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Die Würde der Arbeit zwischen Macht, Dichtung und Glauben

Essays gegen das Vergessen

von Friedrich Mülder (Autor:in)
©2014 Monographie 400 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch will daran erinnern, dass Arbeit die Basis aller Kultur ist. Die Würde körperlicher wie geistiger Arbeit ist ein Leitmotiv in den vierzehn hier vorgestellten Essays. Die Retrospektive umfasst die Arbeiterbewegung in ihrem Ringen um die soziale Frage, die Auswirkungen des Sozialistengesetzes, die Bildungspolitik der frühen Sozialdemokratie. Ein weiterer Bereich ist der Literatur gewidmet: Lessings letzte Kämpfe in Wolfenbüttel, Schillers und Heines Haltung zur Französischen Revolution, Liliencrons Dichterleben, Goethes Reisen, sein letzter Aufenthalt in Marienbad – die Elegie. Für die theologische Position stehen die Arbeiten über Franz von Assisi und seinen Weg in die Heiligkeit; über Dietrich Bonhoeffers gläubiges Leben, das mit seinem Opfertod im Widerstand gegen die Tyrannei endet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • „Die Basis aller Kultur ist die Arbeit!“ An der Jahrtausendwende: Anmerkungen zur Arbeiterbewegung in Norddeutschland
  • „Das ist das Unglück der Könige…“ 1813–1851 Napoleon, Junges Deutschland, Vormärz und die Schleswig-Holsteinische Erhebung – Aussenfront der Revolution von 1848
  • „Die Wissenschaft wollen wir zum Gemeingut aller machen!“ Wilhelm Liebknecht – Bildungspolitiker des Proletariats
  • Die Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz. Bismarcks Weg zur Bekämpfung der Arbeiterpartei
  • Zum Sozialistengesetz: Bismarcks Kraftakt im Spiegel der Satire – Eine medienhistorische Polemik
  • Im Schlaraffenland. Positionen zwischen Paradies und Apokalypse
  • „Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung!“ Lessings letzte Kämpfe – Mehrings Visionen
  • „Mitten im furchtbaren Reich der Kräfte…“ Schiller und Heine in Mehrings Literaturgeschichte
  • „Das neue Geläut in der Kunst“ Eine Bibliothek für Arbeiter – Ihr Verhältnis zur Berliner Moderne
  • „Wo meine Schlösser liegen, dahin fährt keine Bahn…“ Detlev von Liliencron – Sein Leben, sein Werk, seine Zeit
  • „Was lässest du das schöne Mädchen fahren…“ Sinnlichkeit und Heidentum – Mein Goethe
  • „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt…“ Auf den Spuren Goethes von Straßburg bis Marienbad
  • Gottes Maurer: „Baue meine Kirche!“ Leben und Wege des Heiligen Franz von Assisi
  • „Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?“ Eine individuelle Annäherung an Dietrich Bonhoeffer
  • Epilog
  • Literaturverzeichnis

Vorwort

Die Texte dieses Bandes sind gegen das Vergessen geschrieben. Sie haben ihren Ursprung zum Teil in Beiträgen zu wissenschaftlichen Tagungen, die der Erforschung und Darstellung von Zeitströmungen, geistigen Entwicklungen und Lebensläufen vergangener Jahrhunderte gewidmet waren. Einige dieser Aufsätze sind Resultate der stillen Beschäftigung mit Personen der Zeitgeschichte, die mir durch ihr Wirken in ihren Lebenszeiten nahe stehen; andere umfassen Themenbereiche, die mir einer intensiven Auseinandersetzung wert schienen. Vor allem geht es mir um den schaffenden Menschen, den mit den Händen arbeitenden wie um den geistig wirkenden, in seiner Existenz, seiner Pflicht, seiner Begabung, seiner Berufung, seinem Glauben, seiner Würde. Ich habe sie verfasst als Mann vom Bau, als Architekt, der sich aber schon in jungen Jahren intensiv der Literatur und der historischen Forschung verschrieben hat.

Abgesehen von der Aufnahme einiger Manuskripte in Tagungsbände und andere Publikationen, ruhten diese Texte als stille Dateien im engen Rund der Festplatte meines Computers. Wenn jetzt diese digitalen Zeichen aus ihrer Abstraktion in die Sinnlichkeit unserer siebenundzwanzig Buchstaben gesetzt und zwischen Buchdeckel gebunden worden sind, so ist dieser Umstand zuerst dem Drängen der Freunde zu verdanken, die in den Texten zur Arbeiterbewegung wie in den historischen, literarischen und biographischen Essays das kompakt formulierte, bewahrenswerte Erinnerungspotential gesehen haben.

Arbeiter und Herrscher, Dichter und Heilige sind auf diesen Buchseiten versammelt, wie aktuelle Themenstellungen sie gerufen haben. Einige Anmerkungen zu den hier angesprochenen, so unterschiedlich positionierten Protagonisten der menschlichen Gesellschaft seien mir an dieser Stelle gestattet.

Die Arbeiterbewegung des neunzehnten Jahrhunderts im Gefolge der industriellen Revolution mit ihren gravierenden sozialen Problemen hat mich, den Sohn eines ‚standesbewussten‘ Fabrikarbeiters, auf besondere, fast persönlich zu nennende Weise berührt. Die ‚Soziale Frage‘ im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts war auch im frühen zwanzigsten Jahrhundert keineswegs gelöst. Armut und Stolz des vierten Standes, verbunden mit dem hinhaltenden Widerstand gegen die herrschende nationalsozialistische Diktatur haben meine Kindheit geprägt. Das nach dem verheerenden zweiten Weltkrieg 1945 im ← 7 | 8 → Auftrag sowjetischer Diktatur begonnene, 1989 endgültig gescheiterte anmaßende Experiment, im östlichen Teil Deutschlands im Namen der Vorkämpfer der frühen Arbeiterbewegung des neunzehnten Jahrhunderts in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts eine sozialistische Diktatur zu etablieren, hat das Werk und das Wollen dieser Frauen und Männer in einen weit reichenden und nachhaltigen Misskredit gebracht. Damals aus bitterer Notwendigkeit geboren, wurde das Gedankengut der Sozialisten des 19. Jahrhunderts im Griff der Parteifunktionäre des 20. Jahrhunderts zur menschenfernen Ideologie, dogmatisiert durch den Marxismus-Leninismus, deformiert zum bürokratischen Zentralismus, zur Diktatur des Stalinismus, und führte schließlich ins ökonomische und politische Desaster. Leider gilt es aber heute in weiten Kreisen der deutschen Öffentlichkeit für nicht sehr weise, die mit der frühen Arbeiterbewegung verbundenen, missbrauchten Namen und Werke noch in dem historischen Rang zu halten, der ihnen zukommt. Diese Erfahrung musste ich machen.

„Das ist das Unglück der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören wollen!“ Diese Worte rief Johann Jacoby, preußischer Politiker, deutscher Demokrat, am 2. November 1848 dem Preußenkönig Friedrich IV. entgegen, als der sich weigerte, die Deputation der Nationalversammlung anzuhören. Die Schleswig-Holsteinische Erhebung, der Krieg gegen Dänemark, bildeten die Aussenfront der Revolution von 1848. Ich habe versucht, in knapper Form, im Vorspann die Französischen Revolution und Napoleon, den Vormärz, den Zeitraum im Deutschen Bund von 1813–1851, und den Zusammenbruch der Schleswig-Holsteinischen Erhebung darzustellen.

Das von 1878–1890 geltende ‚Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie‘, Bismarcks Kraftakt gegen die deutschen Arbeiter, in seiner Menschenfeindlichkeit und seinem endlichen Misslingen anschaulich zu machen, war mir ein wichtiges Anliegen. Die daran anknüpfende medienhistorische Polemik zu schreiben hat mir Vergnügen bereitet.

Neben dem Kampf um Lohn, Brot und Menschenwürde war die Bildung ein Schwerpunkt in den Forderungen der frühen Arbeiterführer an die Gesellschaft. „Die Wissenschaft wollen wir zum Gemeingut aller machen!“

Die deutsche Literatur dem Volk nahe zu bringen, sahen sie als ihre Kulturaufgabe. Diese Bemühungen, weitgehend unbekannt, habe ich in einigen Aufsätzen zu Lessing, Schiller und Heine versucht sichtbar zu machen.

Mit der Sehnsucht nach dem „guten Leben“ in der irdischen Realität des menschlichen Lebens befasst sich der durch die Schlaraffenland-Phantasien so unernst eingeleitete Essay mit unseren sinnlichen und geistigen Positionen zwischen Paradies und Apokalypse. ← 8 | 9 →

Kein Schloss, nur Schulden hatte der großspurige, feinsinnige Dichter, der verarmte Adlige Detlev von Liliencron. Er schrieb: „Wissen sie von armen deutschen Dichtern, die gerne frei, ohne Rücksicht als nur einzig und allein auf ihr Künstlergewissen, das niederschreiben wollen, was ihnen das Herz bewegt, schicken Sie sie her zu mir nach Poggfred.“ Poggfred, der Froschfrieden, war sein Ort im Nirgendwo. „Bleiben wir tapfer und werden wir immer milder. Lassen Sie uns fröhlich, fröhlich sein die paar Tage auf Erden.“

Recht überraschend kam für mich damals, 1999, die Anfrage der Evangelischen Akademie Nordelbien in Bad Segeberg, ob ich im Rahmen ihrer Tagung zu Goethes 250. Geburtstag meine Gedanken über Sinnlichkeit und Heidentum im Werk des Dichters vortragen möchte. Mein Goethe! Ich sagte gern zu und wir erlebten im großen Foyer der (leider inzwischen von der Kirche geschlossenen) Akademie einen unvergesslichen Abend mit dem von seinem imaginären Sockel gelösten Herrn von Goethe.

Für die sudetendeutschen Freunde der Burg Hohenberg an der Eger schrieb ich auf der Basis des Segeberger Textes den Aufsatz über Goethes letzte große Liebe und die Entstehung der Marienbader Elegie. 2009, während unserer gemeinsamen Reise auf Goethes Spuren durch Böhmen vermittelte dieser Text uns eine intensive Begegnung mit dem Menschen und genialen Dichter Goethe in Marienbad.

Er war mit christlicher Liebe und völliger Armut einer der radikalsten Evangelisten, der Heilige Franz von Assisi, Gottes Maurer: „Baue meine Kirche“. Er hat seinen Zeitgenossen und allen Menschen in den vielen Generationen nach ihm, die in ‚Bruder Tod‘ nicht den Beender, sondern den Transformator in eine höhere Existenz sahen, sehen, den Weg durch das irdische Leben gewiesen zum Eingang in die nur im Glauben zu erreichende Welt göttlicher Ewigkeit. Den franziskanischen Geist im Namen des 2013 gewählten Papstes und in dessen erstem apostolischen Schreiben zu entdecken, gab mir den aktuellen Abschluß meiner Arbeit über diesen bedeutenden Heiligen.

Mit der zeitlichen Distanz von siebenhundertneunzehn Jahren zwischen ihren Toden stelle ich neben den katholischen Heiligen Franz von Assisi den evangelischen Theologen, den gläubigen Christen, den von seiner Ethik geleiteten Widerstandskämpfer und Märtyrer Dietrich Bonhoeffer, ermordet von den Nationalsozialisten in der gottesfernsten Zeit des zwanzigsten Jahrhunderts. Es ist mein Versuch einer persönlichen Annäherung an sein ‚heiligmäßiges‘ Leben und an seinen Tod im Glauben. „Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“

Es war mein Wunsch, in den Bewegungen der Geschichte zwischen den Aus- einandersetzungen im Gefüge der gesellschaftlichen Klassen und den ideologischen Verirrungen das Menschliche sichtbar zu machen. So tragen die Texte, bei ← 9 | 10 → aller historischen Sorgfalt und wissenschaftlichen Genauigkeit der Fakten, Spuren von Gefühlen und kontrolliertes Glimmen von Emotionen, die gespeichert liegen in frühen Erinnerungen an die eigene Kindheit unter kleinen Leuten, denen der Untertanengeist, die Konturen des uralten Herrschaftswesens noch eingebrannt waren, und sie zeugen von dem Verlangen, die Menschen, ihre Würde und ihre Lebensgrundlagen vor alle anderen irdischen Werte zu stellen. Es sei mir gestattet, am Ende dieser Textsammlung in einem Epilog auf die Anmerkung zu meinem eigenen Leben noch ein wenig näher einzugehen.

Zurückschauend aus der Stille meiner späten Jahre danke ich allen Freunden, die mit Fragen, Ratschlägen, Anregungen und Mahnungen die Herausgabe dieser Texte mit bewirkt haben.

Den Herausgebern der Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte im Peter Lang Verlag, Herrn Prof. Thomas Metscher und Herrn Dr. Wolfgang Beutin, danke ich für ihre kritische Bewertung und die Entscheidung, meine „Essays gegen das Vergessen“ für diese Reihe zu empfehlen.

Herzlich dankbar bin ich dem Repräsentanten des Verlages in Hamburg, Herrn Michael Rücker, für seine unendliche Geduld, seine Beratung und für seine Empfehlung, diese Textsammlung in den Internationalen Verlag der Wissenschaften Peter Lang aufzunehmen.

Das Buch widme ich dem Andenken meiner verstorbenen Frau Eva Christine, die mir zu Lebzeiten ihren Rat und Beistand gab und meine gedanklichen und realen Abwesenheiten im Dienst dieser Arbeiten mit zustimmender Geduld ertragen hat.

Thurmansbang/Solla, im Januar 2014
Friedrich Mülder
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„Die Basis aller Kultur ist die Arbeit“ An der Jahrtausendwende: Anmerkungen zur Arbeiterbewegung in Norddeutschland

Die Menschheit rüstete sich zum Empfang des neuen Jahrtausends. Der Zeitgeist rotierte. Millenniumsfieber allenthalben. Flüge zur Datumsgrenze wurden angeboten, damit keine Minute im neuen Zeitraum versäumt werde. Die Feuerwerker fesselten Blitz und Donner in ihre Kreationen, als sollte das neue Jahrtausend sich gleich an die Machtsprache der irdischen Völker gewöhnen.

Die Brauereien produzierten Millenniumsbiere, die Schnapsfabrikanten kreierten Jahrtausend-Spirituosen, die Gastronomie lud zu opulenten Millenniumsfesten, Maßlose ‘Events’ ließen Geldströme kreisen. Die Werbebranche heftete die Zahl des bevorstehenden neuen Jahrtausends auch an die profansten Konsumartikel; die Spaßgesellschaft trug die Nullen als Brillen auf den Nasen.

Die geistlichen Herren, besorgt um der Menschheit Seelenheil, luden ein in ihre Konfessionstempel. Die stillen Christen mochten mit Jochen Klepper zu ihrem Gott beten: „Der du die Zeit in Händen hast, Herr, nimm auch dieses Jahres Last und wandle sie in Segen.“

Gelehrte stritten, chancenlos vor dem entfesselten Taumel, ob das neue Jahrtausend wirklich mit dem Ende des Drei-Neuner-Jahres beginne; erst das Drei-Nullen-Jahr sei das Endjahr des alten Jahrtausends. Sonst habe dieses doch nur neunhundertneunundneunzig und nicht tausend Jahre gedauert. Nichts finge mit einer Null an, sondern mit einer Eins, erst am 1. Januar des Jahres Zweitausendeins beginne das neue Millennium.

Dieser nahende Jahrtausendwechsel führte in der Universität Hamburg eine Gruppe von Wissenschaftlern zusammen, um an der Schwelle zum dritten Jahrtausend regionale Rückschau zu halten. Die Hochschule und das Julius-Leber-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung hatten zu einem ‚Rückblick auf die Geschichte Norddeutschlands von den Anfängen bis heute‘ eingeladen. Der Übergang in ein neues Jahrtausend legte es nahe, verschiedene Eigentümlichkeiten und Besonderheiten der Geschichte Norddeutschlands bis zur Gegenwart hin zu untersuchen, über wichtige Epochen, Ereignisse und langfristige, womöglich bis heute wirkende Entwicklungen zu diskutieren.

Über ‚Norddeutschland und das Reich vom Hochmittelalter bis 1806‘ referierte Dr. Johann Dvorák, Universität Wien; Dr. Wolfgang Beutin, Universität Bremen, ← 11 | 12 → hob den ‚Verlauf des Mittelalters in Norddeutschland‘ aus der Tiefe der Zeit; ‚Das Zeitalter des Konfessionalismus (16./17. Jahrhundert) in Norddeutschland‘ stellte Prof. Dr. Arno Herzig, Universität Hamburg, vor; die Ausbreitung der ‚Aufklärung im Norddeutschen Raum‘ schilderte Prof. Dr. Franklin Kopitsch; aus der speziellen dänischen Sicht sprach Prof. Dr. Thorkild Kjaergaard, Museum Schloss Sønderborg, über ‚Die große Wende in Wirtschaft, Politik und Ideologie im 18. Jahrhundert‘; Prof. Dr. Barbara Vogel, Universität Hamburg, befasste sich mit den ‚Auswirkungen des Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert im deutsch-dänischen Grenzraum‘.

Meine ‚Anmerkungen zur Arbeiterbewegung in Norddeutschland‘ mochte ich nicht nur auf den relativ kurzen Zeitraum vom Beginn organisierter Arbeitskämpfe ab etwa 1840, bedingt durch die immer stärker einsetzende Industrialisierung, bis zur Entwicklung unserer heutigen, breit gefächerten, starken Arbeiterorganisationen, beschränken.

Im Rahmen dieser Rückschau auf das sich vollendende zweite Jahrtausend nach Christus qua Auftrag zum Anwalt der kleinen Leute berufen, sah ich mich verpflichtet, wenigstens in einem kurzen Überblick auch jener frühen Generationen arbeitender Menschen des vergangenen Jahrtausends zu gedenken, deren Lebensleistung im Zuge althergebrachter, obrigkeitlicher Geschichtsschreibung immer eliminiert wurde, indem man sie den Großen: den Landnehmern, den Eroberern, den Herrschenden zu Eigen schrieb. Deshalb stelle ich die ersten Zeilen von Bertold Brechts ‚Fragen eines lesenden Arbeiters‘ meinem Beitrag als Leitmotiv voran:

Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon –
Wer baute es so viele Male auf?

Könnten wir das Gespinst von Besitz, Eroberung, Raub, Versklavung, Unterdrückung, Herrschaft nicht nur durch ein Jahrtausend, sondern durch alle Jahrtausende der Menschheitsgeschichte durchdringen, so stünden wir am Ende des sechsten Schöpfungstages (um im großartigen symbolischen Bild der biblischen Sage zu bleiben), auf dem Urgrund der Erde, stünden im unverteilten Niemandsland, in dem allmählich da und dort Menschen auftauchen. Mit der in Jahrtausenden sich vollziehenden Auflösung dieses paradiesischen Urzustandes, der Aufteilung der Erde in von Machthabern regierte Herrschaftsbereiche, die unter blutigen Auseinandersetzungen verlief und bis heute nicht beendet ist, mussten zwangsläufig schon in einem sehr frühen Stadium zwischen den ← 12 | 13 → Extremen ‚Herr‘ und ‚Sklave‘ die gesellschaftlichen Klassen entstehen. Schon in der biblischen Austreibungsmythe erhält die körperliche Arbeit den Status der Strafe. Wen wundert es, dass den untersten Schichten im sich entwickelnden Standesgefüge die Fron der alltäglichen, Leben erhaltenden Verrichtungen in den Krusten der Erde auferlegt wurde.

In seinem Essay ‚Die Entdeckung der Arbeit in der europäischen Literatur‘ schrieb Thomas Metscher über den Arbeitsbegriff in der griechischen wie auch in der römischen Philosophie:

Körperliche Arbeiten wurden als „opera servilia“ den „opera liberalia“ (Wissenschaft, Kunst, Staatsdienst) gegenüber abgewertet. „Arbeit und Tugend schließen sich gegenseitig aus“, sagt Aristoteles, und Cicero erklärt, daß die „Handwerker“ (die mit den Händen Arbeitenden) „einen niederen Beruf ausüben“. Nach klassischer antiker Auffassung waren allein politische und theoretische Tätigkeiten des Menschen würdig. Wer körperlich – als Sklave oder freier Tagelöhner – arbeitete, konnte sich nicht in den Werken der Tugend üben.1

Wilhelm Liebknecht, einer der großen Vorkämpfer der Arbeiterbewegung in Deutschland, sagte während des ‚Leipziger Hochverratsprozesses wider Bebel, Liebknecht und Hepner‘ vor dem Schwurgericht in Leipzig vom 11. bis zum 26. März 1872 in seiner Rede zur Verteidigung der Sozialdemokratie:

Die Basis aller Kultur ist die Arbeit. Was wir sind und haben, sind und haben wir durch die Arbeit. Der Arbeit verdanken wir alles. Nicht unserer persönlichen Arbeit, […] sondern der allgemeinen gesellschaftlichen Arbeit. Es ist aber auch dem Arbeitsamsten, dem Arbeitskräftigsten bei angestrengtester Arbeit absolut unmöglich, als Kulturmensch zu leben ohne die allgemeine gesellschaftliche Arbeit, denn sie hat erst die Kultur geschaffen und ohne sie wären wir Thiere, nicht Menschen. Hieraus ergiebt sich […] das zur Gemeinschaft drängende Wesen, auf welchem Staat und Gesellschaft beruhen. Diesen kommunistischen Charakter hat die Arbeit stets gehabt: die des antiken Sklaven und des mittelalterlichen Leibeigenen wie des modernen Lohnarbeiters. Aber das Produkt der Arbeit hat ihn nicht gehabt und hat ihn noch jetzt nicht. Der antike Sklave arbeitete für seinen Besitzer; der mittelalterliche Leibeigene für den Grundherrn; und der moderne Lohnarbeiter arbeitet für den Kapitalisten. Hier steckt die Inkonsequenz, hier das Unrecht, dem abzuhelfen das Ziel der Sozialdemokratie ist. Der gesellschaftlich-kommunistische Charakter der Arbeit soll auf das Produkt der Arbeit ausgedehnt werden; das Produkt der Arbeit soll Eigenthum der Arbeiter sein.2 ← 13 | 14 →

Versuchen wir also den knappen, den zeitraffenden Blick auf unseren norddeutschen Raum und seine Menschen, auf die „Kleinen, die Lastträger der Geschichte, die nie in ihr sichtbar wurden“, wie es der Lyriker Hans Jürgen Heise formulierte.

Vor tausend Jahren

An den Küsten schlägt das Meer ungehindert ins Land. Durch die amphibischen Mündungslandschaften der Flüsse: Ems, Weser, Elbe greift die See weit ins Landesinnere.

Im Westen friesischer Stammesbereich, nordostwärts daneben, im Herzogtum Sachsen, die ‚Nordliudi‘, deren Gebiet bis zur Eider reicht, im Osten grenzt es ans slawische Obotritenland. Im Friesischen sind erste größere Siedlungen: Emden, Norden, Jever, entstanden. Auf den höher gelegenen Warften in den Marschen und auf den Sandern am Rande der Marschlandschaften finden sich bäuerliche Ansiedlungen. Die weiten Heideflächen auf der Geest zwischen Marsch und Moor sind noch Ödland. In den Wäldern haben sie da und dort schon gerodet; Klöster, Hütten, um kleine Kirchen geschart, stehen auf den Lichtungen. Am Rand der endlosen Moore nach Süden hin sind Kolonisten am Werk.

Das Land ist dünn besiedelt. Die erste Missionierungsphase ist darüber hin gegangen. Aus der Kirchsiedlung um den Bischofssitz an der Weser auf der Bremer Domdüne ist durch die Gunst der Lage und wegen der Marktprivilegien, vor allem denen von 965, eine ansehnliche Stadt geworden. An der Elbe um das Kastell Hammaburg hat sich ebenfalls eine große Stadtsiedlung gebildet. Die Bischofsburg am Heidenwall ist kein Amtssitz mehr, das Erzbistum ist mit dem Bremer Bistum vereinigt, der Erzbischof residiert schon seit 847 in Bremen. Die verfallene Wallburg Alt Lübeck wird um diese Zeit ausgebessert. Sie liegt im unterworfenen, aber nicht befriedeten Slawengebiet, ebenso wie die 967 schon einmal eroberten Wälle der Oldenburg in Wagrien.

Über dem Beginn des 2. Jahrtausends nach Christus liegt ein Schimmer von Freiheit. Noch wirkt das alte, in den ‚Weistümern‘ festgelegte Volksrecht. Das Bauerntum hält sich im Norden als ein freier Stand. Neben der nicht gefestigten christlichen Lehre lebt noch heidnisch freies Volkstum. Waldland und Wild sind Gemeingut. Keiner muss hungern. Die Städte sind königlich, bischöflich oder herzoglich, die Bürger unterstehen nur einem dieser Feudalherren. Vom aufkommenden Lehnswesen aber erhält die werdende Gesellschaft allmählich ihren Stufenbau zu hierarchisch gegliederten Feudalstaaten und absoluten Untertanenstaaten. Im immer sicherer greifenden Zusammenspiel von Kirche und ← 14 | 15 → Fürstenmacht gerät in der Folgezeit das Volk zunehmend in die Rolle rechtloser Untertanen.

Durch die Jahrhunderte

Von Vicelin, dem ‚Apostel der Wenden‘ ist uns überliefert, dass ihm die Christianisierung „von oben her“, in Zusammenarbeit mit dem Herrscher des zu bekehrenden Volkes, Erfolg versprechender schien, „als etwa von unten her, vom einfachen Mann.“3 Die Obotriten lebten damals in freien Stammesverbänden. Helmold von Bosau schildert in seiner ‚Chronica Slavorum‘ das Gespräch zweier Fürsten vor der Baustelle der Siegesburg auf dem Kalkberg beim heutigen Segeberg (etwa 1134):

So sagte denn ein Fürst der Slawen zu einem anderen: „Siehst du diesen festen hochragenden Bau? Laß dir vorhersagen, das wird ein Joch für das ganze Land! Von hier werden sie vorrücken, erst Plön brechen, dann Oldenburg und Lübeck, endlich die Trave überschreiten und ganz Polabien erobern. Doch auch das Land der Obodriten wird ihren Händen nicht entgehen!“ Jener antwortete: „Wer hat uns dieses Unglück denn bereitet und den König4 auf diesen Berg hingewiesen?“ Darauf der Fürst: „Siehst du den kleinen Kahlkopf (Bischof Vicelin) dort beim König stehen? Der hat dieses ganze Unglück über uns gebracht!“5

Die Namenlosen stehen vor uns: die Handwerker, Bauern, Mägde, Knechte, die Leibeigenen, die das vergangene Jahrtausend durch ihre Arbeit gestaltet haben, die im Mahlgang der Geschichte, geboren, geschunden, gestorben, verschwanden. Sie glaubten den weltlichen Herrschern und der Priesterschaft als den vorgeblichen Deutern des Gotteswillens, zähneknirschend, aber weitgehend widerspruchslos, es sei die göttliche Ordnung der Welt, die sie ohne jedes Recht auf die unterste Stufe gesetzt habe. Wir sehen sie Wälle und Tore errichten gegen die Normanneneinfälle; wir sehen sie Deiche und Siele bauen gegen die See. Ich erinnere an jene älteste bildliche Darstellung im Oldenburger Sachsenspiegel von 1336: Am hohen Dreieck des Deichprofils, hinter dem die See tobt, stehen gestaffelt drei Figuren; die kleinste, von den beiden anderen klerikal und fürstlich überragt, schwingt den Spaten.6 ← 15 | 16 →

Immer wieder entreißt die See den Menschen weite Landstriche. Die überlieferten Namen der großen Stürme rauschen heran: die Clemensflut 1334, die den Jadebusen bis zur Weser durchbrach; die Marcellusflut 1362, ‚de grote Mandranck‘ genannt, die den Dollarteinbruch und die Leybucht riss und in Nordfriesland den blühenden Handelsplatz Rungholt und mindestens 33 weitere Ortschaften verschlang; die Antoniflut von 1511, die das ganze Gebiet des heutigen Jadebusens verschlang. Immer wieder haben die Namenlosen die Deiche errichtet, neu, höher, breiter.

Willkür und Faustrecht der Herrschenden fügten schicksalhaft des Volkes Leben. Ich erinnere an die Stedinger, friesische und sächsische Landleute, die ab 1142 vom Bremer Erzbischof und dem sächsischen Herzog als freie Bauern zur Urbarmachung in die Marschen nordwestlich von Bremen geholt wurden und 92 Jahre später, in einem vom Papst Gregor IX. ausgerufenen Kreuzzug, vom Bremer Erzbischof Gerhard II. und dem Grafen von Oldenburg ihrer Ländereien beraubt und vernichtend geschlagen wurden. Graf und Erzbischof teilten sich die Beute.

Lange hielten sich die friesischen Bauern gegen die anstürmende See und die Grafen- und Bischofsmacht, aber schließlich erlagen sie den Schwertern. Die Butjadinger nenne ich, die 1514 dem vereinigten Ritter- und Landsknechtsheer des Oldenburger Grafen, der Herzöge von Braunschweig, von Kalenberg und von Lüneburg, der Bischöfe von Minden und von Osnabrück unterlagen und Land und Freiheit verloren.7

Ein ähnliches Schicksal erlitt die freie Dithmarscher Bauernrepublik, die zunächst 1500 in der Schlacht bei Hemmingstedt den fürstlichen Landräubern eine Niederlage bereitet hatte. 1559 aber rückte die schleswig-holsteinische Ritterschaft mit ihren gekauften Söldnerbanden ins Land. In der Kesselschlacht bei Heide wurde das Bauernheer geschlagen. Der deutsche Schriftsteller Adam Olearius8 berichtete über die Kapitulationsverhandlungen:

Man traktierte die Frage: ob es ratsamer, daß man die Dithmarscher ganz ausrotte oder ob man sie, wenn sie sich ergäben, zu Gnaden annehmen sollte. Man ließ Herzog Adolf9 seine Meinung zuerst sagen. Der sagte: „Wenn man alle Dithmarscher wolle ausrotten, würden die Fürsten in vielen Jahren das Land nicht gebrauchen ← 16 | 17 → können. […] Man solle sie, wenn sie zu Kreuze kröchen, zu Gnaden annehmen und ihnen […] Gesetze vorschreiben.“10

Die Dithmarscher Bauern mussten alle Dokumente, die ihren freien Status belegten, kaiserliche und päpstliche Urkunden, herausgeben. So endete die verbriefte Dithmarscher Freiheit.

Eine friedliche Möglichkeit, fruchtbares Land zu gewinnen, empfahl Prinzenerzieher Graf Adam Gottlob Moltke 1746 seinem früheren Zögling, dem dänischen König Friedrich V.:

Ein Landesherr ist in meinen Augen weder groß noch weise zu nennen, wenn er nur mit kriegerischen Gedanken umgeht und seinen Namen durch vieles Blutvergießen, nicht aber durch Gnade, Güte und unermüdete Sorgfalt das Volk, welches Gott ihm anvertraut hat, glücklich zu machen […] trachtet.11

Er wies den König hin auf die fast menschenleeren Heide- und Moorgebiete im Schleswiger Land. Dort ließe sich „durch innere Kolonisation“ eine Provinz und damit Macht gewinnen. Der Landesherr gewann aus den Händen seiner mit Spaten und Karren schuftenden Untertanen fruchtbare Ländereien zwischen Schleswig und Husum, die Königsau. Vom Glück des anvertrauten Volkes ist nichts überliefert.

Details

Seiten
400
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653041477
ISBN (ePUB)
9783653985139
ISBN (MOBI)
9783653985122
ISBN (Hardcover)
9783631649954
DOI
10.3726/978-3-653-04147-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (März)
Schlagworte
Arbeiterbewegung Revolution 1848 Würde der Arbeit Bekennende Kirche KZ Flossenbürg Bonhoeffer, Dietrich
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 400 S.

Biographische Angaben

Friedrich Mülder (Autor:in)

Friedrich Mülder studierte Architektur und Bildende Künste. Seit 1960 ist er als Architekt, Diplom-Designer und Schriftsteller tätig. Er verfasste Erzählungen, Gedichte, Biographien, Essays, Vorträge und war Juror bei den Berliner Festspielen. Außerdem war er Mitbegründer und ist Ehrenvorsitzender des Literaturhauses Schleswig-Holstein und Träger des Bundesverdienstkreuzes.

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Titel: Die Würde der Arbeit zwischen Macht, Dichtung und Glauben
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