Verfahren
  • 2. Korporatives Verfahren
  • C. Die Sozialpartner
  • I. Auslegung
  • II. Die unterschiedlichen Phasen
  • 1. Anhörungsphase
  • a. Kriterien der Sozialpartner
  • b. Kriterien der Kommission
  • c. Weitere Kriterien: Parlament und WSA
  • d. Entscheidungskompetenz
  • 2. Verhandlungsphase
  • 3. Durchführungsphase
  • III. Demokratische Legitimation
  • 1. Staatliche Kategorien
  • 2. Dreispurige Legitimation
  • a. Erste Spur: Nationale Parlamente
  • b. Zweite Spur: Europäisches Parlament
  • c. Dritte Spur: Zivilgesellschaftliche Organisationen
  • 3. Input- und Output-Legitimation
  • 4. (Gesamt-)Repräsentativität
  • a. EuG: UEAPME
  • b. Tariffähigkeit in der BRD
  • c. Übertragbarkeit
  • d. Fazit
  • 5. Ergebnis
  • D. Dreiseitiger Sozialer Dialog
  • I. Dreigliedriger Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung
  • II. Konsultation im Rahmen branchenübergreifender beratender Ausschüsse
  • E. Informeller Sozialer Dialog
  • F. Bewertung
  • Kapitel 3: Der Zivile Dialog
  • A. Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss
  • I. Entwicklung
  • II. Rechtsnatur
  • III. Zusammensetzung
  • 1. Ernennungsverfahren
  • 2. Stellung der Mitglieder
  • 3. Präsident und Präsidium
  • 4. Drei Gruppen
  • 5. Fachgruppen, Unterausschüsse und weitere Gremien
  • IV. Aufgaben und Arbeitsweise
  • 1. Obligatorische Anhörung
  • 2. Fakultative Anhörung
  • 3. Initiativstellungnahmen
  • 4. Verfahren der Stellungnahme
  • 5. Weitere Funktionen
  • V. Kritik
  • 1. Änderungen im Vertrag von Lissabon
  • 2. Diskussion über Rolle und Bedeutung des WSA
  • VI. Demokratische Legitimation
  • 1. Repräsentativität
  • a. Angemessenheitsformel
  • b. Prüfungspflicht
  • c. Inhaltliche Ausgestaltung
  • d. Übertragbarkeit der Repräsentativität im Sozialen Dialog
  • 2. Einbindung in die legislative Tätigkeit der EU
  • a. Staatliche Kategorien
  • b. Input- und Output-Legitimation
  • c. Dreispurige Legitimation
  • aa. Nationale Parlamente und Europäisches Parlament
  • bb. Zivilgesellschaftliche Akteure
  • 3. Fazit
  • B. Entwicklung des sonstigen Zivilen Dialogs
  • I. Der Vertrag von Maastricht und die frühen 1990er Jahre
  • II. Die späten 1990er Jahre
  • 1. Gemeinnützige Vereine und Stiftungen
  • 2. Wohlfahrtsverbände
  • 3. Die Förderung gemeinnütziger Vereine und Stiftungen
  • III. Die Jahrtausendwende und das Governance-Weißbuch
  • 1. Der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft
  • 2. Partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Nichtregierungsorganisationen
  • 3. Weißbuch Europäisches Regieren
  • a. Inhalt
  • b. Einbindung von zivilgesellschaftlichen Organisationen
  • c. Einbindung von Expertenwissen
  • 4. Stellungnahme des WSA
  • 5. Allgemeine Grundsätze und Mindeststandards
  • 6. Einholung und Nutzung von Expertenwissen
  • IV. Das Scheitern des Verfassungsvertrags und die Europäische Transparenzinitiative
  • 1. Grünbuch
  • 2. Stellungnahmen
  • 3. Folgemaßnahmen
  • 4. Register und Verhaltenskodex
  • 5. Transparenz-Register
  • V. Fazit
  • C. Vertrag von Lissabon
  • I. Demokratische Grundsätze
  • II. Art. 11 Abs. 1 und 2 EUV – Meinungsaustausch und Dialog
  • 1. Zivilgesellschaft
  • 2. Repräsentative Verbände
  • 3. Kriterien des WSA
  • D. Europarat
  • I. EMRK und Vertrag von Lissabon
  • II. Teilnehmerstatus und Repräsentativität
  • III. Bewertung
  • 1. Kriterien der Kampfkraft
  • 2. Kriterien aus dem Sozialen Dialog
  • 3. Fazit
  • IV. Art. 11 Abs. 3 EUV – Betroffenenanhörungen
  • V. Art. 11 Abs. 4 EUV – Bürgerinitative
  • VI. Demokratische Legitimation
  • 1. Alternative Demokratietheorien
  • 2. Dreispuriges Legitimationsmodell
  • 3. Ergebnis und Ausblick
  • VII. Dialog mit den Kirchen
  • 1. Rechtslage in den Mitgliedstaaten
  • 2. Systematik und Verhältnis zum Zivilen Dialog
  • 3. Partner des Dialogs
  • 4. Verhältnis zum Sozialen Dialog
  • 5. Rechte und Pflichten
  • 6. Bewertung
  • E. Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Kommission
  • I. Das sog. Komitologieverfahren
  • II. Delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte
  • 1. Durchführungsrechtsakte gem. Art. 291 AEUV
  • 2. Delegierte Rechtsakte gem. Art. 290 AEUV
  • 3. Lamfalussy-Verfahren
  • III. Abgrenzung zur (organisierten) Zivilgesellschaft
  • IV. Sonstiges Ausschusswesen bei der Kommission
  • F. Zusammenfassung und Prognose
  • I. Perspektiven
  • II. Repräsentativität
  • III. Fazit
  • Zusammenfassung in Thesen
  • Kapitel 1: Geschichte und Definition
  • Kapitel 2: Der Soziale Dialog
  • Kapitel 3: Der Zivile Dialog
  • Kapitel 4: Gesamtergebnis
  • Literaturverzeichnis

Einleitung

Vor fast 60 Jahren schlossen sich die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten zur „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ zusammen. Deren primärer Fokus war die Kooperation im wirtschaftlichen Bereich, welche Wohlfahrtsgewinne für alle bewirken sollte. Die Integration im wirtschaftlichen Bereich begann sich mit der Zeit auch auf andere Lebensbereiche auszuwirken, und die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ entwickelte sich zu einer ganz neuen Form staatlicher Kooperation, die über intergouvernementale Zusammenarbeit hinaus supranationale Züge annahm. Aus der Europäische Wirtschaftsgemeinschaft wurden die Europäischen Gemeinschaften, die Europäische Union kam ergänzend hinzu, und schließlich ermöglichte der Vertrag von Lissabon die Vereinigung in einer Europäischen Union (EU) mit ausdrücklich verliehener Rechtspersönlichkeit.

Dieser Prozess wurde vielfach begrüßt, rief aufgrund seiner Einzigartigkeit und umfassenden Dimensionen aber auch große Skepsis hervor. Einerseits befürchteten die Nationalstaaten, zu viel von ihrer Souveränität an die EU abgeben zu müssen. Aber auch die einzelnen europäischen Bürgerinnen und Bürger hatten verstärkt das Gefühl, bei der Entwicklung der „Idee Europa“ außen vor gelassen zu werden. Abgesehen von einer generellen Skepsis gegenüber Neuem ist dies wesentlich darauf zurück zu führen, dass der einzelne Bürger bei der europäischen Integration oftmals bewusst außen vor gelassen wurde (Methode Europa: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert, wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“1).

Je mehr (originäre) Regelungsbefugnisse der EU übertragen wurden, und je stärker sie damit in die Rechtssphäre der einzelnen Bürger eingreifen konnte, desto bedenklicher wurde dies vor allem im Hinblick auf ihre demokratische Legitimation. Resultat war eine zunehmende Euroskepsis, die sich nicht nur etwa am ← 13 | 14 → „Eurobarometer“2 ablesen ließ, sondern beispielsweise auch in den ablehnenden Referenden zum europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden und zunächst auch zum Vertrag von Lissabon in Irland deutlichen Ausdruck fand. Spätestens diese Ereignisse machten unmissverständlich klar, dass nach Wegen gesucht werden musste, Europa bürgernäher zu gestalten. Daher wurde in der Folgezeit verstärkt versucht, originär bürgerschaftliche Mitwirkungsmöglichkeiten zu nutzen und zu schaffen. In diesem Zusammenhang sind „Zivilgesellschaft“ und „zivilgesellschaftliche Partizipation“ oft bemühte Schlagworte geworden; es entsteht beinahe der Eindruck, dass sie als Allheilmittel für sämtliche Probleme der EU, insbesondere aber für das oft kritisierte demokratische Defizit benutzt werden sollen. Gleichzeitig scheint das mit „Zivilgesellschaft“ bezeichnete Konzept nur selten klar umrissen zu sein, vielmehr löst der Begriff vielfältige, vorrangig positive Assoziationen aus. Dies hat auch damit zu tun, dass er auf eine jahrtausendealte Tradition zurück blicken kann, in deren Verlauf er in verschiedensten Kontexten gebraucht wurde und vielfältige Bedeutungsverschiebungen erfahren hat. Tatsächlich ist es schon eine Herausforderung, die Bedeutungsgeschichte einzugrenzen, und darüber hinaus für den europäischen Kontext brauchbar zu machen. Die vorliegende Arbeit möchte sich dieser Aufgabe stellen und umreißt zunächst dessen Begriffsgeschichte. Sodann wird untersucht, wie sich das Konzept „Zivilgesellschaft“ in der europäischen Integration bereits niedergeschlagen hat, und wie es darüber hinaus noch stärker hierfür nutzbar gemacht werden kann. Dabei wird schwerpunktmäßig das europäische Rechtsetzungsverfahren betrachtet, denn hier greift die EU am stärksten in die Lebensbereiche der einzelnen Bürgerinnen und Bürger ein, und hier stellt sich die Frage nach der demokratischen Legitimation mit der größten Dringlichkeit.

Vorweg lässt sich sagen, dass unterschiedliche institutionalisierte Formen der Mitwirkung zivilgesellschaftlicher Akteure an Rechtsetzungsverfahren im europäischen Primärrecht existieren. Eine besonders weitgehende Einbindung findet im Bereich des sogenannten „Sozialen Dialogs“ statt, der sich mit arbeits- und sozialrechtlichen Themen beschäftigt. Parallel dazu haben sich stetig Elemente eines themenübergreifenden „Zivilen Dialogs“ entwickelt. Diese Entwicklung, die sich in zahlreichen Unionsdokumenten abzeichnete, fand mit dem Vertrag von Lissabon Eingang ins Primärrecht. Die vorliegende Arbeit will auch Perspektiven aufzeigen, wie die neuen Vertragsregelungen in Zukunft mit Leben gefüllt und für eine bessere Akzeptanz der europäischen Integration genutzt ← 14 | 15 → werden können. Dazu bedient sich die Arbeit eines Vergleichs zwischen den bekannten, etablierten Mechanismen zivilgesellschaftlicher Mitwirkung und den neuen Regelungen. Besondere Berücksichtigung findet der Aspekt der demokratischen Legitimation. ← 15 | 16 →

← 16 | 17 →

                                                   

  1  Juncker, zitiert nach Koch: Die Brüsseler Republik, in: Der Spiegel 52/1999, S. 136.

  2  http://ec.europa.eu/public_opinion/index_en.htm [letzter Zugriff: 03.06.2013].

Kapitel 1: Zivilgesellschaft – Geschichte und Definition

Der schillernde Begriff der Zivilgesellschaft lässt sich nur schwer vollständig erfassen. Seine Ambiguität resultiert einerseits aus Bedeutungsverschiebungen, die er im Laufe der Geschichte erfahren hat, andererseits aus den unterschiedlichen Funktionen, die ihm zugeschrieben wurden. So wird der Versuch, „Zivilgesellschaft“ zu definieren, auch mit demjenigen verglichen, einen „Pudding an die Wand zu nageln“3.

Die vorliegende Arbeit möchte Möglichkeiten und Grenzen der Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure in der europäischen Rechtsetzung aufzeigen. Im Folgenden wird eine Analyse des historischen Bedeutungswandels des Begriffs durchgeführt, um danach seine konkrete Ausgestaltung in der europäischen Gegenwart zu untersuchen. Eine Eingrenzung soll bereits an dieser Stelle getroffen werden: Die vorliegende Arbeit betrachtet nicht einzelne Bürgerinnen und Bürger als Elemente der Zivilgesellschaft, sondern erfasst deren Zusammenschlüsse zu zivilgesellschaftlichen Organisationen. Zur Verdeutlichung wird meist von der „organisierten Zivilgesellschaft“ gesprochen.

A. Historische Entwicklung

Gegenwärtig gewinnt man den Eindruck, dass es sich bei „Zivilgesellschaft“ oder „Bürgergesellschaft“ um ein Modewort handelt,4 das gelegentlich ohne konkrete inhaltliche Aussage gebraucht wird. Wer den Begriff verwendet, muss aber wissen, dass er sich damit „auf den schwankenden Boden einer jahrtausendalten Tradition“5 begibt. Erstmals dokumentiert ist die Verwendung des griechischen Terminus koinonía politike bei Aristoteles; in der lateinischen Übersetzung wurde daraus die societas civilis.6 ← 17 | 18 →

I. Antike

Aristoteles (384–322 v. Chr.) sieht den antiken Staat (polis) und die Zivilgesellschaft (koinonía politike) als Einheit, in der Regierende und Regierte zusammen fallen.7 In seinen Worten lautet dies: „Der gute Bürger muss (…) in der Lage sein, sich beherrschen zu lassen und zu herrschen; und die Fähigkeit eines Bürgers besteht darin, nach diesen beiden Seiten hin die Herrschaft, die über Freie ausgeübt wird, ausüben zu können.“8 Die koinonía politike ist eine politische Gemeinschaft, in der sich die Bürger zum Zweck des tugendhaften und glücklichen Lebens zusammenschließen.9 Während die Begriffe Staat und Zivilgesellschaft synonym verwendet werden, wird die koinonía politike gegen den oikos abgegrenzt, die häusliche Sphäre, die primär als Ort der wirtschaftlichen Versorgung charakterisiert wird.10 Unter Bürgern im Sinne der antiken polis werden die männlichen Besitzbürger verstanden, Freie minderen Rechts (Frauen), Noch-nicht-Freie (Kinder) und Unfreie (Sklaven) sind nicht einbezogen. Diese diskriminierende Begriffsverwendung wird bis heute von einigen dem Konzept der Zivilgesellschaft entgegen gehalten.11

Cicero (106–42 v. Chr.) übersetzte den Begriff der koinonía politike mit societas civilis,12 diesem wird in der römischen Philosophie aber längst nicht der systematische Stellenwert zugesprochen wie in der griechischen Antike.13

II. Mittelalter

Mit der Ausbreitung des Christentums beginnt sich der Sinngehalt von „Zivilgesellschaft“ zu verändern. Thomas von Aquin (1225–1274) entwickelt auf der Grundlage der Lehren Aristoteles’ eine umfassende christliche Philosophie. ← 18 | 19 → Auch er verwendet Zivilgesellschaft und Staat als synonyme Begriffe (societas civilis sive res publica), stellt ihnen aber eine göttliche Gemeinschaft (communitas divina) gegenüber.14 Gleichzeitig haben sich die gesellschaftlichen Parameter gewandelt: Im Gegensatz zur griechischen polis ist die Zivilgesellschaft weniger homogen, sondern besteht aus einer Vielzahl politischer Herrschaftsverbände. Auf der einen Seite stehen die Könige und Fürsten, auf der anderen Seite bilden sich privilegierte Korporationen (Ritter, Klerus, Stände) heraus.15 Bei Thomas sind Herrscher und Vasallen, Dörfer, Städte, Stände etc. Elemente der societas civilis.16 In ähnlicher Weise wendet Leonardo Bruni (1369–1444) den Begriff auf alle gesellschaftlichen Einheiten an, die über ein gewisses Maß an Souveränität verfügen.

III. Neuzeit

Die Entwicklung vom traditionellen hin zum modernen Zivilgesellschaftsbegriff vollzieht sich mit der Entstehung absolutistischer Regime in Europa.17 Alle öffentliche Gewalt wird nun zentral in der Hand des Souveräns zusammengefasst,18 so dass die früher an der Herrschaft partizipierenden Verbände (Gilden, Zünfte etc.) entpolitisiert werden und die privilegierten Stände (Adel und Klerus) ihre Vorrechte verlieren.19 Damit entsteht auch die Dualität zwischen herrschendem Staat und nicht-politischer Gesellschaft.20

Thomas Hobbes (1588–1679) legt seinem Werk ein pessimistisches Menschenbild zu Grunde: Im Naturzustand sei der homo homini lupus, und es herrsche ein bellum omnium contra omnes. Um diesen anarchischen status naturalis zu überwinden und persönliche Sicherheit zu gewinnen, schließen die Menschen untereinander einen Gesellschaftsvertrag, in dem sie sich freiwillig einem Souverän unterwerfen.21 Das bedeute den Übergang zum status civilis, in dem ← 19 | 20 → alle Bürger dem Souverän als Untertanen gegenüber stehen.22 Der Mensch als solcher kann also erst durch Unterwerfung unter einen Souverän einen status civilis erreichen, der den Gegenbegriff zum status naturalis darstellt.

Mit der Aufklärung im 17. Jahrhundert findet eine grundlegende Veränderung des Denkens von theologischen Kategorien weg, hin zu einer Säkularisierung und Betonung der Vernunft statt.23 Die absolute Monarchie sieht sich mit dem Anspruch der Aufklärung konfrontiert, „Struktur, Gewalt und Tätigkeit des Staates neu zu definieren“24. John Locke (1632–1704) befindet: “Hence it is evident, that Absolute Monarchy (…) is (…) inconsistent with Civil Society, and so can be no Form of Civil Government at all.”25 Der Übergang vom Naturzustand zu einer civil society sei dadurch gekennzeichnet, dass die Bürger zur Wahrung der ihnen kraft Naturgesetzes zustehenden Rechte – Leben, Freiheit und Eigentum – einen Regierenden als „Treuhänder“ einsetzen. Werden ihre Rechte nicht geschützt, seien die Untertanen zum Widerstand gegen die Regierenden berechtigt. Damit entwickelt Locke das Modell einer beschränkten Monarchie, in der das Volk seine unveräußerlichen Rechte der souveränen Gewalt nur widerruflich delegiert hat.26 Die besondere Bedeutung von Lockes Gesellschaftstheorie zeigt sich auch darin, dass der zeitgenössische Politologe Charles Taylor die Entwicklung des Zivilgesellschaftskonzepts entlang einer „Locke-Linie“ („L-Linie“) einerseits, einer „Montesquieu-Linie“ („M-Linie“) andererseits interpretiert.27

Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu (1689–1755) spielt in der Entwicklung der Zivilgesellschaftsdebatte insofern eine entscheidende Rolle, als er die Bedeutung intermediärer Institutionen (corps intermédiaires) betont, die als Mittler zwischen Volk und (monarchischer) Regierung agieren. Die Bürger sollen sich zu diesen unabhängigen Körperschaften zusammenschließen und so den absolutistischen Herrscher daran hindern, despotisch zu regieren.28 Die Zugehörigkeit zu solchen Gruppen beschränke sich allerdings auf Adlige. ← 20 | 21 →

Während in der Antike also der Gegensatz zwischen civilis und oeconomicus betont wurde, kommt es im 17. und 18. Jahrhundert zur Gegenüberstellung von civilis und naturalis. Begrifflich drückt sich dies auch darin aus, dass civil society im Englischen zu civilized society, société civile im Französischen zu société civilisée wird.29

Einen explizit negativen Beigeschmack erhält der Begriff der Zivil- oder bürgerlichen Gesellschaft bei Jean-Jacques Rousseau (1712–1778): „Der erste, der ein Stück Feld eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein (…) war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft gewesen. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen (…) hätte“30. Durch den Übergang vom Naturzustand zur Vergesellschaftung trete der Mensch in einen Zustand ein, der von Entfremdung und gegenseitiger Abgrenzung geprägt sei.31 Rousseau verurteilt nicht die Vergesellschaftung des Menschen als solche, sondern die konkrete Ausgestaltung der bürgerlichen Gesellschaft, in der Einzelne kraft ihrer Eigentumsrechte privilegiert seien und politisch-wirtschaftlich stärkeren Einfluss nehmen können.32 Für die Schaffung und Aufrechterhaltung eines gerechten Staatskörpers sei aber die aktive Partizipation aller Bürger essentiell: „Sobald der Dienst am Staat aufhört, die hauptsächlichste Angelegenheit der Bürger zu sein, und diese vorziehen, mit der Geldbörse statt mit ihrer Person zu dienen, ist der Staat seinem Zerfall schon nahe.“33

Im scharfen Gegensatz dazu sieht Immanuel Kant (1724–1804) eine universalistische Zivilgesellschaft (societas civilis) unter der Herrschaft des Rechts, insbesondere der Menschenrechte, als idealen Zustand und Ziel der menschlichen Entwicklung an.34 Staatsbürger (cives) sind für Kant nur die ökonomisch Unabhängigen, „der Geselle bei einem Kaufmann oder bei einem Handwerker; ← 21 | 22 → der Dienstbote (…), der Unmündige (…), alles Frauenzimmer, und überhaupt jedermann, der (…) nach der Verfügung anderer (…) genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit“35. Intermediäre Gewalten wie Körperschaften und Stände lehnt Kant ab und fordert ihre Auflösung.36

Die schottischen Aufklärer Adam Smith (1723–1790) und Adam Ferguson (1723–1816) betonen die Rolle ökonomischer Prozesse in der Zivilgesellschaft und reflektieren so die Auswirkungen der frühen Industrialisierung auf die Sozialisierung der Menschen.37

Mit der Französischen Revolution beginnt 1789 eine neue Epoche der Weltgeschichte.38 Bisher haben sich Klerus und Adel die politische Macht geteilt; obwohl das Bürgertum wirtschaftlich erstarkt war, waren Bürger und Bauern an der Ausübung der politischen Macht nicht beteiligt. Am 26. August 1789 wird die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen verkündet, die nicht nur den Übergang von der Neuzeit zur Moderne dokumentiert, sondern auch die Wende von der „alten“ zur modernen bürgerlichen Gesellschaft. Abgeschafft werden die partikular-gesellschaftlichen Institutionen, welche die bürgerliche Gesellschaft in den Rechten und Freiheiten der Provinzen, Städte, Gemeinden und Stände besaß. Die bürgerliche oder Zivilgesellschaft soll nicht mehr aus korporativ-ständisch berechtigten Bürgern, sondern aus der Gesamtheit der freien und gleichen, unter der souveränen Staatsgewalt vereinigten Staatsbürger (citoyens) bestehen.39 Gleichzeitig bildet sich eine Fülle von neuen Assoziationen, die anfangs vor allem zur gegenseitigen wirtschaftlichen Förderung gegründet wurden, sich seit den 1840er Jahren aber zunehmend in politisch-wirtschaftliche pressure groups verwandelten. Beispiele sind die überregionalen Zusammenschlüsse der Freihändler und der Schutzzöllner sowie der Eisenbahngesellschaften in Deutschland und Frankreich.40 ← 22 | 23 →

Details

Seiten
246
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653043983
ISBN (ePUB)
9783653984286
ISBN (MOBI)
9783653984279
ISBN (Hardcover)
9783631652831
DOI
10.3726/978-3-653-04398-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Demokratie Ziviler Dialog Mitbestimmung Nichtregierungsorganisationen NGOs Sozialer Dialog
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 246 S.

Biographische Angaben

Svenja Pitz (Autor:in)

Svenja Pitz studierte Rechtswissenschaften an der Bucerius Law School in Hamburg und an der London School of Economics and Political Science. Ihre praktische Ausbildung absolvierte sie unter anderem bei der Europäischen Kommission in Brüssel und bei den Vereinten Nationen in New York. Seit 2013 ist sie zugelassene Rechtsanwältin in Hamburg.

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