Lade Inhalt...

BERGeLEBEN

Naturzerstörung – Der Alptraum der Alpen- Eine Kritik des Tourismus im Tiroler Ötztal

von Ursula Scheiber (Autor:in)
©2015 Dissertation 368 Seiten
Reihe: Beiträge zur Dissidenz, Band 29

Zusammenfassung

Moderne Seilbahnstationen auf den höchsten Gipfeln, Kunstschneeherstellung auf den schwindenden Gletschern, Wellnessanlagen, gefüllt mit dem Wasser aus dem Berginneren, und Freizeitparks in den Talebenen: Die touristischen Projekte in den Alpentälern suggerieren Fortschritt und eine Neuschöpfung angeblich besserer Lebensbedingungen. Der analytische Blick durch die Brille der Kritischen Patriarchatstheorie lässt erkennen, dass dabei für einen historischen Moment und den Profit einiger weniger die Zukunft der Bergnatur und der Menschen brutal aufs Spiel gesetzt wird. Die konkreten Beispiele aus dem Tiroler Ötztal zeigen: Die gegenwärtige Zivilisation ist nicht nur weltweit, sondern auch vor unserer Haustür dabei, unseren Lebensraum zu vernichten. Was kann getan werden, um das Bergleben nicht irreversibel zugrunde gehen zu lassen?

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Teil I Die Zerstörung des BERGeLEBEN
  • Einleitung Am Abgrund angekommen
  • Außen – Topos Gletscher Schwindende Ressource für die Schnee- Schöpfung aus Zerstörung
  • 1. Szenario / Verortung I: „Es werde Schnee.“ Tirol, Ötztaler Alpen, Pitztaler Gletscher, ca. 2840 m über dem Meer
  • 2. Der Gletscherschwund als ein Phänomen der globalen Klimakrise
  • 3. Zum alchemistisch-patriarchalen Umgang mit dem Gletscher: Die Natur kontrollieren, transformieren und ersetzen, „damit der Winter pünktlich beginnt“
  • 3.1. Der Versuch der Verwirklichung der patriarchalen Utopie durch die Maschine
  • 3.2. Kunstschnee-Erzeugung als patriarchal-alchemistische Schöpfung aus Zerstörung
  • 3.3. Die Utopie von einer Gletscher-losen alpinen Kunstschnee-Landschaft
  • 3.4. Von der Utopie zur beginnenden Dystopie Die weitere Transformation und Zerstörung des ohnehin schon schwindenden Gletschers
  • 4. Es gibt keine Alternative!? Die Darstellung des patriarchalen Naturumgangs am Gletscher als einzig zukunftsfähigen Weg
  • Oben – Topos Gipfel Zerbröckelnder Höhepunkt Natur unterwerfender Eroberung und Besetzung
  • 1. Szenario / Verortung II: Die Kolonisierung des Gipfels Tirol, Ötztaler Alpen, Gaislachkogel, ca. 3040 m über dem Meer
  • 2. Und er bewegt sich doch Den Veränderungen des Berges maschinentechnisch begegnen
  • 3. Zum patriarchalen Umgang mit dem Gipfel: Die Natur dämonisieren, erobern, besetzen und verformen
  • 3.1. Der Berg als Feind: Die Dämonisierung des Gipfels
  • 3.2. Die wissenschaftliche Eroberung des Gipfels als Objekt
  • 3.3. Der Gipfel als Ort der Macht – Die Eroberung der Berge aus Herrschaftsinteresse
  • 3.4. Der Gipfel als alpinistisches Ziel – Das Subjekt stellt sich auf und über den Berg
  • 3.5. Die Besetzung des Topos
  • 3.6. Kopf und Zahl – Die Kapitalisierung des Gipfels
  • 4. Das ist der Gipfel! Die versuchte Realisierung der patriarchalen Naturersetzungsutopie durch die Maschine
  • Innen – Topos Berginneres Die Extraktion der Rohstoffe aus dem Berginneren für die kapitalistische Verwertung
  • 1. Szenario / Verortung III: Die kapitalistische Ausbeutung des Berges Tirol, Ötztal, Längenfeld, ca. 1180 m über dem Meer 115
  • 2. Die Schätze aus dem Berginneren als geldbringender Rohstoff
  • 3. Zur Genese des patriarchalen Umgangs mit dem Berginneren Die Natur durchbohren, aushöhlen, ausbeuten, transformieren und kapitalisieren
  • 3.1. Die Dämonisierung des Berginneren
  • 3.2. Vom organischen zum mechanistisch gedeuteten Berginneren
  • 3.3. Die wissenschaftliche Eroberung des Berginneren
  • 3.4. Der Einfluss des Bergbaus auf die Entstehung des Kapitalismus
  • 3.5. Exkurs/-ion: Der Schneeberg, Beispiel für ein Bergwerk vor Ort
  • 4. Szenario / Verortung IV: Die kapitalistische In-Wert-Setzung des angeblich bis dato wertlosen und gefährlichen Rohstoffes aus dem Berginneren Tirol, Ötztal, Umhausen, ca. 1040 m über dem Meer
  • 4.1. Von der angeblich schädlichen Natur zum Gesundheitsbrunnen
  • 4.2. Der neoliberale Griff nach Wasser und Boden

  • 5. Zusammenschau Szenario / Verortung III und IV
  • 6. Zusammenschau „außen“ wie „innen“: Ausbeutung der Naturressource Wasser am Gletscher und im Berginneren
  • Unten – Topos Tal Eine künstlich-alpine Welt als angeblicher Ersatz für das Er-Leben mit und in der Natur
  • 1. Szenario / Verortung V: Die künstliche „Bergwelt“ im Tal Tirol, Ötztal, AREA 47, ca.720 m über dem Meer
  • 2. Die Schaffung der ultimativen Spielwiese für den Massentourismus
  • 3. Zur Genese des patriarchalen Umgangs mit dem Tal-Boden
  • 3.1. Von der subsistenzorientierten Produktion für den Eigenbedarf zur feudalherrschaftlichen Ausbeutung
  • 3.2. Die Kapitalisierung der subsistenzorientierten Landwirtschaft
  • 3.3. Der Tourismus als einkommensschaffende Betätigung tritt an die Stelle der kleinbäuerlichen Landwirtschaft
  • 4. Die versuchte Realisierung der Utopie einer Boden-losen Wirtschaftsform
  • 5. Zusammenschau „oben“ wie „unten“ Die versuchte Ersetzung des natürlichen Topos am Gipfel und im Tal
  • Außen + Oben + Innen + Unten – Topos Berg
  • Zusammenschau Teil I: Eine Berg-lose (touristische) Zukunft?
  • Teil II Vor und weg von der Zerstörug des BERGeLEBEN
  • Einleitung Ausweglosigkeit angesichts des Ist-Zustandes?
  • Außen – Topos Gletscher
  • 1. Schmerz und Trauer über die Zerstörung des Gletschers
  • 2. Auf der Suche nach den matriarchalen (Gletscher-Schnee-)Resten
  • 2.1. Der Topos als Wasser und Leben spendender Ort
  • 2.2. Der Gletscher als mütterlich-gebende Natur
  • 2.3. Die Paradies- und Anderswelt im und unter dem Gletscher
  • 2.4. Die Saligen als Seele der (Gletscher-)Natur
  • 3. Das, was (noch) da ist, wahrnehmen und vor weiterer Zerstörung bewahren
  • Oben – Topos Gipfel
  • 1. Der Gipfel als Tabu-Ort und Topos für eine ästhetische Wiederannäherung an die Bergnatur
  • 2. Auf den Gipfel gehen, sich ihm verwandtschaftlich zuwenden und ihn als Topos des lebendigen Berges wahrnehmen
  • 3. Eine Ästhetik der Verbundenheit in und mit der Wildnis
  • 4. Der Gipfel als Haupt der Göttin und heiliger Ort
  • 5. Den Gipfel wieder als heiligen Topos und nicht zu transformierenden Ort der tiefen Wahrnehmung der Naturverbindung „tabuisieren“
  • Innen – Topos Berginneres
  • 1. Dankbarkeit und Respekt vor der Lebendigkeit des Ortes und seinen lebensspendenden Schätzen als Ausdruck der Naturverbundenheit
  • 2. Das Berginnere als mütterlicher Ort des Lebens
  • 2.1. Das Berginnere als Wasser und Erze spendender Topos
  • 2.2. Die Anderswelt, der Ort des Übergangs
  • 3. Die Lebendigkeit des Berginneren gegenwärtig dankbar wahrnehmen
  • Unten – Topos Tal
  • 1. Das Tal als Lebensraum sowie als Topos der Fülle und möglicher Ort des guten Lebens
  • 2. Im Tal-Boden verwurzelt: Auf Spurensuche nach den matriarchalen Resten und einer naturfreundlichen Lebensweise
  • 2.1. Konkrete Orte, Sagen und Erzählungen
  • 2.2. Die Bedeutung des Subsistenzkultur-Wissens und die Frage nach der Weitergabe
  • 3. Subsistenz als neue/alte und zukunftsfähige Lebensform am Topos Tal
  • Außen + Oben + Innen + Unten – Topos Berg Zusammenschau Teil II: Der Berg als umfassender Lebensraum und DER Topos
  • Abschluss und Ausblick Folgewirksames Erkennen der Zerstörung des BERGeLEBEN
  • Literaturverzeichnis

← 10 | 11 → You can’t kill the spirit,
she is like a mountain
old and strong,
she goes on and on and on…← 11 | 12 →

← 12 | 13 → Vorwort

Vieles ist verändert worden im ursprünglich wilden und abgelegenen Bergtal, das in den letzten Jahrzehnten zur bekannten Tourismusdestination Ötztal mutierte. Das Angebot lässt keine Wünsche offen, es ist komplett und superlativ – ein alpiner Freizeitpark, der das ganze Jahr über mit Attraktionen und einer einzigartigen Bergwelt die Massen anlockt. Die Berge selbst finden sich in einem Alptraum wieder, der für sie zur Realität geworden ist. Neue touristische Projekte bedingen in ihrer Umsetzung die Ausbeutung, Bebauung, Transformation und Zerstörung der alpinen Natur. Sie wird als Objekt, Rohstoff, profitbringende Ware, Sportgerät und Kulisse behandelt – der „Logik“ von Fortschritt und Moderne entsprechend. Die Wahrnehmung der Berge als Lebendige und Lebensgrundlage hingegen scheint in ihrer angeblichen „Antiquiertheit“ obsolet geworden. An ihre Stelle tritt die Bewunderung für ihre neue, künstlich geschaffene, als „bessere“ und „vollkommenere“ propagierte Gestalt.

Berg zu sein ist eine Besonderheit. Weltweit gesehen bedecken Gebirge über 2000 Meter Seehöhe weniger als fünf Prozent der gesamten Erdoberfläche.1 Bei näherer Betrachtung – abseits von Zahlen und Fakten – zeigen sich Bergregionen als vielfältige und spezifische Lebensräume. Gegenwärtig wird dieses Besondere jedoch zerstört, um konkurrenzfähige touristische Projekte zu realisieren und somit im kapitalistischen Wettbewerb mithalten zu können. Diejenigen, die diese Projekte planen und umsetzen, sind angetreten, um aus den Bergen möglichst rasch einen möglichst hohen Profit zu schlagen – koste es selbst die Grundlage für ein zukunftsfähiges Leben: die Bergnatur selbst. Durch die touristischen Projekte, die im Alpenraum im großen Stil realisiert wurden und werden, ist dieses naturfeindliche Verhalten gegenüber den Bergen bereits zur Spitze getrieben worden. In aufwendiger Propaganda wird es als „alternativlos“ und „gut“, da modern, fortschrittlich und wettbewerbsfähig dargestellt. „Größer, höher, weiter“ lautet die Devise, denn dieses Vorgehen des „Immer-Mehr“ bringt schnellen Profit für einige wenige und angeblich Wohlstand für alle. Die Allgemeinheit findet sich inmitten beschädigter Natur als Mitlaufende ← 13 | 14 → im Fortschritt und Konsumierende der künstlich geschaffenen alpinen Tourismusangebote wieder.

Erst durch einen anderen Blick ist erkennbar, was sich in den neuen touristischen Projekten in den Alpen, konkret im Tiroler Ötztal, abspielt: Die brutale Transformation und dadurch Zerstörung der Bergnatur, geleitet durch Interessen des Fortschritts und des Kapitals. Der Ansatz der Kritischen Patriarchatstheorie erklärt dieses Vorgehen und zeigt seine Irrationalität auf: Die Unterwerfung der vorhandenen (Mutter) Natur (mater arché), ihre Transformation in angeblich Besseres, kapitalistisch Verwertbares und ihre versuchte Ersetzung durch Menschen-/Maschinengemachtes (pater arché). Ziel ist die Schaffung einer „besseren, paradiesischen“ alpinen Freizeitwelt. Tatsächlich übrig bleibt am Ende jedoch die Zerstörung in Form von künstlichen Konstrukten, weggesprengten Gipfeln, geschmolzenen Gletschern und zubetonierten Talböden, die allesamt nicht mehr in ihren natürlichen Zustand zurückversetzt werden können. Durch die Kritik an einer „väterlichen, künstlichen Schöpfung“, die sich gegen das Von-Natur-aus-Daseiende wendet und antritt, es für einen angeblich besseren Ersatz zu zerstören, verändert sich der Blick auf die Realität. Es zeigt sich die utopische, anti-natürliche und die natürlichen Gegebenheiten als Lebensgrundlage negierende „Logik“ der gegenwärtigen Zivilisation als ebenso kapitalistischer als auch patriarchaler. Der Ansatz der „Kritischen Patriarchatstheorie“, der diese beiden Ebenen zusammendenkt, erklärt die Geschehnisse konkret und vor Ort, er öffnet die Augen und lässt die Absurdität der herrschenden Zerstörungswut erkennen. Wollen wir diesem irrationalen Wahnsinn, der für historisch gesehen kurzfristige touristische Projekte und einige wenige Profiteure nicht nur weltweit sondern zusehends auch lokal und in nächster Nähe die natürlichen Grundlagen für immer zerstört, weiter widerstandslos zusehen?

Eine berg- und naturfreundliche Lebensweise als die den Bergen wirklich entsprechende hat es in der Region Ötztal sowie in den Alpen über längere Zeiträume gegeben. Sie ist auch die einzige zukunftsfähige und langfristige Perspektive für das BERGeLEBEN und die hier Lebenden. Es gilt daher aufzuwachen aus den (Männer-)Träumen eines unendlichen Fortschritts und der Schaffung einer besseren, schönen neuen Bergwelt – dem sich realisierenden Alptraum der Naturzerstörung der Alpen. Vielmehr ist die Frage zu stellen: Ist eine zukunftsfähige Lebensweise in einer beschädigten Bergnatur überhaupt noch möglich? Dies können wir nur herausfinden, wenn wir uns wider die Zerstörung wieder den Bergen als immer noch lebendigen zuwenden.

_________

1 Würtl, 2002, S. 17

← 16 | 17 → Einleitung
Am Abgrund angekommen
2

Sich Gedanken über die Zukunft des Lebens in den Bergen zu machen ist ein schwieriger Weg, bedeutet es doch, den Mainstream, die Hauptstraße zu verlassen und auf oft einsamen Bergpfaden zu wandern. Die Entscheidung, mich mit den gegenwärtigen Entwicklungen in jener Bergregion zu befassen, die mir Heimat ist, zog als Konsequenz mit sich, einen Weg gegen den Strom zu gehen und innezuhalten, um die wirkliche Situation in diesem Bergtal in den Alpen zu erkennen. Es ist eine Wirklichkeit, die zusehends von einem achtlosen und zerstörerischen Umgang mit der Natur bestimmt wird. Diese Erkenntnis ist schmerzhaft; sie bedeutet, dass das bisherige, unhinterfragt übernommene Bild einer „heilen“ Bergwelt und einer „heilsversprechenden“ Tourismuswirtschaft zu bröckeln beginnt. Es ist alles andere als leicht, einen diesen Entwicklungen gegenüber kritisch eingestellten Weg einzuschlagen, den schnelles Geld verheißenden Versuchungen zu widerstehen und mit einer Sichtweise standhaft zu bleiben, welche die Zukunftsfähigkeit der eingeschlagenen Richtung in Frage stellt. Wer den Mut hat, öffentlich gegen die Zerstörung aufzutreten, findet sich in einem Konflikt mit den Machern und Machthabern wieder, als „Einzelkämpfer_in“ gegenüber der Masse an Mitläufer_innen.3 Das Mitlaufen und Mitmachen in der Tourismusmaschinerie hingegen verheißt schnelles Geld für die Menschen im Tal. In bunten und kostspieligen Broschüren wird jede neue touristische oder wirtschaftliche Investition als unumgänglich dargestellt, jede Naturzerstörung verharmlost, beziehungsweise als notwendiges Mittel zum Zweck präsentiert. All dies sei überlebensnotwendig, es gäbe keine andere Wahl, keinen Ausweg zum bereits eingeschlagenen Weg, nur so sei der finanzielle Reichtum für alle garantiert. Kritisches Hinterfragen und der Hinweis auf mögliche ← 17 | 18 → Alternativen haben wenig Platz und bekommen kaum Aufmerksamkeit. Wer dennoch öffentlich kritisiert, wird entweder als „Spinner_in“ beschimpft oder als „unvernünftig“ hingestellt, da er oder sie gegen die angeblich sichere touristische Zukunft des Lebens im Tal aufzutreten vermag. Er oder sie sei ein_e Romantiker_in, ohne entsprechende Kenntnis der Realität, denn jede und jeder sei doch vom Tourismus abhängig und brauche ihn, inklusive seiner kapitalistischen Wirtschaftsweise, die auf ein ständiges Wachstum ausgerichtet ist.4 Als Mitmachende5 und Mitlaufende dieser Tourismusmaschinerie sind wir Konkurrierende6, die dazu angeleitet werden, dem eigenen Profit nachzulaufen sowie diesen in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns zu stellen. Wir wurden auf eine große Maschine gesetzt und fahren, ohne nach links oder rechts, oben oder unten zu schauen, immer schneller geradeaus, dem Abgrund entgegen, der den Namen „Wachstum und Fortschritt“ trägt und vor dem es kein Innehalten zu geben scheint. Die aktuelle Entwicklung geht in eine Richtung, die eigentlich das Gegenteil von dem ansteuert, was das Überleben im Tal seit Generationen sichert. So entsteht eine Verkehrung der Verhältnisse und Verhaltensweisen: Naturzerstörung statt Kooperation mit der Natur, Beton, Asphalt und Naturersatz statt Gärten, Felder und Wildnis, Zukunftslosigkeit statt generationenübergreifende Zukunftsperspektive, Ausweglosigkeit und Einbahnstraße statt Wege in eine lebensfreundliche Zukunft. Die Maschinisten heizen den Motor dieser Megamaschine weiter an und ignorieren dabei, dass es kein unendliches „Weiter“ auf einer endlichen Erde mit endlichen Ressourcen geben kann.

Inzwischen hat die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen weltweit gesehen unvorstellbare Dimensionen angenommen7 und dieser Weg wird nicht als Irrweg erkannt, mögliche Umwege nicht in Erwägung gezogen. Im Gegenteil, wir steuern ungebremst der eigentlich das Überleben bedrohenden, letzten Phase dieser modernen westlichen Zivilisation zu. Diese Endphase zeigt ← 18 | 19 → bereits ihr krisenhaftes Gesicht, ihre Zukunftslosigkeit wird in den verschiedenen katastrophalen Geschehnissen und Veränderungen deutlich. Sie alle haben eines gemeinsam, nämlich, dass sie Phänomene der „Krise der allgemeinsten Lebensbedingungen8 sind. Durch diese Krise ist die Zukunft allen (Über-)Lebens auf Erden gefährdet9, da dessen Grundlage, die Natur, unwiderruflich und vielerorts zerstört wird.

Moment! Aufnahmen von Naturzerstörung in den Alpen

Der Blick auf die Bergnatur vor Ort, lässt vier Topoi/Orte erkennen, an denen ganz konkret und aktuell Natur verändert und zerstört, ausgebeutet und zu ersetzen versucht wird:

Am Topos Gletscher ist es eine neu entwickelte Schneemaschine, die aufgestellt wird, um selbst bei hohen Temperaturen noch Kunstschnee herstellen zu können und damit den natürlich gefallenen Schnee zu ersetzen. Unweit davon wurde ein Areal für den größten Speichersee Tirols ausgebaggert und der See-Boden asphaltiert, eine Neuheit, was die Dimension und Auswahl des extremen Standortes auf fast 3000 m Seehöhe betrifft. Gefüllt wird dieser See unter anderem aus Gletscherwasser, das in Zeiten des Klimawandels und der rasant dahin schmelzenden Gletscher (noch) ausreichend vorhanden ist.

Oben verortet, auf einem der höchsten Gipfel, steht eine neue Liftstation, futuristisch „designed“ und in Windeseile gebaut, denn der Sommer ist in den Bergen kurz und Zeit wird in Geld gemessen. Die Station ist der materialisierte „Höhepunkt“ einer Denkweise, die von einem ständigen Wachstum der Tourismuswirtschaft ausgeht. Sie besetzt den Gipfel und begegnet allen möglichen natürlichen Veränderungen, wie etwa dem Auftauen des Permafrostes, vorbeugend mit modernster Hydraulik-Maschinentechnik.

Im Berginneren, einem weiteren Topos des Berges, schlummern Ressourcen, die als Heilwasser genutzt werden, jedoch plötzlich nicht mehr frei zugänglich sind, sondern „exklusiv“ gegen Bezahlung zur Verfügung stehen. Nur so bringt der Wellness-Geld-Tempel in Kathedralen-Architektur10 Profit. Es ist eine angeblich nie versiegende, sogar wachsende (Geld-)Quelle, die wiederum Ausbau, ← 19 | 20 → Zubauten und noch mehr Wasser erfordert. Andernorts befindet sich eine weitere Ressource, die plötzlich als wertvoller Rohstoff gilt, um sie vermarkten und so im touristischen Wettbewerb mitlaufen zu können. Es wird geplant und verhandelt, das anfängliche Fehlen von für die Kurhotel-Infrastruktur nötigem Grund und Boden stellt dabei kein Hindernis dar. Die Grundbesitzer werden vor die Entscheidung gestellt: schnelles Geld durch Verscherbeln fruchtbaren Bodens oder Beibehaltung der Grundlage für ein mögliches subsistenzorientiertes Kleinbauern-Leben? So können die in den Bergen begrenzt vorhandenen Gründe in bester und sonnigster Lage, nachdem sie in einem ersten Schritt von der Gemeinde angekauft und dadurch kurzzeitig zu Gemeindegut werden, das heißt allen gehören, schlussendlich in neoliberaler Manier einem auswärtigen Investor kostenlos zur Verfügung gestellt und damit privatisiert werden.

Am Topos Tal dehnt sich eine künstliche Spaß-Welt aus, durch deren (Aus-)Bau Kulturlandschaft zerstört wird. Mit dieser Gegenwelt inmitten der Berge wird das eigentlich überall mögliche Naturerlebnis ausgeklammert und zu ersetzen versucht. Das Resultat bietet als eingezäuntes Areal künstliche Kletterwände statt Fels, sowie Beton, Asphalt und künstlich angelegten Sandstrand statt Wiesen, Wald und Feld, Events und „Spaßkultur“ statt Agrikultur.

Außen am Gletscher, oben auf dem Gipfel, im Berginneren sowie unten im Tal: vier Orte und Beispiele eines zerstörerischen Naturumgangs, der vor Ort und gegenwärtig Realität wird. Angeblich ist dieser Prozess der Naturzerstörung sowie das ständige Streben nach Wachstum und innovativen Angeboten für den Massentourismus notwendig, um im globalen Wettbewerb mitlaufen zu können. In diesem tödlichen „Spiel“ geht es darum, die Konkurrenz zu besiegen und für sich den größten Profit herauszuschlagen, koste es selbst die Zerstörung der wirklichen Grundlage für das zukünftige Leben im Tal, die Zerstörung der Bergnatur.

Um die gegenwärtige Zivilisation als patriarchale und ihre Utopie einer Schöpfung aus Zerstörung in ihren versuchten Materialisierungen vor Ort zu erkennen sowie in Folge die gegenwärtige Krise als „Krise der allgemeinsten Lebensbedingungen11, ist es notwendig, mit der Frage zu beginnen: Wie ist das Verhältnis zur Natur beschaffen? Diese Frage ist an den Anfang zu stellen, handelt es sich beim Naturverhältnis doch um die grundlegende und alles bestimmende Beziehung im zivilisatorischen Zusammenleben, das nach Renate Genth12 insgesamt in fünf Verhältnissen geschieht: dem zur Natur, zwischen den ← 20 | 21 → Generationen, den Geschlechtern, dem politischen sowie dem Transzendenz-Verhältnis. Die Art und Weise wie eine Zivilisation mit der Natur umgeht, gibt die Richtung vor, an der sich die übrigen Verhältnisse orientieren.13 Das Naturverhältnis umfasst das Tun, das Tätig-Sein in der Natur und damit die Wahrnehmung von Natur beziehungsweise die Art von Kultur, die sich aus der Erfahrung im Umgang mit der Natur bildet und in einer bestimmten Form von Ökonomie und Technik mündet. Je nachdem wie sich dieser Umgang mit der Natur gestaltet, ob es ein freundlich-kooperierender oder feindlich-zerstörerischer ist, ist die jeweilige Zivilisation als matriarchale oder patriarchale zu charakterisieren.14 Dementsprechend gestalten sich die übrigen Verhältnisse: die Ordnung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens im politischen Verhältnis ist egalitär und auf das Gemeinwohl ausgerichtet oder hierarchisch und zum Nutzen einiger weniger sowie von Machtgier geprägt. Der Umgang zwischen den Generationen respektvoll, freundlich und anerkennend oder ausklammernd, entfremdet und individualisiert. Männer und Frauen begegnen sich im Geschlechterverhältnis kooperativ, wertschätzend oder getrennt und diskriminierend. In einem matriarchalen Transzendenzverhältnis werden die Fragen nach dem Woher und Wohin des Lebens aus dem wahrnehmend-freundlichen Umgang mit der Natur sowie der Erkenntnis der Verbundenheit alles Seienden15 beantwortet.

Um die Tragweite der Art und Weise, wie das Naturverhältnisses gestaltet ist, verstehen zu können, erscheint es sinnvoll, sich zuallererst der etymologischen Bedeutungen der Begriffe zuzuwenden. Dies ist eine aufschlussreiche Methode, ermöglicht sie es doch, die Denk- und Lebensweise, welche zur Formung eines Begriffes führten und sich in diesem konzentrieren, zu erkennen. Die Entstehung der Begriffe und Namen ist nie beliebig, sondern konkret, in ihr drückt sich das aus, was im Tätig-Sein sinnlich wahrgenommen wurde16. Wenden wir ← 21 | 22 → uns der etymologischen Herkunft des Begriffes „Natur“ zu, so erkennen wir, dass damit „geboren werden“17 gemeint ist und das Wort „Geburt“ in begrifflicher Nähe dazu steht. Ebenso steht „Berg“ in begrifflicher Verwandtschaft mit „gebären“ und „Geburt“.18 Die Geburt ist das grundlegende, anfängliche und sich ständig wiederholende Ereignis für das menschliche19 Fortbestehen des Lebens auf Erden, die Protagonist_innen dieses Geschehens sind die Mutter und ihr Kind. Es lassen sich also mehrere Bedeutungen erkennen, die in diesem einen Wort „Natur“ gebündelt sind: das Verbunden-Sein durch die Mutter-Kind-Beziehung - „die engste und wichtigste aller menschlichen Verbindungen überhaupt20 - der Ursprung oder Anfang und das Leben, die Lebendigkeit. Dies alles ist mit gemeint, wenn Natur ihrer ursprünglichen Begriffsbedeutung entsprechend wahrgenommen wird.

Wie gestaltet sich nun daraus ein entsprechendes, freundliches Verhältnis zur Natur? Wird Natur in einer Gesellschaft ihrer etymologischen Herkunft nach als der Ursprung allen Lebens wahrgenommen und richtet sich danach das gemeinschaftliche Zusammenleben in den übrigen zivilisatorischen Verhältnissen aus, handelt es sich um eine matriarchale Zivilisation. Natur wird hier als eine Mutter (mater) betrachtet, die den Anfang/Ursprung (arché) und die Grundlage des Lebens bildet: aus „mater arché“ wird „matriarchal“. Alle Lebewesen sind in Folge ebenbürtige, da aus der gleichen Mutter (Natur) geborene Geschöpfe.21 Die zivilisatorischen Verhältnisse werden aufgrund dieser natürlichen Ebenbürtigkeit egalitär, kooperativ und lebensfreundlich gestaltet, alle Lebewesen sind miteinander verbunden, es gibt keine Hierarchien oder Trennungen. Das Transzendenzverhältnis orientiert sich an der Auffassung von der „Verbundenheit alles Seienden22 und einem zyklischen Leben-Tod-Leben-Kreislauf. Die dazugehörige Kultur, die sich aus dem tätigen Umgang, aus der alltäglichen Kooperation ← 22 | 23 → mit der Natur bildet, pflegt23 die Lebensfreundlichkeit und sorgt sich um den Weiterbestand des Lebens und der Natur. Eine solche Kultur orientiert sich an der Lebendigkeit der Natur mit ihren Jahreszeiten und Kreisläufen sowie an der Gestalt der Landschaft24. Ein naturverbundenes Leben in den Bergen ist demnach geprägt vom Respekt vor der Natur und der Akzeptanz, dass nur bestimmte Gebiete für die menschliche Nutzung zur Verfügung stehen und andere nicht für ein dauerhaftes Leben geeignet sind. So werden Äcker, Felder und Gärten etwa dort angelegt, wo es von Natur aus am sinnvollsten erscheint; für Menschen ungünstige Gebiete, die durch Steinschlag, Überschwemmung oder Lawinen gefährdet sein könnten, werden so gut es geht gemieden. Natur, Berg, Mutter, Matriarchat, sie alle gehören ihrer ursprünglichen Bedeutung nach zu ein und demselben Begriffsfeld. Erst später wird aus „arché“ die „Herrschaft“25, in der Verbindung mit „pater“ entsteht so die Herrschaft des Vaters und Mannes über die Natur, die Frauen und Mütter, und, wie es im Zuge dieser Forschungsarbeit nachzuweisen gilt, auch über die Berge.

Damit richtet sich der Blick auf die zweite Gestaltungsbewegung der Verhältnisse einer Zivilisation, die die Kritische Patriarchatsforschung von der matriarchalen unterscheidet26, sie ist die patriarchale oder naturfeindliche. Anders als ihrer Begriffsherkunft nach werden die Natur und die Mutter (mater) hier nicht als Ursprung (arché) des Lebens wahrgenommen, sondern der Vater (pater) und/oder seit der Moderne die von ihm geschaffene Maschine an ihre Stelle gesetzt27. Statt Kooperation mit der Natur ist es die Herrschaft über sie, welche den Umgang mit der Natur bestimmt. Der Natur wird ihre Fähigkeit, das Leben hervorzubringen/zu gebären28 abgesprochen, sie wird nicht mehr als lebendiger Organismus wahrgenommen, sondern zur leblosen, toten Materie29 degradiert. Das Verhältnis zu ihr ist demnach ein objektivierendes, feindliches ← 23 | 24 → und entfremdetes, es ist zunehmend gestört und von Zerstörung bestimmt, kriegerisch30 und gewalttätig. Nicht das achtende Miteinander und die Sorge um ein zukunftsfähiges, „gutes Leben“31 für alle prägen in Folge die übrigen zivilisatorischen Verhältnisse zwischen Geschlechtern und Generationen, die Politik und die Vorstellung von Transzendenz. Deren Gestaltung orientiert sich viel mehr am Prinzip des „Teile und Herrsche“32, an der Macht über andere, an der versuchten Trennung und Individualisierung und an der Lebensfeindlichkeit. Die Verbindung zur Natur sowie die Wahrnehmung der „Verbundenheit alles Seienden“ sind gestört.

Wir erkennen: Die Wahrnehmung dessen, was Natur ist, verhält sich im Patriarchat gegensätzlich zu jener im Matriarchat. Das patriarchale Handeln entspricht der begrifflichen Bedeutung von Natur und den Erfahrungen, die ursprünglich im Umgang mit der Natur gemacht wurden, nicht. Die Bewusstwerdung der Begriffsbedeutung lässt aber auch die Schlussfolgerung zu, dass es vor dem gegenwärtigen zerstörerischen Naturumgang ein anderes, freundlich-kooperierendes Verhältnis zur Natur gegeben haben muss. Dieses Verhältnis wurde in einem Prozess der Naturentfremdung und -zerstörung verändert, manipuliert und gestört. Durch die Perspektive der Kritischen Patriarchatstheorie und die soeben erarbeiteten Begriffe ist es möglich, die Veränderung des Verhältnisses zur Natur von einem freundlich-verbundenen zu einem feindlich-entfremdeten als einen kontinuierlichen Prozess33 der Patriarchalisierung zu analysieren, der sich systematisch und in allen Bereichen durch die Jahrhunderte zog, bis zur gegenwärtigen überlebensbedrohenden Krise, in der sich die moderne westliche Zivilisation befindet.34

← 24 | 25 → Der Prozess der Patriarchalisierung findet auch im Alpenraum statt. Dies zu erkennen ist möglich, wenn man sich der Begriffe und Thesen der Kritischen Patriarchatstheorie bedient und diese auf die historischen sowie gegenwärtigen Entwicklungen anwendet.35 Vor allem letzteres, die patriarchatskritische Analyse derzeitiger Geschehnisse, soll in der vorliegenden Arbeit im Mittelpunkt stehen. Ein erster Überblick aus der Perspektive der Kritischen Patriarchatstheorie zeigt die Methoden, mit welchen die Entfremdung und Zerstörung von Natur durchgesetzt wurden und werden. Sie ermöglichten es der modernen westlichen Zivilisation mit ihrer kapitalistischen Ökonomie und ihrem maschinentechnisch geprägten Umgang mit der Natur selbst in den entlegenen Tälern, im Schoß der Berge, Fuß zu fassen.36 Die ehemals als lebendig, heilig und mütterlich wahrgenommene Natur37 wurde dadurch auch für die Menschen in den Alpentälern zu einem entfremdeten Objekt: im Prozess der Auslöschung des Erfahrungswissens über sorgsame Formen im Umgang mit der Natur, etwa im Zuge der Hexenverfolgung38; in der Wertlosmachung und Verdrängung von Subsistenztätigkeiten und kleinbäuerlichen Wirtschaftens durch Industrialisierung und kapitalistische „Verwertung“ allen Lebens in Geld39; im Prozess der Objektivierung und Neueroberung der Berge durch die modernen Naturwissenschaften40 und den Alpinismus41; in der durch maschinentechnische Errungenschaften rasant gesteigerten Naturtransformation und –zerstörung bis hin zur Kapitalisierung von Natur und ← 25 | 26 → Kultur als profitbringende Waren. Letzteres geschieht in den Alpen gegenwärtig unter anderem durch die kapitalistische Tourismuswirtschaft mit ihren aktuellen Auswüchsen, der tatsächlichen versuchten Realisierung der patriarchalen Utopie einer Schöpfung aus Zerstörung, etwa in der Kunstschnee-Produktion. Ziel dieser Methoden ist es, letztlich und endgültig ein neues „Leben“ unabhängig von der Natur und den Müttern zu schaffen. Das natürliche Leben, die Natur, genügt angeblich den Ansprüchen der kapitalistischen Wachstumsideologie nicht mehr und kann ihr gar nicht genügen, da es kein unendliches Wachstum auf einer endlichen Erde geben kann. Natur müsse daher verbessert, transformiert und schließlich durch einen kontrollierbaren, maschinentechnisch hergestellten Naturersatz ausgewechselt werden. Letzteres, die wirkliche Ersetzung der Natur durch Maschinen und Kunstwelten, durch eine „Zweite Natur“42, wäre die Verwirklichung der Utopie des „pater arché“, eines Lebens aus dem Vater und/oder der Maschine, unabhängig von Frauen und (Mutter) Natur. Diese Vorstellung ist deswegen als utopisch zu bezeichnen, da ihre endgültige Umsetzung letztendlich nicht möglich ist. Es würde die totale Zerstörung und Abstraktion von jedem konkreten Ort/Topos sowie von der Natur bedeuten. Der Weg zur Umsetzung dieser patriarchalen Utopie einer Unabhängigkeit von der Natur ist allerdings längst eingeschlagen, die Umsetzungsversuche zeigen bereits ihre zerstörerischen Folgen43, auch in den Bergen.

Der Berg als Objekt der Transformation, Zerstörung und Profitgewinnung

Der erste Teil der vorliegenden Arbeit hat zum Ziel, anhand der Begrifflichkeiten und Thesen der Kritischen Patriarchatstheorie, die Geschehnisse vor Ort neu und anders zu betrachten, indem sie als konkrete Umsetzungen der patriarchalen Utopie einer Naturersetzung und „Schöpfung aus Zerstörung44 erkannt und als solche aufgedeckt werden. Es geht um die Beantwortung der Frage, inwieweit der Prozess der Patriarchalisierung bereits fortgeschritten ist, ehe in einem zweiten Teil die Erarbeitung von möglichen Auswegen aus dieser „Sackgasse“ erfolgt. Die Vorgehensweise des dieser vorliegenden Arbeit vorangegangenen Forschungsprozesses erstreckte sich dabei vom bereits erwähnten ← 26 | 27 → Ausgangspunkt der eigenen Lebensgeschichte, die an einem markanten Ort inmitten hoher Berge wurzelt, hin zu vier verallgemeinerten Topoi/Orten und konkreten Szenarien, die den Berg mit den Zuschreibungen „oben – unten – innen – außen“ charakterisieren sollen. Diese vier ausgewählten Topoi/Orte und das dort stattfindende Geschehen sind nicht als abgetrennte und für sich stehende Schauplätze beziehungsweise Vorkommnisse zu sehen. Vielmehr sind sie Manifestierungen und Konkretisierungen eines übergreifenden Prozesses, dem der patriarchalen Naturentfremdung, sowie eines umfassenden Topos: dem Berg. Mit „oben“ ist der Gipfel gemeint, „unten“, das ist das Tal, „innen“, darunter fällt der Umgang mit den Naturschätzen im Berginneren, und „außen“, das ist der Gletscher. Insgesamt ergibt dies vier Orte und unzählige Beispiele von Naturzerstörung, -besetzung, -eroberung, -transformation und versuchter Naturersetzung. Es sind ausgewählte Szenarien, an denen die Erkenntnisse der Kritischen Patriarchatstheorie hier, vor Ort sichtbar gemacht werden, ehe die Beantwortung der Frage nach möglichen neuen und alten, anderen Wegen in ein zukünftiges naturfreundliches Leben in den Bergen erfolgt. An diesen vier Orten und an den konkreten Beispielen wird deutlich, dass sich die verschiedenen Entwicklungen und Prozesse, die auf der Makro-Ebene stattfinden45, auch im lokalen, regionalen Raum durchzusetzen beginnen. Anhand der Kritischen Patriarchatstheorie ist es möglich, die Vorgehensweise, die diesen Beispielen zugrunde liegt, beziehungsweise das Denken, welches die Umsetzung derselben erst ermöglicht, in seiner gesamten Dimension zu erkennen, als die patriarchale Utopie einer Schöpfung aus Zerstörung und deren bereits begonnene, versuchte Materialisierung. Indem sich der Blick ändert und eine andere Perspektive eingenommen wird, die versucht, sich auf die Seite der Natur46 zu begeben, werden folgende utopische Geschehnisse an den vier Berg-Topoi sichtbar, die hier kurz präsentiert und im anschließenden ersten Teil eine intensive Betrachtung erfahren werden:

Der Berg als tote Ressource für die Maschinen-Schöpfung aus Zerstörung

Mit der Erfindung der Maschine47 beginnt ein neues Kapitel moderner Naturbeherrschung und -transformation. Durch maschinentechnische Errungenschaften ← 27 | 28 → potenziert sich die menschliche Kraft und Möglichkeit, Natur über das auf Kooperation und Lebensfreundlichkeit ausgerichtete Maß hinaus zu transformieren. Die patriarchale Utopie einer Ersetzung der Natur wird in der Tat umzusetzen versucht48, indem ein besseres, maschinenhergestelltes „Leben“ an ihre Stelle tritt. Dieser Prozess hatte und hat Auswirkungen auf das Denken und Handeln, veränderte den Umgang mit Natur und damit die Gestaltung der übrigen Verhältnisse einer Zivilisation, wie Genth es im umfassenden Begriff der Maschinisierung49 allgemein gültig ausdrückt. Auch die Wahrnehmung von Natur wird zusehends vom Umgang mit und Einsatz der Maschine geprägt.50 Sie wird zum idealen „Vorbild“, immer verfügbar, kontrollierbar, von Menschenhand geschaffen, von Naturzyklen unabhängig und stets zu seinen Diensten bereit. Natur muss auf einmal der Maschine entsprechen51, sie wird an der Maschinenlogik gemessen.52 Da sie die Kriterien der künstlich hergestellten Maschine nicht erfüllt, gilt sie als knapp, karg53 und unkontrollierbar, was ihre Ersetzung durch das kontrollierte, abrufbereite Maschinenprodukt, die „bessere“, „zweite Natur“54, erst recht rechtfertigen soll.

Am konkreten Ort, dem Topos Gletscher, ist es eine neu entwickelte Schneemaschine, die von Menschenhand geschaffen das herstellt, was von Natur aus unmöglich ist: Kunstschnee selbst bei Temperaturen weit über dem Gefrierpunkt als maschinell hergestellten Schnee-Ersatz anstelle natürlich gefallener Schneekristalle. Kunstschnee ist angeblich besser, haltbarer und in Zeiten des Klimawandels zukunftsfähiger. Er ist ein Produkt der Neuschöpfung, der menschlichen Schöpfung aus Zerstörung, denn das Wasser, das in Kunstschnee ← 28 | 29 → umgewandelt wird und damit „verschwindet“, kommt aus dem Schmelzwasser des Gletschers, der seinerseits durch den von Menschen verursachten Klimawandel55 zerstört wird und (ver)schwindet.

Der Berg als profitbringende Ware für die kapitalistische „Verwertung“

Der Kapitalismus, nicht nur als die Ökonomie der modernen-patriarchalen Zivilisation56, sondern als „das zentrale Projekt patriarchaler Verwirklichung57, hat den Umgang mit Natur dahingehend verändert, dass sie als profitbringender Rohstoff, als potentielle Ware wahrgenommen und transformiert wird58. Sie ist aus dieser Perspektive gesehen käuflich erwerbbar und Objekt der Aneignung, ihre Transformation in Geld und Kapital59 rechtfertigt angeblich ihre Ausbeutung und Zerstörung. Alles Leben, das nicht in die kapitalistischen Verwertungsmühlen gelangt, gilt als „wertlos“, da es nicht in Geld- oder Kapitalwert gemessen und nicht angeeignet werden kann. Der Aufstieg des Kapitalismus stützte sich auf die veränderte Wahrnehmung von Natur als Objekt und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen als Waren.60 Was bedeutet dies hinsichtlich des Berg-Topos „Innen“?

Die im Berginneren schlummernden Heilquellen werden nicht mehr als Lebensquellen wahrgenommen, als ein Geschenk der Natur, das allen zur Verfügung steht. Das Wasser aus dem Berg wird zur auszubeutenden Ressource, zur Ware, deren Wert ausschließlich an monetären Kriterien gemessen wird.61 Das Tun und Tätig-Sein in und mit der - oder in diesem Falle eigentlich gegen die - Natur wird durch kapitalistische Profit- und Wachstumskriterien bestimmt. Die Menschen vor Ort werden vom Boden getrennt62, indem sie ihn angesichts ← 29 | 30 → der Versprechungen vom schnellen Geld leichtfertig verkaufen. „Gewinner“ des Ganzen sind allerdings nicht die Allgemeinheit, sondern nicht lokale, nicht verortete, private Investoren, die keinen Bezug zu dem haben, was vor Ort zu einem wirklichen „guten Leben“63 führt.

Der Berg als Objekt und Sportgerät sowie als „Vorbild“ für die ihn ersetzende Kunstwelt

Erst die Objektivierung der Natur durch die modernen Naturwissenschaften und damit ihr Tod64 als lebendige Mutter/Materie öffnete die Schranken für eine umfassende und alle Bereiche des zivilisatorischen Zusammenlebens prägende Verformung und Zerstörung, Überwindung und versuchte Ersetzung von Natur. Als angeblich totes Objekt, getrennt vom menschlichen (Mit-)Empfinden, kann Natur „beliebig“ zerstört werden, ihre Bedeutung als eigentliche Grundlage des Lebens wird ausgeklammert und negiert. Da Natur den kapitalistischen Ansprüchen von Profitmaximierung und Wachstum nicht genügt, wird an ihre Stelle von Menschenhand und durch Maschinentechnik unterstützt eine bessere, künstlich hergestellte „Zweite Natur“ geschaffen.

So gesehen entsteht „unten“, im Tal, eine künstliche Spaß-Welt, welche Kulturlandschaft zerstört und als Gegenwelt inmitten der Berge das eigentlich dort überall mögliche Naturerlebnis ignoriert und zu ersetzen versucht. Behmanns Analyse des kapitalistisch-patriarchalen Naturtransformationsprojektes mit dem Ziel, die Natur „letztlich in ihr exaktes Gegenteil, ein maschinentechnisch produziertes `Schlaraffenland` für Konsumbedürfnisse“65 zu transformieren, trifft es hier auf den Punkt. In der künstlich hergestellten Spaß-Welt, dem „Adrenalin-Schlaraffenland“, werden die Erlebnisse als die „Highlights“, also als „höherwertig“ dargestellt denn jene in und mit der Natur. Auch diese Spaß-Welt ist u-topisch, da sie überall und nirgends, nirgend-wo, also ohne Bezug zum Ort und Topos, geschaffen werden kann. Die Besucher dieser künstlichen Spaß-Welt ← 30 | 31 → brauchen eigentlich gar nicht mehr mit der umgebenden Natur, dem Topos und der mit ihm immer noch verbundenen Kultur in Verbindung zu treten, da sie im abgeschotteten Areal66 alles vorfinden, was ihrem durch Werbung geweckten oberflächlichen Konsumbedürfnis nach Events und „Spaß-Kultur“ entspricht. Auch hier, unten im Tal, ist die geldbestimmte Vereinnahmung als Raub, die „fortgesetzte ursprüngliche Akkumulation“ durch das kapitalistische Patriarchat zu erkennen, beispielsweise in der Aneignung riesiger Flächen an vormals für alle kostenlos zugänglichem, daher freiem Erholungs- und Naturraum durch einige wenige und zum Spaß von wenigen. Sie müssen für das Erlebnis in der durch Naturzerstörung geschaffenen Kunstwelt sogar Eintritt bezahlen.

Der Berg als zu eroberndes Objekt für die maschinentechnische Erschließung

Die Objektivierung von Natur als beliebigen Ort geschieht hinsichtlich der Berge unter anderen mit der Methode der Verleumdung67 einer vormaligen Wahrnehmung von einer mütterlichen Natur68 und der Zuschreibung von neuen Charaktereigenschaften wie karg, gefährlich69 und feindlich70. Der Gipfel, ehemals heiliger Ort, wird entsakralisiert71 und in Folge eine Zeit lang noch personalisiert als „Feind“72 wahrgenommen, den es mit dem aufkommenden Interesse der ← 31 | 32 → modernen Naturwissenschaften an den Bergen auch alpinistisch73 zu erobern gilt. In einem weiteren Schritt der Objekt-Setzung74 stellt sich der Forscher, der Alpinist, also das Subjekt, über die Natur75 als die nun nicht mehr personalisierte, tote Materie. Wahrgenommen wird der Gipfel erst wieder als „guter“ und „wertvoller“ Ort, indem er besetzt76 und als neuer Bedeutungsort „aufgewertet“ wird. Dies geschieht christlich-religiös geprägt durch das Aufstellen von Gipfelkreuzen, subjektzentriert durch die Wahrnehmung als „Gerät“ und Ziel diverser alpinistisch-sportlicher Betätigungen oder kapitalistisch verwertend als Kulisse für die touristische Bewerbung. Der Gipfel wird schließlich zum elitären und exklusiven Aufenthaltsort für Skifahrer_innen, denen er für kurze Zeit ein schnell erreichbares, teures Konsumvergnügen ermöglicht. Allen anderen wird der Gipfel in seiner ursprünglichen Form und Bedeutung entzogen, indem er besetzt, verformt und bebaut – buchstäblich kolonisiert77 – wird.

Die neue Liftstation „oben“, am konkreten Topos Gipfel, vereinnahmt diesen, überformt ihn und bildet einen neuen Aufbau, durch den mit Maschinentechnik auf „bessere“, schnelle und bequeme Art und Weise den Menschen die Berge „näher“ gebracht werden sollen. Maschinentechnische Erschließungen wie die erwähnte und im Weiteren noch ausführlich zu betrachtende Seilbahnstation sind eine maschinenlogische Formierung78 im wahrsten Sinne des Wortes, indem auf dem Gipfel eine maschinentechnisch hergestellte Form gestellt wird. Die Station wird somit zum materiell gewordenen „Höhepunkt“ der touristischen Wachstumsideologie. Sie besetzt den Gipfel und begegnet möglichen Naturveränderungen im Zuge des auftauenden Permafrostes, eine Auswirkung ← 32 | 33 → des weltweiten Klimawandels in den Alpen, präventiv mit modernster Hydrauliktechnik. Die Gipfel beginnen zu bröckeln? Kein Problem! „We are making a new top of the mountain.79 – Wir, die Macher, erschaffen uns die Bergspitzen selbst, sollten diese zerfallen. Ein neuer, von Menschenhand geschaffener Gipfel, das wäre die totale Umsetzung der patriarchalen Naturersetzungsutopie von diesem Topos und an diesem Ort.

Die Beispiele des gegenwärtigen Naturumgangs an den vier Berg-Topoi zeigen durch den Wechsel der Perspektive80 plötzlich ihr wahres, zerstörerisches Gesicht, machen betroffen und führen schmerzhaft vor Augen, wie sehr wir uns von einer lebensfreundlichen und die Natur achtenden Kultur entfernt haben. Diese Entfremdung ist Resultat des Prozesses der Patriarchalisierung, der durch verschiedene Methoden umgesetzt werden konnte: der Verleumdung der Natur als Grundlage allen Lebens, ihrer Objektivierung, Eroberung und Besetzung, ihrer Verformung und Zerstörung, ihrer maschinentechnischen Erschließung und schließlich ihrer Überwindung und versuchten Ersetzung durch Neuschöpfungen. Die Auswirkungen der Entfremdung von der Natur und der ursprünglichen Kultur bis in die Gegenwart und die aktuellen Szenarien eines darin enthaltenen, die Natur versachlichenden, zerstörerischen und entfremdeten Naturumganges sind es, die eigentlich befremden (müssten). Die Zukunft des Lebens in den Bergen scheint ausweglos, alternativlos und einspurig zu sein.← 33 | 34 →

_________

2 Bei diesem Text handelt es sich um eine überarbeitete und erweiterte Version folgenden Beitrags: Scheiber, Ursula: AUS – der Zerstörung – WEG!? Aktuelle Formen des Naturumgangs in den Ötztaler Alpen und das sinnliche Wahrnehmen als Wegweiser in ein naturfreundliches Leben in und mit den Bergen, in: Projektgruppe „Zivilisationspolitik“, 2011, S. 149-178.

3 Der Philosoph Günther Anders meinte schon vor beinahe 50 Jahren, dass „eine Kritik der Technik heute bereits eine Frage von Zivilcourage“ ist. Anders, 1968, S. 3

4 So oder ähnlich die Reaktionen auf kritische Aussagen die Zukunft dieses „Systems“ betreffend. Vgl. dazu: AutorInnengemeinschaft, 2003.

5 Dabei wird jegliche Moral in der Art von Wirtschaft, an der wir mitwirken, ausgeblendet. Vgl. Anders, 1968, S. 286 und 292

6 Eigentlich handelt es sich bei „laufende Konkurrenten“ um eine Tautologie, in konkurrieren steckt das lateinische Wort „currere“ für laufen. Ich verwende die beiden Begriffe gemeinsam, um die Bedeutung und Geschwindigkeit, die damit impliziert wird, deutlicher hervortreten zu lassen.

7 Man denke zum Beispiel an die Rodung der Regenwälder, an die Luftverschmutzung, an die Ausbeutung der Böden, die Verschmutzung der Gewässer, das Artensterben, an den Klimawandel und die Gletscherschmelze.

8 Vgl. Behmann in: Projektgruppe Zivilisationspolitik, 2009, S. 108

Details

Seiten
368
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653044133
ISBN (ePUB)
9783653986365
ISBN (MOBI)
9783653986358
ISBN (Hardcover)
9783631651575
DOI
10.3726/978-3-653-04413-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Dezember)
Schlagworte
Naturschutz Alpinismus Kunstschnee Gletscher
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 368 S.

Biographische Angaben

Ursula Scheiber (Autor:in)

Ursula Scheiber studierte Politikwissenschaft in Innsbruck und Santiago de Compostela (Spanien). Die promovierte Politologin ist außerdem geprüfte Bergwanderführerin.

Zurück

Titel: BERGeLEBEN
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
370 Seiten