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Deutscher Unilateralismus im 21. Jahrhundert

Ein liberaler Erklärungsansatz

von Simon Werner (Autor:in)
©2014 Dissertation XVIII, 322 Seiten

Zusammenfassung

Diese Untersuchung deutscher Außenpolitik beschäftigt sich mit drei sicherheitspolitischen Ereignissen des 21. Jahrhunderts, die noch andauern oder deren Auswirkungen noch heute aktuell sind: dem Irak-, Libyen- und Afghanistankonflikt. In allen drei Konflikten hat Deutschland zur Erreichung seiner politischen Ziele nachweisbar einen unilateralen Politikstil verfolgt. Diese Entscheidung wäre vor der deutschen Wiedervereinigung noch undenkbar gewesen. Mithilfe eines liberalen Erklärungsansatzes wird im Rahmen einer ebenenübergreifenden Betrachtung der Widerspruch zwischen der multilateralen Grundausrichtung deutscher Außenpolitik und der unilateralen Verwirklichung deutscher Staatspräferenzen aufgelöst. Dabei werden Rahmenbedingungen hergeleitet, unter denen deutscher Unilateralismus wahrscheinlich ist.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Vorwort
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Gliederung
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Fragestellung und Hypothesen
  • 1.2 Forschungsstand
  • 1.3 Problemstellung und Relevanz
  • 1.4 Begriffsbestimmung: Unilateralismus und Multilateralismus
  • 1.5 Aufbau der Arbeit
  • 2. Herleitung der Hypothesen und Forschungsdesign
  • 2.1 „New Liberalism“ und Unilateralismus
  • 2.1.1 Grundannahmen des „New Liberalism“
  • 2.1.2 Staatspräferenzen und politische Strategien
  • 2.1.3 Kategorien staatlicher Präferenzkonstellationen
  • 2.1.4 In welchem Präferenzkonstellationen ist Unilateralismus denkbar?
  • 2.2 Herleitung der Hypothesen: Präferenzkonstellation und externe Effekte
  • 2.2.1 H1: Divergenz der Präferenzen
  • 2.2.2 H2: negative externe Effekte
  • 2.3 Forschungsdesign
  • 2.3.1 Die Operationalisierung der unabhängigen Variablen
  • 2.3.1.1 Unabhängige Variable 1: Divergenz der Präferenzen
  • 2.3.1.2 Unabhängige Variable 2: negative externe Effekte
  • 2.3.2 Die Operationalisierung der AV: unilateraler Politikstil Deutschlands
  • 2.3.3 Prozessanalyse und kausale Zusammenhänge
  • 2.4 Fallauswahl
  • 2.4.1 Strukturelle Ähnlichkeiten der Fallbeispiele
  • 2.4.2 Kontrollvariablen und ihre Vergleichbarkeit
  • 2.4.2.1 Die Machtstellung eines Staates im internationalen System
  • 2.4.2.2 Bündnissolidarität
  • 2.4.2.3 Einflusswahrung
  • 3. Fallstudie Irakkonflikt
  • 3.1 Hintergründe zum Konfliktgeschehen
  • 3.1.1 Internationale Rahmenbedingungen
  • 3.1.2 Der Weg in den Krieg
  • 3.1.3 Rahmenbedingungen in Deutschland und Begründungslinien deutscher Außenpolitik
  • 3.2 Erhebung der UV 1: Divergenz der Präferenzen
  • 3.2.1 Staatspräferenzen und politische Strategien der betroffenen Staaten
  • 3.2.1.1 Kriegsgegner – Frankreich
  • 3.2.1.2 Kriegsgegner – Russland
  • 3.2.1.3 Kriegsbefürworter – USA
  • 3.2.1.4 Kriegsbefürworter – Großbritannien
  • 3.2.2 Präferenzen der gesellschaftlichen Akteure in Deutschland
  • 3.2.2.1 Die öffentliche Meinung
  • 3.2.2.2 Die CDU/CSU-Fraktion
  • 3.2.2.3 Die SPD-Fraktion
  • 3.2.2.4 Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
  • 3.2.2.5 Die FDP-Fraktion
  • 3.2.3 Fazit: Bewertung der dominanten Präferenzenkonstellation
  • 3.3 Erhebung der UV 2: externe negative Effekte
  • 3.3.1 Betroffene Staaten
  • 3.3.1.1 Kriegsgegner – Frankreich
  • 3.3.1.2 Kriegsgegner – Russland
  • 3.3.1.3 Kriegsbefürworter – USA
  • 3.3.1.4 Kriegsbefürworter – Großbritannien
  • 3.3.2 Fazit: Bewertung der externen Effekte
  • 3.4 Erhebung der Abhängigen Variable: deutscher Unilateralismus
  • 3.5 Hypothesentest H 1
  • 3.5.1 Korrelationsanalyse
  • 3.5.2 Prozessanalyse: Ursache-Wirkungs-Pfad und kausale Zusammenhänge
  • 3.5.2.1 Hypothese H1
  • 3.5.2.2 Hypothese H2
  • 3.6 Zwischenfazit 1
  • 4. Fallstudie Libyenkonflikt
  • 4.1 Hintergründe zum Konfliktgeschehen
  • 4.1.1 Internationale Rahmenbedingungen
  • 4.1.2 Der Weg in den Konflikt
  • 4.1.3 Rahmenbedingungen in Deutschland und Begründungslinien deutscher Außenpolitik
  • 4.2 Erhebung der UV 1: Divergenz der Präferenzen
  • 4.2.1 Staatspräferenzen und politische Strategien der betroffenen Staaten
  • 4.2.1.1 Kriegsbefürworter – USA
  • 4.2.1.2 Kriegsbefürworter – Großbritannien
  • 4.2.1.3 Kriegsbefürworter – Frankreich
  • 4.2.1.4 „Kriegsgegner“ – Russland und China
  • 4.2.2 Präferenzen der gesellschaftlichen Akteure
  • 4.2.2.1 Öffentliche Meinung
  • 4.2.2.2 Die CDU/CSU-Fraktion
  • 4.2.2.3 Die SPD-Fraktion
  • 4.2.2.4 Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
  • 4.2.2.5 Die FDP-Fraktion
  • 4.2.2.6 Die Fraktion DIE LINKE
  • 4.2.3 Fazit: Bewertung der dominanten Präferenzenkonstellation
  • 4.3 Erhebung der UV 2: externe negative Effekte
  • 4.3.1 Betroffene Staaten
  • 4.3.1.1 Kriegsbefürworter – USA
  • 4.3.1.2 Kriegsbefürworter – Großbritannien
  • 4.3.1.3 Kriegsbefürworter – Frankreich
  • 4.3.1.4 „Kriegsgegner“ – Russland und China
  • 4.3.2 Fazit: Bewertung der Effekte
  • 4.4 Erhebung der Abhängigen Variable: deutscher Unilateralismus
  • 4.5 Hypothesentest 2
  • 4.5.1 Korrelationsanalyse
  • 4.5.2 Prozessanalyse: Ursache-Wirkungspfad und kausale Zusammenhänge
  • 4.5.2.1 Hypothese H1
  • 4.5.2.2 Hypothese H2
  • 4.6 Zwischenfazit 2
  • 5. Fallstudie NATO AWACS-Einsatz in Afghanistan
  • 5.1 Hintergründe zum NATO-AWACS-Einsatz in Afghanistan
  • 5.1.1 Internationale Rahmenbedingungen
  • 5.1.2 Verlauf der politischen Debatte
  • 5.1.3 Rahmenbedingungen in Deutschland und Begründungslinien deutscher Außenpolitik
  • 5.2 Erhebung der UV 1: Divergenz der Präferenzen
  • 5.2.1 Staatspräferenzen und politische Strategien der betroffenen Staaten
  • 5.2.1.1 Antragsbefürworter – USA
  • 5.2.1.2 Antragsbefürworter – Großbritannien
  • 5.2.1.3 Antragsbefürworter – Frankreich
  • 5.2.2 Präferenzen der gesellschaftlichen Akteure
  • 5.2.2.1 Öffentliche Meinung
  • 5.2.2.2 Die CDU/CSU-Fraktion
  • 5.2.2.3 Die SPD-Fraktion
  • 5.2.2.4 Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
  • 5.2.2.5 Die FDP-Fraktion
  • 5.2.2.6 Die Fraktion DIE LINKE
  • 5.2.3 Fazit: Bewertung der dominanten Präferenzenkonstellation
  • 5.3 Erhebung der UV 2: externe negative Effekte
  • 5.3.1 Betroffene Staaten
  • 5.3.1.1 Antragsbefürworter – USA
  • 5.3.1.2 Antragsbefürworter – Großbritannien
  • 5.3.1.3 Antragsbefürworter – Frankreich
  • 5.3.2 Fazit: Bewertung der Effekte
  • 5.4 Erhebung der Abhängigen Variable: deutscher Unilateralismus
  • 5.5 Hypothesentest 3
  • 5.5.1 Korrelationsanalyse
  • 5.5.2 Prozessanalyse: Ursache-Wirkungs-Pfad und kausale Zusammenhänge
  • 5.5.2.1 Hypothese H1
  • 5.5.2.2 Hypothese H2
  • 5.6 Zwischenfazit 3
  • 6. Konklusion
  • 6.1 Zusammenfassung der Teilergebnisse
  • 6.2 Erklärungswert der Hypothesen H1 und H2 im Vergleich der Fallstudien
  • 6.2.1 Erklärungswert Hypothese H1: Divergenz der Präferenzkonstellationen
  • 6.2.2 Erklärungswert Hypothese H2: negative externe Effekte
  • 6.2.3 Überprüfung der Kontrollvariablen
  • 6.3 Schlussfolgerungen für die Wahrscheinlichkeit eines deutschen Unilateralismus
  • 6.4 Einordnung und Relevanz der Forschungsergebnisse
  • 6.4.1 Vergleich mit anderen Erklärungsansätzen
  • 6.4.2 Zweckmäßigkeit eines liberalen Erklärungsansatzes im Bereich der Unilateralismusforschung
  • Anhang
  • Literaturverzeichnis

← XIV | XV → Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Flussdiagramm Hypothese H1 und H10

Abb. 2: Flussdiagramm Hypothese H2 und H20

Abb. 3: Flussdiagramm Hypothese H1

Abb. 4: Flussdiagramm Hypothese H2

Abb. 5: Flussdiagramm Hypothese H20

Abb. 6: Öffentliches Meinungsbild in Deutschland zum Libyenkonflikt, 11.-31. März 2011

Abb. 7: Flussdiagramm Hypothese H1

Abb. 8: Flussdiagramm Hypothese H2

Abb. 9: Personalobergrenzen ISAF-Einsatz 2001 bis 2012

Abb. 10: Umfrage: Sollte die Bundeswehr weiterhin in Afghanistan stationiert bleiben oder sollte sie sich möglichst schnell aus Afghanistan zurückziehen?

Abb. 11: Flussdiagramm Hypothese H1

Abb. 12: Flussdiagramm Hypothese H2 ← XV | XVI →

← XVI | XVII → Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Präferenzkonstellationen und externe Effekte

Tab. 2: Präferenzen der staatlichen Akteure im Irakkonflikt

Tab. 3: Präferenzen der gesellschaftlichen Akteure im Irakkonflikt

Tab. 4: Ergebnisse der Korrelationsanalyse Irakkonflikt

Tab. 5: kumulierte Ergebnisse der Fallstudie Irakkonflikt

Tab. 6: Präferenzen der staatlichen Akteure im Libyenkonflikt

Tab. 7: Präferenzen der gesellschaftlichen Akteure im Libyenkonflikt

Tab. 8: Ergebnisse der Korrelationsanalyse Libyenkonflikt

Tab. 9: kumulierte Ergebnisse der Fallstudie Libyenkonflikt

Tab. 10: Präferenzen der staatlichen Akteure hinsichtlich des Einsatzes der NATO AWACS Verbände in Afghanistan

Tab. 11: Präferenzen der gesellschaftlichen Akteure hinsichtlich des NATO-AWACS-Einsatzes in Afghanistan

Tab. 12: Ergebnisse der Korrelationsanalyse NATO-AWACS-Einsatz in Afghanistan

Tab. 13: kumulierte Ergebnisse der Fallstudie Einsatz der NATO-AWACS-Verbände in Afghanistan

Tab. 14: Erklärungskraft der Hypothese H1 im Vergleich der Fallstudien

Tab. 15: Erklärungskraft der Hypothese H2 im Vergleich der Fallstudien ← XVII | XVIII →

← XVIII | 1 → 1. Einleitung

1.1 Fragestellung und Hypothesen

Im 21. Jahrhundert sind die Möglichkeiten Deutschlands mannigfaltig, wenn es darum geht, mit anderen Staaten im Rahmen von multilateralen Organisationen zu kooperieren. Neben der EU und der NATO bieten die OSZE, die OECD oder auch der IWF eine Vielzahl von Möglichkeiten, mit anderen Staaten gemeinsam politische Ziele multilateral zu verfolgen. Gerade EU und NATO eröffnen Deutschland in dieser Hinsicht Optionen, durch die Zusammenarbeit mit anderen Staaten international mit einer gewichtigeren Stimme wahrgenommen zu werden.

Trotz dieses reichhaltigen multilateralen Angebots im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik kann Deutschland, genauso wie alle anderen Staaten auch, jederzeit die Entscheidung treffen, auf multilaterale Möglichkeiten zu verzichten und einen nationalen Weg zu beschreiten. Diese Option außenpolitischen Verhaltens war jedoch für Deutschland vor der Wiedervereinigung respektive zur Zeit der Bonner Republik1 nahezu undenkbar. Deutschland hatte sich außenpolitisch bereits unter Konrad Adenauer für eine umfassende Westbindung entschieden und bediente sich der „Methode des Souveränitätsgewinns durch Souveränitätsverzicht“ (Haftendorn 2001: 436), um zielgerichtet die volle Souveränität letztendlich in den 2 + 4-Verträgen zurückzugewinnen.

Vor diesem Hintergrund folgte deutsche Außenpolitik einer im Grundgesetz verankerten völkerrechtlich europäisch geprägten Politikstrategie und erteilte unilateralen Ansätzen zugunsten eines normativen Multilateralismus damit eine klare Absage (Staack 2012: 225). Deutschland geriet somit in Verbindung mit einer voranschreitenden europäischen Integration in ein transatlantisches Beziehungsdreieck mit Paris und Washington, ständig bemüht eine Situation zu vermeiden, in der sich deutsche Außenpolitik im „Sinne eines Entweder-oder“ (Haftendorn 2003: 2) für einen der beiden Bündnispartner hätte entscheiden müssen. Die strenge Orientierung an ← 1 | 2 → „einem normativen Multilateralismus sowohl als Ziel als auch als Methode der Außen- und Sicherheitspolitik“ (Staack 2012: 217), half langfristig gesehen dieses außenpolitische Spannungsverhältnis zum Vorteil Deutschlands aufzulösen.

Nach der Wiedervereinigung und der wiedererlangten Souveränität begann Deutschland seine Außenpolitik mit größerem Selbstvertrauen zu verfolgen (Hellmann 2010: 1ff.). Europäische Integration, Westbindung und Zurückhaltung bei militärischen Einsätzen waren zwar immer noch die bestimmenden Merkmale deutscher Außenpolitik, das Verhältnis zu Russland gewann jedoch deutlich an Relevanz und die Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen außerhalb Europas wurde zur sicherheitspolitischen Normalität (Böckenförde 2009: 25ff.). Deutsche Außenpolitik wurde außerdem zunehmend unabhängiger von den außenpolitischen Zielen der Verbündeten. Deutschland war nach 1990 immer noch gemeinsam mit Frankreich der Motor der europäischen Integration. Dieser Motor hatte allerdings nach der Währungsunion und den EU-Erweiterungsrunden (Le Gloannec 2004: 33, 37f.) bzw. spätestens seit der EU-Ratspräsidentschaft Frankreichs im Jahr 2008 an Fahrt verloren. Vor allem im Bereich der Sicherheitspolitik waren die Bemühungen Frankreichs, die GSVP durch eine Aktualisierung der Europäischen Sicherheitsstrategie bzw. der Weiterentwicklung gemeinsamer militärischer Fähigkeiten neuen Schwung zu verleihen, an der Zurückhaltung Deutschlands gescheitert (Kempin/von Ondarza 2011: 2f.).

Besonders die sicherheits- und finanzpolitischen Krisen der jüngeren Geschichte zeigen, dass auch Deutschland, trotz Fortschreiten der europäischen Integration durch die Verabschiedung des Vertrages von Lissabon (Rat der Europäischen Union 2010), ausgeprägte nationale Zielsetzungen verfolgt, die nicht immer den Zielen der EU untergeordnet werden. Das Credo des ehemaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher, dass Deutschland keine eigenen nationalen Interessen habe, da sich das deutsche mit dem europäischen Interesse decke (Zürn 2006: 1), scheint überholt zu sein bzw. verlangt zumindest nach einer vergleichenden Neubewertung deutscher und europäischer Zielsetzungen.

Die „Normalisierung deutscher Außenpolitik“ (Bulmer/Paterson 2010: 1071ff.) bzw. die veränderte Rolle Deutschlands in Europa zeigen sich beispielsweise in der höchst kontroversen außenpolitischen Debatte der Verbündeten vor dem 3. Irakkrieg in 2003 oder in den unterschiedlichen Schlussfolgerungen der Verbündeten im Umgang mit der Libyenkrise in 2011. Beide Konflikte haben nachgewiesen, dass Deutschland eine eigene nationale Vorstellung im Umgang mit Krisen auch gegen Proteste der Verbündeten zu verteidigen weiß. Beide ← 2 | 3 → Krisen haben aber auch die Schwierigkeiten einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zutage gefördert und sehr deutlich gezeigt, dass Europa noch nicht imstande ist, mit einer Stimme zu sprechen.

Die Einstellung Deutschlands zur EU ist insgesamt als pro-europäisch zu bezeichnen. Die deutsche Bundesregierung hat sich darüber hinaus wiederholt zu einem wirksamen Multilateralismus bekannt (Rat der Europäischen Union 2003: 9; Bundesministerium der Verteidigung 2006: 25) und „die Stärkung multilateraler Mechanismen zu einem Kernziel ihrer Außenpolitik gemacht“ (Fehl/Thimm 2008: 7). Trotz dieses deutschen Bekenntnisses und einer multilateral dominierten deutschen Geschichte nach 1945 (Krause 2004: 48f.), scheint das außenpolitische Verhalten Deutschlands aber zunehmend das gesamte Spektrum politischer Möglichkeiten abzudecken. Ebenso wie andere Staaten wendet Deutschland zur Erreichung seiner politischen Ziele sowohl unilaterale als auch multilaterale Mittel an. Ein unilateraler Politikstil stellt auch für Deutschland keinen Tabubruch mehr dar. Sollten die politischen Ziele nicht vereinbar mit den Zielen anderer Staaten sein, ist auch Deutschland bereit, seine Staatspräferenzen unilateral zu verwirklichen.

Deutscher Unilateralismus im Sinne eines abweichenden außenpolitischen Verhaltens soll in dieser Arbeit weiter untersucht werden. Dabei soll nicht untersucht werden, ob Deutschland heute mehr oder weniger zum Unilateralismus neigt. Vielmehr steht die Frage, wann ist deutscher Unilateralismus möglich bzw. wie lässt sich deutscher Unilateralismus an verschiedenen Beispielen erklären im Mittelpunkt dieser Arbeit. Der Fokus liegt hierbei auf dem Versuch, den scheinbaren Widerspruch zwischen multilateraler Grundausrichtung und unilateralem Verhalten aufzulösen und Gründe zu untersuchen, die die Entscheidung Deutschlands für einen unilateralen Politikstil trotz multilateraler Grundausrichtung erklären. Die folgende Untersuchung behandelt dementsprechend die Leitfrage, unter welchen Rahmenbedingungen sich Deutschland, als einer der Motoren der europäischen Integration und trotz klarem Bekenntnis zu einem wirksamen Multilateralismus, für einen unilateralen Politikstil entscheidet.

Liberaler Intergouvernementalismus

Die mit der zunehmenden Globalisierung einhergehenden neuen Formen der Kommunikation und des wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs bieten für innerstaatliche Akteure eine Vielzahl von Möglichkeiten sich international und grenzüberschreitend zu engagieren. Neue zwischenstaatliche Kommunikationskanäle erlauben es sozialen Akteuren und Vertretern verschiedenster Gesellschaften, miteinander grenzüberschreitend zu kommunizieren und ← 3 | 4 → Meinungen und Informationen zu bestimmten politischen Themen auszutauschen. Dadurch entwickeln vermehrt auch substaatliche respektive gesellschaftliche Akteure dezidierte Präferenzen zu außenpolitischen Themenbereichen, die sie im innerstaatlichen Meinungsbildungsprozess versuchen durchzusetzen (Moravcsik 2009: 709).

Gerade in Bezug auf europäische Demokratien im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen ist obige Darstellung der Beziehungsmuster zutreffend. Angesichts dieser Einsicht wäre es nicht gewinnbringend, in der Analyse internationaler Beziehungen bzw. des außenpolitischen Verhaltens Deutschlands die Annahme aufrechtzuerhalten, dass Deutschland als einheitlicher, internationaler Akteur ohne außenpolitisch relevantes Innenleben zu betrachten ist. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass es eine starke Rückkopplung zwischen Interessen gibt, die als Staatsinteresse in Verhandlungen mit anderen Staaten eingebracht werden, und Interessen, die einzelne innerstaatliche Akteure verfolgen.

Um dieser Arbeit einen theoretischen Unterbau zu geben, der den Ansprüchen einer gewinnbringenden wissenschaftlichen Analyse deutscher Außenpolitik gerecht wird, wird als theoretischer Leitfaden der Untersuchung der liberale Intergouvernementalismus herangezogen. Die Vorteile dieses theoretischen Ansatzes liegen zum einen in dem Verzicht, eine apodiktische Trennlinie zwischen der innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Analyseebene zu ziehen und zum anderen in der Überzeugung, dass ein Konzept verschiedener Analyseebenen irreführend und überholt ist: „Liberals side with those who view the ‚level of analysis‘ as a misleading concept best set aside.“ (Moravcsik 2009: 723). Die staatliche Blackbox systemischer und realistischer Analysen soll an dieser Stelle zugunsten einer gesellschaftsorientierten Untersuchung aufgebrochen werden. Damit wird zwar auf die Präferenzen gesellschaftlicher Akteure fokussiert, die Präferenzen der staatlichen Ebene sollen jedoch nicht völlig außer Acht gelassen werden.

Der liberale Intergouvernementalismus oder auch New Liberalism (Moravcsik 2009) geht im Kern davon aus, dass die Außenpolitik der Staaten von den Präferenzen innerstaatlicher Akteure abgeleitet werden kann und im Rahmen eines wie auch immer gearteten innerstaatlichen Entscheidungs- oder auch Entwicklungsprozesses ein Staatsinteresse destilliert wird, das als Staatspräferenz durch den Staat nach außen vertreten wird (Moravcsik 2009: 712). Auf Grundlage dieser Theorie Internationaler Beziehungen, die in einem Folgekapitel gerade in Bezug auf Unilateralismus noch eingehender behandelt wird, können zur Beantwortung der Fragestellung zwei unterschiedliche Hypothesen abgeleitet werden, die im Rahmen der Arbeit auf ihre Gültigkeit überprüft werden.

← 4 | 5 → Hypothesenauswahl

Details

Seiten
XVIII, 322
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653044928
ISBN (ePUB)
9783653986204
ISBN (MOBI)
9783653986198
ISBN (Hardcover)
9783631651650
DOI
10.3726/978-3-653-04492-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (September)
Schlagworte
Multilateralismus Sicherheitspolitik Staatspräferenzen Auußenpolitik
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. XVIII, 322 S., 14 Tab.

Biographische Angaben

Simon Werner (Autor:in)

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Titel: Deutscher Unilateralismus im 21. Jahrhundert
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