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Spiegelungen von Strafrecht und Gesellschaft

Eine systemtheoretische Kritik der Sicherungsverwahrung

von Charlotte Schultz (Autor:in)
©2014 Dissertation XXVI, 506 Seiten

Zusammenfassung

Die Arbeit verfolgt in den zeitabhängigen Regelungen der Sicherungsverwahrung und den sie begleitenden Rechtfertigungszusammenhängen des Schuldstrafrechts und des Präventionsstrafrechts die Spiegelungen von Strafrecht und Gesellschaft. Daraus erwächst die Einsicht in den Realwiderspruch des Rechts: Weder repräsentiert das Recht ein gesellschaftliches Außen – frei von gesellschaftlichen Machtverhältnissen – noch findet sich in der Gesellschaft eine tragfähige Vorstellung von dem, was rechtens ist. Dieser Realwiderspruch des Rechts wird mit kritischer Systemtheorie als Modell der Gesellschaft und des Rechts bearbeitet und liefert einen Bewertungsmaßstab, der die Sicherungsverwahrung als ungerecht ausweist. Zugleich werden auf dieser Basis Eckpunkte für ein Gegenmodell formuliert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsübersicht
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Einleitung
  • 1. Teil: Die Sicherungsverwahrung – Eine Analyse ihrer (Nicht-)Rechtfertigungen im zeitlichen Verlauf
  • 1. Kapitel: Die Sicherungsverwahrung zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung – Ein national-staatliches Rechtfertigungsmuster
  • A. Zum gesetzgebungsgeschichtlichen Anfang: Die Maßlosigkeit der Nationalsozialisten
  • B. Nach 1945: Entnazifizierung durch den Allierten Kontrollrat oder was davon übrig blieb
  • C. Zu den Reformen des Strafrechts von 1969: Restriktion einer prinzipiell sinnvollen Maßregel?
  • I. Die Auseinandersetzung des Gesetzgebers mit der Sicherungsverwahrung und ihrer zeitlichen Geltung
  • 1. Die Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung
  • 2. Die Auseinandersetzung um die zeitliche Geltung
  • II. Das prinzipielle verfassungsgerichtliche Einverständnis mit den Regelungen zur Sicherungsverwahrung
  • 1. § 67c Abs. 1 StGB (a.F.) als rechtliche Grundlage für die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung
  • 2. Zur Überweisungsmöglichkeit eines in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten in den Vollzug der Sicherungsverwahrung
  • 3. Zur Verfassungsmäßigkeit der Sicherungsverwahrung
  • III. Zwischenfazit
  • D. Ab 1998: Beispiellose Entgrenzung durch den Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht
  • I. „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ vom 26. Januar 1998
  • II. Unterbringungsgesetze der Bundesländer als nachträgliche Sicherungsverwahrung
  • III. „Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung“ vom 21. August 2002
  • IV. „Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften“ vom 27. Dezember 2003
  • V. Die Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2004
  • 1. Rückwirkende Entfristung der Sicherungsverwahrung
  • a) Art. 1 Abs. 1 GG: Menschenwürde
  • b) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG: Freiheitsgrundrecht
  • aa) Eignung und Erforderlichkeit
  • bb) Abwägung/Verhältnismäßigkeit i.e.S.
  • c) Art. 103 Abs. 2 GG: Rückwirkungsverbot
  • d) Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m Art. 20 Abs. 3 GG: Rechtsstaatliches Vertrauensschutzgebot
  • e) Bestimmtheitsgebot
  • f) Zwischenfazit
  • 2. Straftäterunterbringungsgesetze der Länder
  • a) „Strafrecht“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG
  • b) Zur Erklärung bloßer Unvereinbarkeit: Eine Aufforderung an den Gesetzgeber zur Schließung aufgezeigter Schutzlücken?
  • c) Abweichende Meinung
  • d) Zwischenfazit
  • VI. „Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung“ vom 23. Juli 2004
  • VII. „Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung“ vom 13. April 2007
  • VIII. „Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht“ vom 8. Juli 2008
  • IX. Der Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts zu § 66b Abs. 3 StGB (a.F.) aus dem Jahr 2009
  • E. Fazit: Die Formalisierungsaufgabe der Verhältnismäßigkeit auf dem Rückzug
  • 2. Kapitel: Die (Gegen-)Perspektive des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
  • A. Rückwirkende Entfristung der Sicherungsverwahrung
  • I. Art. 5 EMRK: Das Recht auf Freiheit (und Sicherheit)
  • II. Art. 7 EMRK: Keine Strafe ohne Gesetz
  • III. Zwischenfazit: Perspektivenwechsel
  • B. Straftäterunterbringungsgesetze der Länder und deren Nachfolgevorschrift
  • I. Art. 5 EMRK: Das Recht auf Freiheit (und Sicherheit)
  • II. Art. 3 EMRK: Verbot der Folter
  • III. Zwischenfazit: Die Gefahr der Instrumentalisierung des Begriffs der psychischen Störung
  • C. § 66b Abs. 3 StGB (a.F.)
  • D. Fazit: Die Gefährlichkeit als unzureichende Rechtfertigung für unbestimmten Freiheitsentzug
  • 3. Kapitel: Die dogmatischen Einzelheiten der Sicherungsverwahrung – Zugleich eine Dokumentation der Auswirkungen der EGMR-Rechtsprechung im Recht der Sicherungsverwahrung
  • A. Vorbemerkungen: Das Normenchaos und die Zäsur durch die Rechtsprechung des EGMR
  • B. § 66 StGB: Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
  • I. Regelung vor der Gesetzesänderung vom 22. Dezember 2010
  • 1. Formelle Voraussetzungen
  • a) § 66 Abs. 1 StGB a.F.
  • b) § 66 Abs. 2 StGB a.F.
  • c) § 66 Abs. 3 StGB a.F.
  • aa) § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB a.F.
  • bb) § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB a.F.
  • d) § 66 Abs. 4 Satz 3 und 4 StGB a.F.: Verjährungsregelung und Verurteilungen im Ausland
  • 2. Materielle Voraussetzungen (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 a.F.) – Zugleich ein Überblick über deren Kritikpunkte
  • a) Hang …… – oder: Der „kaschierte Schulderhöhungs-Mechanismus“
  • aa) Dogmatische Entfaltung des Rechtsbegriffs
  • bb) Kritik
  • b) … zu erheblichen Straftaten
  • c) Gefährlichkeit für die Allgemeinheit – oder: Die Unzulänglichkeit von Kriminalprognosen
  • aa) Dogmatische Entfaltung des Rechtsbegriffs
  • bb) Kritik
  • d) Fazit: Die Unsicherheit der materiellen Voraussetzungen
  • II. Änderungen durch das Gesetz vom 22. Dezember 2010
  • 1. § 66 StGB n.F.
  • a) Formelle Voraussetzungen
  • b) Materielle Voraussetzungen
  • 2. Therapieunterbringungsgesetz für sogenannte „Vertrauensschutzfälle“
  • III. Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Weitergeltungsanordnung bis 31. Mai 2013
  • C. § 66a StGB: Vorbehalt der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
  • I. Regelung vor der Gesetzesänderung vom 22. Dezember 2010
  • 1. Anordnung des Vorbehalts gemäß § 66a Abs. 1 StGB a.F.
  • 2. Entscheidung über die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung gemäß § 66a Abs. 2 StGB a.F.
  • II. Änderungen durch das Gesetz vom 22. Dezember 2010
  • 1. Anordnung des Vorbehalts
  • a) § 66a Abs. 1 StGB n.F.
  • b) § 66a Abs. 2 StGB n.F.
  • 2. Entscheidung über die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung gemäß § 66a Abs. 3 StGB n.F.
  • III. Zeitliche Geltung und die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
  • D. § 66b StGB: Nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
  • I. Regelung vor der Gesetzesänderung vom 22. Dezember 2010
  • 1. Anordnungsmöglichkeit nach Abs. 1 und 2
  • a) Formelle Voraussetzungen
  • aa) § 66b Abs. 1 StGB a.F.
  • bb) § 66b Abs. 2 StGB a.F.
  • b) Nach einer Verurteilung … vor Ende des Vollzugs erkennbar gewordene Tatsache
  • aa) Regelfall gemäß § 66b Abs. 1 Satz 1 StGB a.F.
  • bb) Altfallregelung gemäß § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB a.F.
  • c) Materielle Voraussetzungen
  • 2. Anordnungsmöglichkeit nach Abs. 3
  • a) Formelle Voraussetzungen
  • b) Materielle Voraussetzungen
  • II. Änderungen durch das Gesetz vom 22. Dezember 2010
  • III. Zeitliche Geltung und die Vorgaben der Bundesverfassungsgerichts
  • E. Weitere maßregelrechtliche Bestimmungen
  • F. Fazit
  • I. Die Dogmatik als Spiegel der menschenrechtlichen Bedenken
  • II. (Vorläufige) Bewertung der Neuregelung vom 22. Dezember 2010
  • 4. Kapitel: Die Reaktion des Bundesverfassungsgerichts und deren Umsetzung durch den Gesetzgeber
  • A. Die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung vom 4. Mai 2011: Zwischen Bewahrung und Revolution
  • I. Zur Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung
  • II. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG
  • III. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG
  • IV. Zwischenfazit
  • B. Die Entscheidung zur vorbehaltenen Sicherungsverwahrung
  • C. Die Änderungen durch das Gesetz zur Umsetzung des Abstandsgebotes
  • D. Die Entscheidung zu § 66b Abs. 3 StGB
  • E. Die Entscheidung zum Therapieunterbringungsgesetz
  • F. Fazit: Zur Macht des Abstandsgebots
  • Fazit zum 1. Teil: Rechtstatsächliche Abschlüsse und theoretische Anschlüsse
  • 2. Teil: Schuldstrafrecht und Präventionsstrafrecht – Rechtfertigungs-zusammenhänge und -brüche im gesellschaftlichen Wandel
  • 1. Kapitel: Das Schuldstrafrecht – Zur Autonomie im (liberalen) Rechtsstaat
  • A. Der Rechtsstaat: Rechtsidee, Staatsidee und Herrschaftsform
  • I. Die Rechtsidee
  • 1. Der (Rechts-)Begriff der Freiheit
  • 2. Die Zwangsbefugnis als Komplementär: Zum Staat als vernunftnotwendige Institution
  • II. Die Herrschaftsform: Gewaltmonopol, Gewaltenteilung und Volkssouveränität
  • B. Die Strafrechtsidee: Zur Funktion und den Mitteln des Strafrechts
  • I. Die Funktion: Freiheitssicherung
  • II. Die Mittel der Freiheitssicherung: Strafgerechtigkeit und Schuld
  • 1. Die Strafgerechtigkeit: Talionsprinzip
  • 2. Die Schuld als notwendige Voraussetzung der Wiedervergeltung
  • III. Bewertung der Sicherungsverwahrung im Rahmen des Schuldstrafrechts
  • C. Rechtfertigungsbrüche
  • I. Zur Stabilitätsbedingung im Politischen: Das vorausgesetzte autonome Subjekt
  • II. Zur Stabilitätsbedingung im Privaten: Das unberücksichtigte Allgemeinwohl
  • 1. Die formale Rationalität des Rechts und das subjektive Recht
  • 2. Die liberale Theorie als Ersatz für Gerechtigkeit im Recht
  • 3. Gesellschaftliche Konsequenzen und Rückwirkungen auf das Recht
  • III. Konsequenzen für das Schuldstrafrecht und die Legitimation der Sicherungsverwahrung
  • D. Verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte
  • E. Fazit
  • 2. Kapitel: Das Präventionsstrafrecht – Interventionen im demokratischen Rechts- und Sozialstaat
  • A. Die Entwicklung des sozialen Interventionsstaats als Antwort auf die Probleme des liberalen Rechtsstaats
  • I. Anknüpfungspunkte für den Umbau zum sozialen Interventionsstaat
  • II. Der soziale Interventionsstaat
  • III. Die Politisierung des Rechts: Positivierung und Demokratisierung
  • 1. Zur Kontingenz des positiven Rechts
  • 2. Zur Demokratisierung als Ersatz für die Vernunft
  • B. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als konkrete Rechtfertigung der einzelnen Steuerungsgesetze
  • I. Die materiale Rationalität des wohlfahrtsstaatlichen Rechts
  • II. Die strafrechtliche Materialisierung: Entwicklung des Präventionsparadigmas
  • 1. Zur strafrechtlichen Eigenheit im Wandel
  • 2. Anknüpfungspunkte für den Wandel des Strafrechts
  • 3. Der moderne präventive Steuerungsanspruch
  • a) Prävention und Risiko
  • b) Zur Systemebene der Prävention – die Tatbestandsseite
  • c) Zur Individualebene der Prävention – die Rechtsfolgenseite
  • III. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als (verfassungsrechtlicher) Maßstab des materialisierten Rechts
  • 1. (Verfassungs-)rechtliche Ableitung der Verhältnismäßigkeit
  • 2. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Verfassungsrecht: Das Verhältnis von Demokratie und Grundrechten
  • 3. Komponenten der Verhältnismäßigkeit
  • a) Geeignetheit
  • b) Erforderlichkeit
  • c) Verhältnismäßigkeit i.e.S. als Abwägung
  • IV. Bewertung der Sicherungsverwahrung im Rahmen des Präventionsstrafrechts
  • C. Rechtfertigungsbrüche
  • I. Zur Kritik der Abwägung
  • 1. Zur Einheit der Verfassung
  • 2. Zur Verschränkung von zweckrationalen und wertrationalen Argumenten: Recht als sachbestimmtes Ordnungsmodell
  • 3. Zum Status empirischer Argumente und zum Verhältnis von Politik und Recht
  • II. Zum vorausgesetzten Regulationserfolg
  • 1. Rechtsgeltung und Steuerungsversagen
  • 2. Die (Außen-)Perspektive einer kritischen Kriminalwissenschaft: punitive turn und Sicherheitsgesellschaft
  • a) Zum Regulationserfolg auf der Systemebene der Prävention
  • b) Zum Regulationserfolg auf der Individualebene der Prävention
  • III. v. Liszt und der Nationalsozialismus
  • 1. Spezialpräventive Ausrichtung des Strafrechts durch v. Liszt
  • a) Das Programm der Schutzstrafe und die Kategorisierung von Straftätern
  • b) Erkenntnistheoretische und (rechts-)philosophische Implikationen der v. Liszt’schen Lehre
  • aa) Antispekulativ und positivistisch
  • bb) Seine Empiriebegriffe und das Verhältnis von Sein und Sollen
  • (1) Zum entwicklungsgeschichtlichen Empiriebegriff
  • (2) Zum naturwissenschaftlichen Empiriebegriff: Bestrafungstrieb und Determinismus
  • cc) Der Status des Empirischen bei v. Liszt
  • dd) Staatsverständnis
  • ee) Vorrangverhältnis zwischen Recht und Politik
  • c) Fazit: Machtpolitik der Gefährlichkeit
  • 2. Zur nationalsozialistischen Vereinnahmung der Maßregeln
  • a) Die Maßregeln zwischen unbedenklicher Kontinuität, nationalsozialistischem Missbrauch und bedenklicher Kontinuität
  • aa) Ausgangspunkt der strafrechtswissenschaftlichen Kontroverse: Die Entwicklungslinien der Maßregeln
  • bb) Kontinuität und Diskontinuität: Zum Missbrauch der Maßregeln durch den Nationalsozialismus
  • cc) Zur bedenklichen Kontinuität der strafrechtlichen Materialisierung im Nationalsozialismus
  • b) Entwicklung der spezialpräventiven Ansätze im Nationalsozialismus: v. Liszts Gefährlichkeitsdoktrin und die normative Tätertypologie
  • 3. Fazit
  • IV. Konsequenzen für das Präventionsstrafrecht und die Legitimation der Sicherungsverwahrung
  • Fazit zum 2. Teil: Zum Dilemma strafrechtlicher Rechtfertigungszusammenhänge
  • 3. Teil: Die Sicherungsverwahrung im Spiegel kritischer Systemtheorie
  • 1. Kapitel: Vorüberlegungen zur Verortung kritischer Systemtheorie im Recht
  • A. Zur Relevanz von Gesellschaftstheorie im Recht
  • I. Das Problem der Sachbestimmung des Rechts und der Konstruktion von Wirklichkeit
  • II. Gesellschaftstheorie als Vermittler zwischen Wissen und Nicht-Wissen im Recht
  • III. Normativer Ort für die Entfaltung von Gesellschaftstheorie
  • IV. Konsequenzen für die Bewertung der Sicherungsverwahrung und ihrer Entwicklung
  • B. Zur Theoriesynthese „kritische Systemtheorie“
  • 2. Kapitel: Die Parameter einer kritischen Systemtheorie für das (Straf-)Recht
  • A. Zu den (erkenntnistheoretischen) Grundlagen der Systemtheorie und deren Bedeutung für einen systemischen Reflexionsbegriff
  • I. Zur Differenz von System/Umwelt
  • II. Zur Paradoxie und der Politik der Entparadoxierung
  • III. Konsequenzen für die Konstruktion von Wirklichkeit
  • 1. ‚Wirkliche‘ Umwelt als systeminterner imaginärer Raum
  • 2. Sinn als systemübergreifendes Medium
  • 3. Zur Gesellschafts-Rationalität als ökologischer Rationalität und deren Mittel struktureller Kopplungen
  • a) Zur ökologischen Rationalität
  • b) Zur strukturellen Kopplung
  • IV. Kommunikation: Der Mensch und das soziale System
  • V. Die Wissenschaft als Beobachter
  • B. Zur Gerechtigkeit im Rechtssystem
  • I. Recht als soziales System
  • II. Gerechtigkeit im Rechtssystem
  • 1. Gerechtigkeit als Kontingenz- und Selbsttranszendenzformel
  • 2. Zur Umsetzung der Gerechtigkeit in rechtliche Argumentation: Die Unterscheidung Gerechtigkeit/Zweitcodierung
  • III. Rückschlüsse für die Bearbeitung von Grundrechtskonflikten im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes: Recht-Fertigung von Kollisionsregeln
  • C. Fazit
  • 3. Kapitel: Konsequenzen für die Recht-Fertigung der Sicherungsverwahrung
  • A. Systemtheoretische Interpretation der Abwägungsinhalte bei der Sicherungsverwahrung
  • I. Zum ‚gefährlichen‘ Menschen: Indeterminismus vs. Determinismus
  • II. Die Funktionalität der Schuld, der Schuldunfähigkeit und der Gefährlichkeit im Rechtssystem
  • 1. Zur Funktion des Rechtssystems
  • 2. Zur Erwartungsstabilisierung durch Schuld und Schuldunfähigkeit als Zwei-Seiten-Form
  • a) Schuld als ‚innere‘ Tatsache
  • b) Schuldunfähigkeit als Scheitern der Enttäuschungserklärung
  • 3. Zur Funktionalität der Gefährlichkeit
  • III. Zur Gerechtigkeit der Schuld, der Schuldunfähigkeit und der Gefährlichkeit
  • 1. Zur Gerechtigkeit der Form Person/Nicht-Person
  • 2. Zur (Un-)Gerechtigkeit der Form Schuld/Gefährlichkeit
  • a) Zur Frage der radikalen Exklusion von Körpern durch Gefährlichkeit
  • b) Zu den ökologisch-rationalen Grenzverläufen des politischen Systems, des Rechtssystems und des Gesundheitssystems unter dem Begriff der Gefährlichkeit
  • c) Zur Ungerechtigkeit der Sicherungsverwahrung
  • d) Zur Möglichkeit gerechter Maßregeln: Ein kritisch-systemtheoretischer Gegenvorschlag zur Sicherungsverwahrung
  • IV. Zur Formulierung einer Kollisionsregel
  • B. Eine systemtheoretische Kritik der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Sicherungsverwahrung
  • I. Zu den Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen im Zeitraum 2004 bis 2009
  • II. Zu den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
  • III. Zu den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nach der Intervention des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
  • IV. Fazit: Zur Bedeutung eines transnationalen Netzwerks von Verfassungsgerichten
  • Fazit zum 3. Teil: Kritische Systemtheorie und Strafrecht
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung

Ausgangspunkt der Arbeit ist die Sicherungsverwahrung. Die Sicherungsverwahrung als Teil der „Maßregeln der Besserung und Sicherung“ ist seit ihrem Auftauchen in der rechtspolitischen wie rechtswissenschaftlichen Diskussion höchst umstritten.1 Die Einführung der „Maßregeln der Sicherung und Besserung“ im Nationalsozialismus setzt insbesondere die Sicherungsverwahrung dem Verdacht aus, „ausschließlich nationalsozialistische Willkürmaßregel“ zu sein,2 wobei sie als Teil des Maßregelkonzepts ihre Wurzeln in der Strafrechtsreformbewegung hat, die durch Franz v. Liszt mit seinem „Marburger Programm“ im Jahr 1882 eingeleitet wurde.3 Nach dem demokratischen und rechtsstaatlichen Neustart durch die Verabschiedung des Grundgesetzes hatte das Bundesverfassungsgericht zur Sicherungsverwahrung schon 1953 in einem Beschluss Stellung genommen. Das Bundesverfassungsgericht äußerte dort weder grundsätzliche Bedenken gegen die Sicherungsverwahrung noch gegen die Angleichung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung mit dem des Zuchthauses.4 Spätestens durch die Strafrechtsreformgesetzgebung aus dem Jahr 1969 sind die Maßregeln in den demokratischen Verfassungsstaat überführt worden. Nachdem die Maßregeln der Besserung und Sicherung 30 Jahre lang unverändert blieben, setzte 1998 eine Entwicklung ein, die die Sicherungsverwahrung – trotz der seit den 1980er Jahren kontinuierlich rückläufigen Zahlen – zum Kristallisationspunkt der gesetzgeberischen Aktivitäten zur Verbrechensbekämpfung machte. Seit dem wurden die Anordnungsvoraussetzungen der Sicherungsverwahrung etliche Male erweitert und das Bundesverfassungsgericht billigte in zwei Grundsatzentscheidungen über die rückwirkende Entfristung der Sicherungsverwahrung und deren ← 1 | 2 → landesrechtlich erweiterten Pendant einer „nachträglichen Straftäterunterbringung“ die Ausweitungen. Lediglich die Kompetenz für eine solche nachträgliche Unterbringung sah es beim Bundes- und nicht beim Landesgesetzgeber.

Erst durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wurde die Harmonie zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht gestört. Am 17. Dezember 2009 erklärte der EGMR die rückwirkende Entfristung der Sicherungsverwahrung für menschenrechtswidrig.5 Die nachträgliche Straftäterunterbringung nach Landesrecht bzw. die nachträgliche Sicherungsverwahrung nach Bundesrecht einschließlich der Sonderregelung des § 66b Abs. 3 StGB a.F. teilten vor dem EGMR das gleiche Schicksal.6 Nach einer weiteren Gesetzesänderung durch das „Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen“ vom 22. Dezember 2010,7 das als gesetzgeberische Antwort auf die EGMR-Entscheidung vom 17. Dezember 2009 gelten kann und tendenziell eher wieder auf Restriktion setzte, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 die Regelungen zur Sicherungsverwahrung in Gänze für verfassungswidrig erklärt und die Rechtsprechung in Folgeentscheidungen gefestigt.8 Ohne den Impuls von einem nationalstaatlichen Außen, durch den EGMR, wäre diese Rechtsprechungsänderung nicht möglich gewesen. Der Gesetzgeber hat inzwischen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts mit dem „Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung“ umgesetzt.9

Der Überblick über die Entwicklungsgeschichte der Sicherungsverwahrung weist nun ein statisches und ein dynamisches Element aus: Die Sicherungsverwahrung ist und war immer umstritten. Darin schwelt der (mittlerweile) ‚zeitlose‘ strafrechtswissenschaftliche Streit um die Zweispurigkeit des Sanktionensystems, der als Fortsetzung des so genannten ‚Schulenstreits‘10 die Grundlagen der Rechtfertigung von Strafe (und Strafrecht) berührt und der die Zweispurigkeit als ← 2 | 3 → Kompromisslösung ausweist.11 Im Schulenstreit stehen sich idealtypisierend die Positionen des Präventionsstrafrechts und des Schuldstrafrechts gegenüber. Dieser Streit wurde im Kontext des sozialen Interventionsstaates durch den Vormarsch der Rechtsgutslehre im Bereich der Strafrechtstheorie12 und des Resozialisierungsgedanken im Bereich des Strafvollzugs im Prinzip zugunsten des Präventionsstrafrechts entschieden. Nach Roxin ist der Unterschied von Strafe und Maßregel auf eine bei der Strafe geltende gesetzliche Vermutung zusammengeschrumpft, dass die ‚Schuldstrafe‘ die in der Tat zu Tage getretene Gefährlichkeit beseitigt hat bzw. beseitigen wird.13 Die Sicherungsverwahrung im Speziellen und die Maßregeln der Besserung und Sicherung im Allgemeinen verdanken sich demnach grundsätzlich dem Siegeszug des Präventionsstrafrechts. Das zweispurige Sanktionensystem und der Streit um die Sicherungsverwahrung zeigt jedoch eine Affinität des Strafrechts zum Schuldgedanken, der weiterhin die Rechtfertigungsstrukturen nachhaltig bestimmt. In der Konfrontation des Bundesverfassungsgerichts mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wird deutlich, dass die Zweispurigkeit des Strafrechts mit ihren unterschiedlichen Rechtfertigungsstrukturen für die Rechtsfolgen der Strafe und der Maßregel auf der Seite der Maßregeln auch als Instrument willkürlicher Befreiung von der strafrechtlichen Errungenschaft einer hohen Formalisierung fungieren kann. Dieser hohe Formalisierungsgrad findet gerade seine Wurzeln in der Idee eines vergangenheitsorientierten Schuldstrafrechts. Daher wird eine Nichterstreckung des Rückwirkungsverbots als „rein begriffliche, formalistische Argumentation“ kritisiert und gefordert, dass sich das Rückwirkungsverbot auf „alle an eine mit Strafe bedrohte Handlung anknüpfende[n], in ihrer tatsächlichen Wirkung einer Strafe gleichkommende[n] Rechtsfolgen [beziehen muss], die im Rahmen der Strafrechtspflege angeordnet worden sind“.14 Die Konfrontation des Bundesverfassungsgerichts mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte um die Frage der Menschenrechtswidrigkeit der Sicherungsverwahrung verweist dann auf das dynamische Element des Streits um die Sicherungsverwahrung. Dieses steckt im Prozess der Ausweitung und Restriktion der Sicherungsverwahrung zwischen Gesetzgebung und ← 3 | 4 → Rechtsprechung, in dem der strafrechtswissenschaftliche Streit vor dem Hintergrund der Bedingungen und Grenzen von Menschenrechten in der Gesellschaft neu verhandelt und entschieden wird. Die Bedingungen und Grenzen von Menschenrechten finden sich somit in den Spiegelungen von Strafrecht und Gesellschaft, die durch kritisch-systemtheoretische Verarbeitung den zeitlosen Streit um die Rechtfertigungszusammenhänge des Strafrechts verschieben.

Im ersten Teil wird zunächst das dynamische Element des Streits um die Sicherungsverwahrung durch die Analyse der Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsdynamik aufgearbeitet. Der strafrechtswissenschaftliche Streit um das Maßregelsystem und die Zweispurigkeit im Allgemeinen sowie die Sicherungsverwahrung im Speziellen wird dadurch in der Wirklichkeit des Rechtssystems verankert und als Realkonflikt rekonstruiert. Indem die Dynamik zugleich in den dogmatischen Einzelheiten der Sicherungsverwahrung verfolgt wird, eröffnet sich eine dogmatisch-konkrete Perspektive auf die Sicherungsverwahrung, mit der zugleich die Forderung an die abstrakte, präventionsstrafrechtliche Rechtfertigung verbunden ist, sich in der konkreten Umsetzung in Gesetzestechnik zu bewähren. An dieser Stelle erfolgt daher auch ein Überblick über die Kritik an den formellen und insbesondere materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung, die bereits in den einzelnen Gesetzgebungsakten anhand der im Verfahren ausgetauschten Argumente thematisiert wird.

Im zweiten Teil werden die abstrakten konfligierenden Rechtfertigungsmuster des Schuldstrafrechts und des Präventionsstrafrechts in ihren Grundlinien dargestellt, die in den Strafrechtswissenschaften zumeist als statische Rechtfertigungszusammenhänge gegeneinander in Stellung gebracht werden, um die Frage nach der Rechtfertigung der Sicherungsverwahrung und anderer Strafrechtsmaterien beantworten zu können.15 Indem auch sie in die Zeit geworfen und anhand des gesellschaftlichen Wandel von Rechts- und Staatsverständnissen analysiert werden, wird die Kontingenz beider Rechtfertigungsentwürfe sichtbar. Hier werden die Rechtfertigungsbrüche der Konzeptionen herausgearbeitet, die die Suche nach einem Ersatz für die an der Gesellschaft gebrochenen Rechtfertigungszusammenhänge anstoßen und begleiten.

Im dritten Teil wird die kritische Systemtheorie als Gesellschaftstheorie zurate gezogen, um das Grenzverhältnis von (Straf-)Recht, Gesellschaft und ← 4 | 5 → Mensch auszuleuchten und für das Strafrecht mithilfe des normativ gewendeten, systemtheoretischen Begriffs der Gerechtigkeit neu zu bestimmen.

Ziel der Arbeit ist es, den strafrechtswissenschaftlichen Streit über die Sicherungsverwahrung und die Zweispurigkeit durch Hinzunahme einer gesellschaftstheoretischen Dimension entscheidbar zu machen, die die Perspektive für ein anderes Rechtsverständnis öffnet. Dieses neue Rechtsverständnis entsteht aus der Reflexion auf die Rechtfertigungsbrüche des Schuld- und des Präventionsstrafrechts. In seinen Grundzügen kann es als sachbestimmtes Ordnungsmodell bezeichnet werden. Aus der kritisch-systemtheoretische Einfassung dieses neuen Rechtsverständnisses lassen sich normative Aussagen über die Entscheidung von Rechtskonflikten ableiten. Auf dieser Grundlage werden im dritten Teil die Grundzüge eines kritisch-systemtheoretischen Gegenmodells zur Sicherungsverwahrung formuliert, die die Zweispurigkeit des Rechtsfolgensystems in einem neuen Licht erscheinen lassen. Dieses Gegenmodell ist zwangsläufig selbst abhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen und muss sich in der Gesellschaft bewähren. Die Fixierung eines Gegenmodells ist demnach dem Umstand geschuldet, dass Kritik ohne Gegenvorschlag nicht zählt.16 Die Gerechtigkeit findet jedoch letztlich erst in der Kollision der Rechtsprechungsperspektiven von Bundesverfassungsgericht und EGMR ihr Verwirklichungsmoment, der in den Routinen der Gesetzgebungs- und Rechtsanwendungspraxis immer wieder der Gefahr ausgesetzt ist, in Vergessenheit zu geraten.

1 Vgl. zum Streitstand vor dem Nationalsozialismus Kohlrausch, Sicherungshaft. Eine Besinnung auf den Streitstand, ZStW 44 (1924), S. 21 ff.; vgl. zum heutigen Streitstand Kinzig, Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand, 1996, S. 2 m.w.N.; Mushoff, Strafe – Maßregel – Sicherungsverwahrung, 2008, S. 3 ff.; s. auch Alex, Nachträgliche Sicherungsverwahrung – ein rechtsstaatliches und kriminalpolitisches Debakel, 2010.

2 Krebs, Zur Durchführung der Maßregel Sicherungsverwahrung nach den Bestimmungen des Entwurfs eines Strafvollzugsgesetzes 1973, in: Ehrhardt/Göppinger (Hg.), Straf- und Maßregelvollzug, 1974, S. 122.

3 v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht [1883], 3. Aufl., 1968.

4 BVerfGE 2, 118 ff.

5 EGMR-Entscheidung v. 17. Dezember 2009, Individualbeschwerde Nr. 19359/04.

6 EGMR-Entscheidung v. 13. Januar 2011, Individualbeschwerde Nr. 6587/04.

7 BGBl. 2010 I, S. 2300 ff.

8 BVerfGE v. 4. Mai 2011, 2 BvR 2365/09 u.a., vgl. zu dieser Entscheidung und den Folgeentscheidungen: 1. Teil, 4. Kapitel, A., B., D. und E.

9 BT-Drs. 17/9874; BGBl. 2012 I, 2425 ff.

10 Vgl. zu den Positionen im Schulenstreit Naucke, „Schulenstreit“?, in: Herzog/Neumann (Hg.), Festschrift für Winfried Hassemer, 2010, S. 559, der den ‚wirklichen‘ strafrechtswissenschaftlichen Streit zwischen reinem und politischem Strafrecht verortet und im Schulenstreit die grundsätzliche Haltung eines reinen Strafrechts gerade auch bei den ‚Klassikern‘ vermisst.

11 Vgl. Naucke, Strafrecht, 10. Aufl., 2002, S. 106.

12 Zum Unterschied von Straftheorie und Strafrechtstheorie vgl. Calliess, Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, 1974, S. 27 ff.; Bae, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht des StGB, 1985, S. 73 f.

13 Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 4. Aufl., 2006, S. 97.

14 Ullenbruch, Verschärfung der Sicherungsverwahrung auch rückwirkend – populär, aber verfassungswidrig, NStZ 1998, S. 329 f.; vgl. Sander, Grenzen instrumenteller Vernunft im Strafrecht, 2007, S. 216 f.

15 Vgl. z.B. Mushoff, Strafe – Maßregel – Sicherungsverwahrung, 2008, S. 99 ff., der das Schuldstrafrecht favorisiert und daher für die Sicherungsverwahrung auf einen polizeirechtlichen Rechtfertigungszusammenhang zurückgreifen will, S. 257 ff.

16 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, 1998, S. 1133: „Der Sinn liegt darin, Kritik zu erleichtern und zu erschweren. Machen Sie es anders, ist die Aufforderung, aber mindestens ebenso gut.“ Teubner, Der Umgang mit Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, in: Joerges/ders. (Hg.), Rechtsverfassungsrecht, 2003, S. 42.

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1. Teil: Die Sicherungsverwahrung – Eine Analyse ihrer (Nicht-)Rechtfertigungen im zeitlichen Verlauf

Im ersten Teil werden die Rechtfertigungen der Sicherungsverwahrung analysiert, um den Argumentationsverlauf und die unterschiedlichen Begründungsstrukturen in den Zentren der Rechtsproduktion herauszuarbeiten. Solche Rechtfertigungen finden sich in den Gesetzgebungsakten, der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, des EGMR und in deren dogmatischer Manifestation in den einzelnen Regelungen der Sicherungsverwahrung, die auch durch den Bundesgerichtshof maßgeblich mit geprägt wird. Zugleich verfolgt der erste Teil der Arbeit das Ziel anhand dieser gesetzgeberischen, verfassungsgerichtlichen und menschenrechtlichen Verlaufslinien der Sicherungsverwahrung sowie der Bestandsaufnahme deren dogmatisch-gesetzestechnischer Manifestationen einen vom Ballast straf(rechts-)theoretischer Debatten befreiten Zugang zur Problematik der Sicherungsverwahrung im zweispurigen Rechtsfolgensystem zu gewinnen. Dadurch werden die in der Rechtspraxis favorisierten Argumentationszusammenhänge sichtbar gemacht – ohne dabei die Kritik aus den Augen zu verlieren.

Die Analyse der in diesem Teil aufgerufenen Verlaufslinien erfolgt chronologisch. Im zeitlichen Verlauf, insbesondere in der Auseinandersetzung zwischen Bundesverfassungsgericht und EGMR, wird deutlich, dass sich die Rechtfertigungen von Anordnung und Vollzug der Sicherungsverwahrung verschränken. In der dogmatischen Bestandsaufnahme wird trotzdem der Fokus auf die Anordnungsformen der Sicherungsverwahrung gelegt, weil letztlich die Ausgestaltung des Vollzugs keine fehlenden Rechtfertigungsgründe bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung heilen kann. Die Vollzugsfragen der Sicherungsverwahrung ergeben sich hinreichend aus der Darstellung der Gesetzgebungsakte und der Rechtsprechung. Auch die dogmatische Bestandsaufnahme wird in den zeitlichen Ablauf eingefügt, d.h. sie wird nach den Entscheidungen des EGMR besprochen und dokumentiert zugleich die Änderungen des Gesetzes zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung vom 22. Dezember 2010. Erst danach werden die Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011, vom 20. Juni 2012, vom 6. Februar 2013 und vom 11. Juli 201317 in Reaktion auf die ← 7 | 8 → EGMR-Rechtsprechung sowie das „Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung“ besprochen, das die vom Bundesverfassungsgericht am 4. Mai 2011 festgestellte Verfassungswidrigkeit aller Regelungen zur Sicherungsverwahrung heilen soll. Soweit die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die letzte gesetzgeberische Aktivität bereits bei der dogmatischen Bestandsaufnahme relevant werden, wird darauf hingewiesen. Grundsätzlich betrifft das am 1. Juni 2013 in Kraft getretene „Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots“ jedoch nicht die im dritten Kapitel dogmatisch aufgefächerten Anordnungsformen der Sicherungsverwahrung. Das Gesetz bewegt sich im Schnittfeld von Vollstreckungs- und Vollzugsfragen und nimmt nur durch eine Übergangsregelung Einfluss auf die Anordnungsformen der Sicherungsverwahrung.

17 Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. November 2012, 1 BvR 22/12 wird nicht besprochen, weil er sich mit der Dauerobservation eines entlassenen Sicherungsverwahrten auseinandersetzt und damit genuin polizeirechtliche Fragestellungen betroffen sind. Das Bundesverfassungsgericht betont auch in dieser Entscheidung, dass eine Dauerobservation nur bei Beachtung strenger Verhältnismäßigkeitsanforderungen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, Rn. 25.

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1. Kapitel: Die Sicherungsverwahrung zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung – Ein national-staatliches Rechtfertigungsmuster

Im ersten Kapitel werden die praktischen Rechtfertigungsmuster in ihrem zeitlichen Verlauf beleuchtet, die die Sicherungsverwahrung in ihrer Entwicklung im deutschen Nationalstaat getragen haben. Ohne auf die straf(rechts-)theoretischen Rechtfertigungszusammenhänge an dieser Stelle näher eingehen zu wollen, müssen dabei die strukturierenden Elemente der Rechtfertigungsmuster vorangestellt werden. Grundsätzlich stehen sich bei der Sicherungsverwahrung die Schutzinteressen der Allgemeinheit bzw. der Zweck effektiver Verbrechensbekämpfung und der Freiheitsanspruch bzw. die Grundrechte des Straftäters18 gegenüber. Im Maßregelrecht finden sich diese Rechtspositionen in den Begriffen der Gefährlichkeit und der Verhältnismäßigkeit wieder. (Schuld-)strafrechtliche Rechtfertigungsstrukturen greifen nach der Idee der Zweispurigkeit für die Maßregeln nicht.

Der Gefährlichkeitsbegriff ist für die Flexibilisierung der Rechtsgrundlagen angesichts drohender Rechtsgüterverletzungen zuständig und nimmt daher das Schutz­interesse der Allgemeinheit in sich auf. Soll der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz demgegenüber grundsätzlich auch die „Formalisierungsaufgabe als eine Legitimationskomponente“ der Maßregeln benennen, steht er eher für den Freiheitsanspruchs des Straftäters ein und verwirklicht gleichzeitig die Kennzeichen eines Rechtstaats.19 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist das verfassungsrechtliche Mittel die reinen Utilitätserwägungen normativ an den Grundrechten auszurichten. Diese reinen Utilitätserwägungen sind in der Ausrichtung auf Gefährlichkeit angelegt und ← 9 | 10 → standen auch am Anfang der Einführung des Zweckgedankens durch v. Liszt.20 Die alleinige Orientierung der Maßregel-Entscheidung an der Gefährlichkeit des Täters würde jedoch zu verfassungswidrigen Ergebnissen führen.21 Das versteht sich unter der verfassungsrechtlichen Herrschaft des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes von selbst, dem alle staatlichen Maßnahmen unterworfen werden.22 In den Begriffen der Gefährlichkeit und der Verhältnismäßigkeit findet sich folglich die vom Rechtsgebiet vorgegebene grobe Argumentationslinie. Der Versuch, neben einer rechtlichen Beschränkung des Zweck-Mittel-Denkens durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, auch eine strafrechtliche Rechtfertigung der Maßregeln einem Schuldstrafrecht entsprechend herzuleiten, die sich nicht aus dem Zweckgedanken ableitet, ist nicht gelungen.23 Um die Dynamik des Rechtfertigungsprozesses abzubilden, werden die Gesetzgebungsaktivitäten und die Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen im Zusammenhang dargestellt. Gleichzeitig wird die Gewichtung der einzelnen Argumente im Gesetzgebungsverfahren und in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts rekonstruiert.

Da die Arbeit von einer Zäsur durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausgeht, werden das danach ergangene Gesetz zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung und die danach erfolgten Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen zur Sicherungsverwahrung sowie das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots an dieser Stelle nicht berücksichtigt und nach der EGMR-Entscheidung gesondert dargestellt.24 In dem Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und EGMR ist ein zentraler Punkt, ob das (absolute) Rückwirkungsverbot für die Maßregeln anwendbar ist oder nicht. Als ← 10 | 11 → streng formales Prinzip dient es ausschließlich der Rechtssicherheit und damit der Freiheitssicherung. Daher wird im Folgenden auch die Entwicklung der Vorschriften zur zeitlichen Geltung von Maßregeln, speziell der Sicherungsverwahrung, dargestellt. Sie sind ein Gradmesser für die Ausprägung der Formalisierung gegenüber der Flexibilisierung der Regelungen zur Sicherungsverwahrung und können zur Interpretation der Gewichtung der Schutzinteressen der Allgemeinheit gegenüber dem Freiheitsanspruch des Straftäters herangezogen werden.

A. Zum gesetzgebungsgeschichtlichen Anfang: Die Maßlosigkeit der Nationalsozialisten25

Der gesetzgebungsgeschichtliche Anfang der Sicherungsverwahrung fällt in die Zeit des Nationalsozialismus. Die Sicherungsverwahrung wurde mit dem „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“26 im Jahre 1933 nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in das Strafgesetzbuch eingefügt. Das Gesetz trat am 1. Januar 1934 in Kraft. Neben der Sicherungsverwahrung sah das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher noch folgende „Maßregeln der Sicherung und Besserung“ in § 42a RStGB27 vor:

 die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt,

 die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt,

 die Unterbringung in einem Arbeitshaus,

 die Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher,

 die Untersagung der Berufsausübung und

 die Reichsverweisung.

Die „Maßregeln der Sicherung und Besserung“ sollten dem Zweck dienen, die „öffentliche Sicherheit“ durch Inhaftierung von „gefährlichen Gewohnheitsverbrechern“, „gefährlichen Sittlichkeitsverbrechern“ und solchen Personen zu bewahren, die – sei es durch Rauschmittelkonsum, „Arbeitsscheue“ oder „Liederlichkeit“ – an ← 11 | 12 → „ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen“ seien.28 Weiterhin konnten präventiv ein Berufsverbot und die Reichsverweisung gegen Ausländer verhängt werden. Dadurch wurden das zweispurige System und die Gefährlichkeitsdok­trin im Strafgesetzbuch verankert. Erklärtes Ziel war es, die „Autorität des Staates gegenüber dem Rechtsbrecher zu steigern und der Strafrechtspflege stärkere und wirksamere Waffen als bisher gegen das gemeinschädliche Verbrechertum zur Verfügung zu stellen.“29 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz war in dem Maßregelkonzept der Nationalsozialisten selbstredend nicht vorgesehen.

Die Sicherungsverwahrung im Speziellen war von der Einordnung des Straftäters als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ abhängig.30 Gleichzeitig war mit dieser ‚tätertypologischen‘ Einordnung auch eine Strafschärfung normiert worden,31 die die formellen Voraussetzungen der Einordnung als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ enthielt. Formell wurde danach vorausgesetzt, dass der Täter bereits zweimal rechtskräftig verurteilt worden war und durch eine neue vorsätzliche Tat wiederum Freiheitsstrafe verwirkt hatte.32 In § 20a RStGB fanden sich ← 12 | 13 → auch die Regelungen zur Verjährung und zur Heranziehung von Verurteilungen im Ausland. In den Übergangsvorschriften des Gesetzes (Art. 5 Abs. 2) befand sich eine Variante nachträglicher Sicherungsverwahrung. Sie ermöglichte die nachträgliche Verhängung, solange „die Strafe nicht verbüßt, bedingt ausgesetzt, verjährt oder erlassen“ worden war.33 Im Gegensatz zum 2004 erlassenen Institut der nachträglichen Sicherungsverwahrung handelte es sich dabei ‚lediglich‘ um eine Übergangsvorschrift und nicht um ein eigenständiges Rechtsinstitut.34 1941 wurde dann die Todesstrafe für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ und „Sittlichkeitsverbrecher“ eingeführt.35 Daneben wurde die Entscheidung über die Entlassung aus der Sicherungsverwahrung wie auch aus den anderen Verwahranstalten und der Widerruf derselben vom Gericht in die Hände der höheren Vollzugsbehörde gelegt.36 Mit der Verordnung zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher vom 4. Oktober 193937, die durch die Verordnung über die Vereinfachung und Vereinheitlichung des Jugendstrafrechts vom 6. November 1943 abgelöst wurde und eine Neufassung des Reichsjugendgerichtsgesetzes beinhaltete,38 wurde die Möglichkeit eröffnet, auch gegen „jugendliche Schwerverbrecher“ das allgemeine Strafrecht anzuwenden und damit auch die Sicherungsverwahrung anzuordnen.

Mit der Positivierung von „Maßregeln der Sicherung und Besserung“ wurde ebenfalls eine Norm in das RStGB eingefügt, die über die zeitliche Geltung dieser Maßregeln befand. § 2a RStGB lautete: „Über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist nach dem Gesetz zu entscheiden, daß zur Zeit der Entscheidung gilt.“39 Dadurch wurde das in § 2 Abs. 1 RStGB statuierte Rückwirkungsverbot und das Meistbegünstigungsgebot (Abs. 2) für „Maßregeln der Sicherung und Besserung“ außer Kraft gesetzt. 1935 wurde das Rückwirkungsverbot für das gesamte Strafrecht abgeschafft.40 In § 2 Satz 1 RStGB wurde die rechtsschöpferische Bestrafung von Taten ermöglicht, die „nach gesundem Volksempfinden“ ← 13 | 14 → eine solche verdienen.41 In Satz 2 wurde ein Analogiegebot statuiert. Im Zuge dieser Gesetzesänderung wurde § 2a a.F. RStGB umgestaltet. Dort befanden sich nun die fakultativ anzuwendenden Überbleibsel des Rückwirkungsverbots, des Meistbegünstigungsgebots und die Anwendbarkeit für zeitlich begrenzte Strafgesetze.42 Die zeitliche Geltung der „Maßregeln der Sicherung und Besserung“ wurde wortgleich in § 2a Abs. 4 a.F. RStGB verschoben.43

Auch wenn eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Gehalt der Maßregeln der Sicherung und Besserung, insbesondere der Sicherungsverwahrung, im zweiten Teil erfolgt,44 kann hier bereits festgestellt werden, dass die Maßregeln durch ihre Ausrichtung an der Gefährlichkeit eine Flexibilisierung des Strafrechts ermöglichten. Diese Flexibilisierung wurde vom nationalsozialistischen Gesetzgeber gerne aufgegriffen und auf das Strafrecht insgesamt ausgedehnt, um den Vorrang der Interessen der Volksgemeinschaft gegenüber Individualinteressen schonungslos durchzusetzen.45 Die generelle Abschaffung des Rückwirkungsverbots durch die Nationalsozialisten ist ein weiteres Indiz für die Bedeutung des Rückwirkungsverbots bzw. einer hohen Formalisierung bei der Begrenzung staatlicher Macht im Strafrecht.46 Inwiefern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bereich der Maßregeln als Äquivalent für die Begrenzung staatlicher Macht ausreichend ist, ist deswegen noch nicht vorgezeichnet.

← 14 | 15 →

B. Nach 1945: Entnazifizierung durch den Allierten Kontrollrat oder was davon übrig blieb

Im Zuge der Entnazifizierung durch die Alliierten wurden 1946 die Maßregel der Entmannung und die Todesstrafe für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ und „Sittlichkeitsverbrecher“ aus dem Gesetz gestrichen.47 Auch § 2 RStGB wurde im Zuge dessen durch die Alliierten gestrichen, § 2a RStGB blieb dagegen weiterhin in Kraft. 48 1947 wurde die Entscheidung über Entlassung und Widerruf der Entlassung wieder in die Hände der Gerichte gelegt.49 Auch die Möglichkeit nachträglicher Verhängung der Sicherungsverwahrung war als rechtsstaatswidrig klassifiziert und aufgrund dieser verfassungsrechtlichen Bedenken gestrichen worden.50 Die Alliierten planten eine Gesamtrevision des Strafrechts, bei der auch die Sicherungsverwahrung aufgehoben werden sollte.51 Jedoch scheiterten die Reformvorhaben mit dem Kontrollrat in den sich verhärtenden Fronten des Kalten Krieges – ohne dass damit die Bereinigung in der Sache abgeschlossen worden wäre.52 Die restlichen Maßregeln der Sicherung und Besserung blieben folglich erhalten und wurden in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) zunächst durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953, das so genannte Strafrechtsbereinigungsgesetz, in der Version von 1933 bestätigt.53 Durch dasselbe Gesetz wurde § 2a RStGB zu § 2 StGB und die Absätze 1 und 2 wurden rechtsstaatlichen Vorgaben wieder angepasst. Die unbeschränkte Anwendung des Rückwirkungsverbots im Bereich Strafe wurde mit der Formulierung „kann nur“ wiederhergestellt. Die Meistbegünstigung, die durch die Nationalsozialisten fakultativ ausgestaltet worden war, wurde nun wieder obligatorisch. § 2 Abs. 4 StGB (a.F.), der die Maßregeln betraf, wurde durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz nicht geändert.

← 15 | 16 →

Ein halbes Jahr zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss vom 30. Januar 1953 zur Sicherungsverwahrung Stellung genommen, in dem es weder grundsätzliche Bedenken gegen die Sicherungsverwahrung noch gegen die Angleichung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung mit dem des Zuchthauses äußerte.54 § 42e StGB (a.F.) stelle eine hinreichende, folglich verfassungsgemäße Grundlage für die Freiheitsentziehung dar.55 Durch „eine Reihe von kleineren Erleichterungen“ sei „im Rahmen des Möglichen“ Art. 3 Abs. 1 GG Rechnung getragen worden.56 Eine kritische Würdigung der Sicherungsverwahrung ist dem Beschluss nicht zu entnehmen. Ein weiterer Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Oktober 1963 erstreckt den Anspruch auf rechtliches Gehör auf das gerichtliche Verfahren zur bedingten Entlassung aus einer Maßregel nach § 42f StGB (a.F.).57 In dem vorliegenden Fall entschied das Gericht, dass dem beschwerdeführenden Sicherungsverwahrten die in der Stellungnahme der Vollzugsanstalt enthaltene Würdigung der Persönlichkeit des Verwahrten und die Prognose über sein künftiges Verhalten mitzuteilen sei, damit er vor Gericht Gelegenheit habe, sich dazu zu äußern.58 Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Sicherungsverwahrung fehlen auch hier. Des Weiteren wird im Beschluss darauf hingeweisen, dass über die Einschränkung des Anspruchs im Hinblick auf die Vereitelung des Maßregelzwecks oder einer daraus entstehenden Gefahr für Leib und Leben des Anstaltspersonals nicht entschieden werde, weil keine konkreten Anhaltspunkte für solche Gefahren vorlägen.59 Im Umkehrschluss heißt das, dass nach dem Bundesverfassungsgericht bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für eine solche Gefahr, der Anspruch auf rechtliches Gehör einschränkbar ist.60 Demnach behält es sich in der Entscheidung vor, die Verteidigungsrechte des Sicherungsverwahrten zugunsten etwaiger Schutzinteressen im Einzelfall zu beschneiden. Demgegenüber wurde in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) die Sicherungsverwahrung ← 16 | 17 → durch höchstrichterliches Urteil unanwendbar, weil sie als Ausdruck der Lehre vom Tätertyp „faschistisch“ und eine Abkoppelung hiervon nicht möglich sei.61

C. Zu den Reformen des Strafrechts von 1969: Restriktion einer prinzipiell sinnvollen Maßregel?

Im Jahr 1969 wurde das Strafrecht und mit ihm die Sicherungsverwahrung tiefgreifend reformiert und sich einer Restriktion der nationalsozialistisch belasteten Sicherungsverwahrung zugewandt.62 Dem waren ein Entwurf für eine Reform des Strafgesetzbuchs aus dem Jahr 1962 (E 1962) und ein Alternativ-Entwurf von 14 Strafrechtslehrern aus dem Jahr 1966 vorausgegangen. Beide Entwürfe waren Gegenstand der Beratungen des Sonderausschusses, auf die in den Begründungen immer wieder in Bezug auf die hier relevanten Passagen zur Sicherungsverwahrung rekurriert wurde.63 Im Folgenden wird die Auseinandersetzung des Gesetzgebers mit der Sicherungsverwahrung und ihrer zeitlichen Geltung dargestellt. Im Anschluss erfolgt die Analyse der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Sicherungsverwahrung in den Jahren nach dieser tiefgreifenden Änderung.

I. Die Auseinandersetzung des Gesetzgebers mit der Sicherungsverwahrung und ihrer zeitlichen Geltung

1. Die Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung

Durch das „Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts“ wurde die Strafschärfung für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ (§ 20a StGB) gestrichen.64 Weiterhin wurde die Maßregel der Unterbringung in einem Arbeitshaus (§§ 42a Nr. 3 und 42d StGB) aus dem Gesetz gestrichen.65 Explizit normiert wurde der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in § 42a Abs. 2 StGB (a.F.), der sich heute gleichlautend in ← 17 | 18 → § 62 StGB wiederfindet.66 § 42e StGB (a.F.), der ursprünglich die Anordnung der Sicherungsverwahrung nur von einer Verurteilung des Straftäters als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ gemäß § 20a StGB (a.F.) abhängig machte,67 wurde nun im Vergleich zur vorherigen Regelung erheblich beschränkt. Waren nach § 20a StGB (a.F.) – wie oben dargestellt – lediglich.

 zwei vorherige rechtskräftige Verurteilungen und

 die Verwirkung von Freiheitsstrafe durch die neue Tat

Voraussetzungen der Anordnung der Sicherungsverwahrung, galten nunmehr gemäß § 42e StGB (a.F., nach dem 2. StrRG § 66) folgende Voraussetzungen:68

 die Verurteilung wegen vorsätzlicher Straftat zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren,

 zweimalige zeitlich davor liegende Verurteilung wegen vorsätzlicher Straftat zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr,

 mindestens zweijährige Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus früheren Verurteilungen oder Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung und Besserung,

 Täter mit Hang zu „erheblichen Straftaten, […] durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird“, infolge dessen er für die Allgemeinheit gefährlich ist („Hangtäter“69).

Nach § 42e Abs. 2 StGB (a.F.) war die Anordnung der Sicherungsverwahrung bei drei vorsätzlich begangenen Straftaten auch ohne frühere Verurteilung möglich, wenn der Täter jeweils ein Jahr Freiheitsstrafe verwirkt hatte, er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu mindestens drei Jahren zeitiger Freiheitsstrafe verurteilt wurde und wenn es sich um einen gefährlichen Hangtäter i.S.d. Abs. 1 Nr. 3 StGB (a.F.) handelte. Der Sonderausschuss für die Strafrechtsreform hatte hier den „gefährlichen Serientäter“ vor Augen, dem es „immer wieder gelungen ist, sich der Verurteilung (Absatz 1 Nr. 1) oder der Verbüßung (Absatz 1 Nr. 2) zu entziehen.“70 ← 18 | 19 → Die Ersetzung des Gewohnheitsverbrecherbegriffs durch den des Hangtäters war schon im E 1962 erfolgt und sollte lediglich hervorheben, dass das Bestehen des Hanges ausschlaggebend ist und nicht wie er entstanden ist – durch Gewöhnung, Neigung oder Übung.71 Eine nachhaltige Auseinandersetzung mit der Kritik an der Lehre des Tätertyps – wie sie in der DDR-Rechtsprechung zum Ausdruck kam – scheint daher nicht stattgefunden zu haben.

Das „Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts“ fügte eine Altersgrenze ein, nach der die Anlasstat nach Vollendung des 25. Lebensjahres begangen worden sein musste.72 Für die jungen Straftäter war § 65 Abs. 2 StGB (a.F.) einschlägig, der die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt ermöglichte, die anstatt einer vorbeugenden Verwahrung eingeführt wurde.73 Dabei stand der Besserungszweck gegenüber dem Sicherungszweck eindeutig im Vordergrund.74 Das Inkrafttreten der Maßregel der sozialtherapeutischen Anstalt wurde jedoch durch mehrere „Verschiebegesetze“ erst von 1973 auf 1978, dann auf 1985 gelegt.75 Letztlich wurde die lediglich in Modellanstalten praktizierte und mit der Vollzugslösung des § 9 StVollzG76 konkurrierende Maßregel aus dem StGB gestrichen.77 Der Vollzugslösung wurde als Minimalregelung der Vorzug gegeben und § 9 StVollzG marginal verändert.78 Damit einher ging die Streichung der ← 19 | 20 → Altersuntergrenze bei der Sicherungsverwahrung.79 Der Versuch, bei schwierigen Tätergruppen und insbesondere jungen Straftätern die Sicherungsverwahrung durch sozialtherapeutische, helfende Maßnahmen tatsächlich gar nicht erst zur Anwendung kommen zu lassen, wurde dadurch nachhaltig konterkariert. Es ist nicht auszuschließen, dass vor diesem Hintergrund eine andere Lösung angestrebt worden wäre, die den Verzicht auf das Institut der Sicherungsverwahrung bedeutet hätte.

Weiterhin wurde in § 67d StGB (a.F.) die Dauer der ersten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung auf 10 Jahre beschränkt.80 Bei wiederholter Anordnung wurde eine Höchstgrenze vom Sonderausschuss für die Strafrechtsreform abgelehnt, da „dem Schutz der Allgemeinheit der Vorrang vor der Berücksichtigung des Gesichtspunktes einzuräumen ist, daß der Sicherungsverwahrte durch den langen Vollzug möglicherweise lebensuntüchtig wird“, wenn eine Erprobung auch nach zehnjährigem Vollzug nicht verantwortet werden kann.81 Bereits die Zehn-Jahres-Höchstfrist bei erstmaliger Verhängung war umstritten.82 Insbesondere die Landesjustizverwaltungen hatten um Prüfung gebeten, ob die Zehn-Jahres-Höchstfrist im Hinblick auf die Gefahren für den Schutz der Allgemeinheit – insbesondere solchen, die von Triebtätern mit ungünstiger Prognose ausgingen – nicht fallengelassen werden könnte.83 Die Landesjustizverwaltungen hatten dabei acht konkrete Fälle im Blick, die vom Sonderausschuss daraufhin untersucht wurden, ob sich daraus eine andere Bewertung des Schutzbedürfnisses der Allgemeinheit – zu Lasten des Sicherungsverwahrten – ergeben würde. Der Bundesrat hatte schon in seiner Stellungnahme zum Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch darauf hingewiesen, dass zumindest die Führungsaufsicht auf diejenigen Sicherungsverwahrten angewandt werden sollte, die aufgrund der Zehn-Jahres-Frist entlassen werden.84 Denn gerade diese Gruppe, deren Erprobung vor Ablauf des Entlassungszeitpunktes nicht verantwortet werden konnte, bedürfte nach ihrer Entlassung der Betreuung und Beaufsichtigung.85 Diese Möglichkeit war im 2. StRG nicht vorgesehen worden, wurde jedoch vor Inkrafttreten nachvollziehbarerweise noch eingeführt.86

← 20 | 21 →

An der Einführung der Zehn-Jahres-Höchstfrist wurde aber dennoch in den Nachverhandlungen zu diesem Streitpunkt auch unter Berücksichtigung der acht von den Landesjustizverwaltungen genannten Fälle festgehalten. Ihre Begründung war jedoch ambivalent. Sie wurde auch mit Blick auf den Schutz der Allgemeinheit begründet, da „die Scheu des Richters vor der absolut unbestimmten Sanktion“ beseitigt werden sollte, die in der Praxis vor der Verhängung eines lebenslänglichen Freiheitsentzugs zurückschreckten.87 In der Hauptsache wurde in der Begründung allerdings auf das ultima-ratio-Prinzip und das Bestimmtheitsgebot sowie die Unzulänglichkeit prognostischer Methoden verwiesen, die keine Sicherheit geben könnten, sondern nur Möglichkeiten aufzeigen würden.88 Außerdem werde durch den automatischen Anschluss der Führungsaufsicht einem Rückfall vorgebeugt.89 Die Aussicht auf einen unbefristeten Freiheitsentzug bei wiederholter Verhängung wirke bei Sicherungsverwahrten präventiv – wohl im Sinne einer Quasi-Abschreckung gemeint.90 Im Ergebnis führe das dargetane Risiko nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit nicht dazu, die getroffene Regelung zurückzunehmen, ohne sie überhaupt erprobt (!) zu haben.91 Hier tritt in der Diskussion der Unterschied zwischen einem tatsächlichen Rückfall und der bloß wissenschaftlich-statistisch konstatierten Gefahr eines Rückfalls deutlich hervor. Vor diesem Hintergrund schien der damalige Gesetzgeber bereit zu sein, die Wirksamkeit nicht-stationärer präventiver Maßnahmen als echte Alternative zu stationären Maßnahmen zu erproben.

Der Tenor der Begründungen zum Ersten und Zweiten Gesetz zur Reform des Strafrechts sowie in den Nachverhandlungen spiegelt das Bemühen um eine Ausbalancierung der Schutzinteressen der Allgemeinheit und des Freiheitsanspruchs des Straftäters wider. Die Sicherungsverwahrung habe den „Charakter […] einer letzten Notmaßnahme der Kriminalpolitik“,92 gleichwohl solle die „Unterbringung wirklich gefährlicher Täter erleichtert“ werden.93 In der Begründung zum E 1962 wird noch stärker betont, dass „[d]ie erfolgreiche Bekämpfung der im ← 21 | 22 → geltenden Recht als Gewohnheitsverbrecher bezeichneten Täter eines der wichtigsten kriminalpolitischen Anliegen“ ist.94 Dort heißt es weiter, dass die Änderungen „die Anordnung der Sicherungsverwahrung für den Richter […] erleichtern und ihn in gewissem Umfang auch zur Durchführung der Maßregel […] zwingen“ solle.95 Sie diene in der Hauptsache der Sicherung dieser gefährlichen Hangtäter und verfolge keinen gezielten Behandlungszweck.96 Demnach sollte sie erst dann zur Anwendung bzw. zum Vollzug kommen, „wenn alle anderen Mittel der Einwirkung auf den Verurteilten, einschließlich der Strafe, ausgeschöpft sind.“97 Bei einer abschließenden Bewertung der Gesetzgebungsetappen muss aber die Vorschrift über die zeitliche Geltung der Maßregeln mit berücksichtigt werden, denn erst diese ermöglicht ein Urteil über den Stellenwert des Schutzes der Allgemeinheit gegenüber den Freiheitsrechten des Sicherungsverwahrten.

2. Die Auseinandersetzung um die zeitliche Geltung

Details

Seiten
XXVI, 506
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653046137
ISBN (ePUB)
9783653985726
ISBN (MOBI)
9783653985719
ISBN (Hardcover)
9783631651919
DOI
10.3726/978-3-653-04613-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Juli)
Schlagworte
Schuldstrafrecht Kritische Systemtheorie Kritische Kriminologie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. XXVI, 506 S., 1 Graf.

Biographische Angaben

Charlotte Schultz (Autor:in)

Charlotte Schultz studierte Rechtswissenschaften an der Universität Frankfurt am Main. Sie war am Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie der Universität Frankfurt am Main tätig und arbeitet derzeit am Landgericht Frankfurt am Main.

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