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Krise der lokalen Kulturen und die philosophische Suche nach Identität

von Heimo Hofmeister (Band-Herausgeber:in) Ivan Mikirtumov (Band-Herausgeber:in)
©2014 Konferenzband 232 Seiten

Zusammenfassung

Das Thema Krise der lokalen Kulturen und die philosophische Suche nach Identität fordert zu allererst eine Bestandsaufnahme politischer Kulturen hinsichtlich ihres Staatsverständnisses und deren Voraussetzungen zur Identifikation mit dem jeweiligen Staat. Die zweite Forderung richtet sich an die Philosophie und fragt nach konkreten Wegen für eine Gemeinsamkeit, deren Basis Freiheit ist, nicht trotz sondern um der Verschiedenheit des Herkommens und des Denkens willen. Erstaunlich ist, dass eine Tagung zu diesem Thema, weniger wegen der unterschiedlichen gesellschaftlichen und nationalen Erfahrungen der russischen und deutschen Wissenschaftler, sondern eher wegen der oft kontroversen Zugänge verschiedener Fachdisziplinen Fragen aufwirft.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Vorwort
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Nietzscheaner als biographischer Typ (zum Problem der Identifikation in der Kultur)
  • Die Kultur der Gerechtigkeit. Gemeinsame und unterschiedliche Traditionen in modernen Wohlfahrtsstaaten
  • Die Haltung der Versöhnung
  • Zwei Typen der Generationsdynamik in Russland und in Deutschland
  • Zweierlei Katastrophen: Unterschiede in der Erinnerungskultur zwischen Deutschland und Russland
  • Zur Beantwortung der Frage: Gibt es fűr moderne Individuen kulturelle Verpflichtungen?
  • Trägt der Staat eine Verantwortung für Krisen zwischen ihm und lokalen Kulturen?
  • Russisch-jüdische Zuwanderer-Eltern über doppelte Integrationsleistung ihrer Kinder in Deutschland
  • Drei „Opfer“ in der Gedächtniskultur Deutschlands
  • “Kultur” und “Nation” in beweglichen Begriffsspielen
  • Philosophisch-kulturelle Voraussetzungen des Dialogs zwischen Russland und Europa
  • Erwerb der Rationalität in der Identifikation der Menschheit
  • Begriff der Nation und Problem der nationalen Selbstbestimmung des Volkes in Jo. G. Fichtes „Reden an die deutsche Nation“
  • Bürokratie und lokale Kulturen – Überlegungen zu ihrem Verhältnis im Anschluss an Max Weber
  • Die Idee der positiven Philosophie Schellings im gegenwärtigen Kontext
  • Identität und Perspektive, Realität und Vorstellung – Kultur als Bezugspunkt in der Suche nach Stabilität im Wandel
  • The Religious Dimension of Intercultural Education and the Search for Identity
  • Das Problem der russischen Auslandsgermanistik: Fremdkulturalität als Krisenbewältigung

← 8 | 9 → Nietzscheaner als biographischer Typ (zum Problem der Identifikation in der Kultur)

Ljudmila E. Artamoschkina Staatliche Universität St. Petersburg

Als wir uns dem Ursprung des Nietzscheaners als eines biographischen Typs in der Kultur der Moderne zuwandten, formulierten wir eine Hypothese, die darin besteht, dass Formung des biographischen Typs mit dem Prozess der Mythenbildung und mit Besonderheiten der Funktionsweise von Gestalten innerhalb der Kultur zusammenhängt. Versuchen wir klarzustellen, wie eine Gestalt ihren Einfluss auf die Kulturentwicklung, in diesem Fall geht es um Kultur der Moderne, auf Generationen, auf Prozesse der individuellen und kollektiven Identifikation ausübt. Herkömmlicherweise beachtete man bei der Analyse der Generation den Charakter der sozialgeschichtlichen Bedingtheit von Leben, von menschlichem Verhalten. Dabei ist auch die Rückwirkung ganz evident: der Einfluss einer Persönlichkeit mit ihrer einmaligen und unwiederholbaren Erfahrung, ihrer Biographie – auf das Sozium.

Welche Formen nimmt die Verankerung und Erhaltung des Individuellen in der Kultur an? Das Individuelle bleibt in der Kultur durch den Namen erhalten. In Formen des Biographischen werden wir mit einem Eigennamen konfrontiert, der zum Gattungsnamen geworden ist und etwas Typisches in der Geschichte und Kultur bezeichnet/verankert hat: Napoleomanie, Byronismus, Voltairianer, Nietzscheaner. Apropos: in einer Diskussion über Marx, Nietzsche und Freud erwähnte M. Foukauld das Wort „Nietzscheaner“, als er im Allgemeinen über die sprach, die Nietzsche interpretieren, indem sie sich seine „Gemeinplätze“ aneignen. Nietzscheaner sind die, die Nietzsche deuten, indem sie in ihren Interpretationstechniken diese Gemeinplätze verwenden und gleichzeitig zu deren Erzeugung beitragen. In einem gewissen Sinne sprechen wir auch von „Interpretationstechniken“, wenn wir den Begriff „biographischer Typ“ verwenden. Den genannten Typen liegt also ein Name zugrunde, der ein Eigenname war und ein Gattungsname wurde. Unter welchen Bedingungen bildet sich der biographische Typ in der Kultur?

Es sei bemerkt, dass sich der Typ des Nietzscheaners gerade unter bestimmten kulturhistorischen Bedingungen formte, in der Stilistik der Epoche, die wir üblicherweise als Zeit der Moderne bezeichnen. Soziokulturelle Bedingungen der Epoche selbst forderten Erscheinung eines solchen biographischen Typs. Man kann auch einen eigenartigen Rhythmus verfolgen, mit dem dieser biographische ← 9 | 10 → Typ in der Kultur des ХХ. Jahrhunderts reproduziert wurde. Das Einflussausmaß von Nietzsches Ideen bestätigt ja die Gesetzmäßigkeit des Erscheinens von solch einem Typ. Im Buch von B. V. Markov „Mensch, Staat und Gott in Nietzsches Philosophie“ („Čelovek, Gosudarstvo i Bog v filosofii Nietzsche“) werden Charakter und Ausrichtungen dieses Einflusses, die ganze Vielfalt der Nietzsche-Rezeptionen in Europa, Russland, Amerika, Nietzsches Einfluss auf die kulturhistorische, intellektuelle und politische Situation des ХХ. Jahrhunderts und der Gegenwart analysiert. Nicht nur Nietzsches Philosophie begann selbständig zu funktionieren, sondern eigentlich auch seine Gestalt, was in der sich herausgebildeten filmischen „Ikonographie“ und in Texten Ausdruck findet (von populärwissenschaftlichen, wie z. B. Yaloms Roman „Und Nietzsche weinte“, auch in seiner Verfilmung, bis zur kommerziellen Massenliteratur solcher wie Coelhos Werke). Es wäre interessant, Konstituenten dieser Gestalt zu untersuchen, Gesetzmäßigkeiten ihrer Entstehung und ihres Funktionierens in der Kultur und Poetik zu analysieren. Das kann in Zukunft als ein interessantes und begründetes Forschungsprojekt entwickelt werden.

Die Typisierung wird unter bestimmten Bedingungen möglich: 1) Vorhandensein einer Erscheinung, die in der Kultur zustande gekommen ist und von dieser Kultur selbst reflektiert ist; 2) Vorhandensein von Mechanismen der „Kolportierung“ von dieser Erscheinung; und da es hier um Typisierung von bestimmten Verhaltensmodellen, von biographischer Stilistik geht, so braucht man 3) notwendige soziokulturelle Bedingungen für eine derartige Typisierung. Hier heben wir als Minimum der notwendigen Bedingungen folgende hervor: 1) die in der Kultur von Anfang des Jahrhunderts vollzogene Reflexion über Nietzsche, die ihren Niederschlag in philosophischen, publizistischen und schöngeistigen Texten findet; 2) das Vorhandensein einer Generation, deren Wertorientierungen und Bedingungen des historischen Daseins zur Voraussetzung für den Werdegang des bestimmten biographischen Typs – des Typs vom Nietzscheaner wurden; 3) Was Bedingungen der Typisierung anbetrifft, so kann man als solche den neuen Charakter der sozialen Stratifikation im Verhältnis Elite/Masse nennen sowie neue Prinzipien des Verhältnisses zwischen Kunst und Wirklichkeit, die in lebenskünstlerischen Tendenzen von Autoren der Moderne und in der Stilistik der Avantgarde-Kunst auftreten (der allgemeinen soziokulturellen Charakteristik der Moderne gelten zahlreiche Forschungsarbeiten, wir dürfen darauf nicht eingehen).

Eine offensichtliche und in der Forschung vielfach reflektierte Tatsache ist: die Epoche der Moderne ist ursprünglich mit Nietzsches Einfluss und mit jener neuen Art des Philosophierens eng verbunden, die im Leserbewusstsein die Einheit des Denkens und der Lebensweise sowie der Stilistik von der Verhaltensgeste untrennbar macht. Die russische Kultur der Jahrhundertwende (diese ← 10 | 11 → Zeit wird als „silbernes Zeitalter“ bezeichnet) verstärkte diese Tendenz durch lebenskünstlerische Ideen und Praktiken von Symbolisten. Das Kulturbewusstsein wurde früher auf diesen Einfluss Nietzsches durch Dostojewskis Werke vorbereitet. Dostojewskis Einfluss war der Einfluss seiner Figuren, die in die Welt kamen und in dieser Welt fleischgeworden waren und als wirkliche Helden der Epoche fungierten. Diese Verkörperung ihrerseits wurde möglich in ihrer „Massenvariante“, denn das Bewusstsein der Epoche war durch Nietzsches Ideen vorbereitet, „zerwühlt“. Nietzsches Philosophie aber aktualisierte bestimmte Sinne und Gestalten dank der im Bewusstsein der Leser schon vorhandenen Gestalt des Rebellen-Helden, Dostojewskis Figur.

Charakter und Umstände „des Treffens“ von Dostojewski und Nietzsche waren sozialpolitisch bedingt, durch den Übergang der Bewegung der Narodnaja Wolja (Volkswille) und ihrer Ideologie in die sozialdemokratische bei der Erhaltung des gemeinsamen Mythologems, das das Ideal der Opferbereitschaft, eines heldenhaften Diensts voraussetzte. Askese, Opferbereitschaft und Schuldgefühl dem Volk gegenüber waren die Konstituenten, die sich im Leserbewusstsein des silbernen Zeitalters zu einer einheitlichen Figur des rebellierenden Helden zusammenfügten und verschmolzen, sie wurden in unterschiedlichsten Texten, von philosophischen bis zu schöngeistigen und Memoirenliteratur reflektiert. Die Geburt des biographischen Typs vom Nietzscheaner geschah durch Arbeit eines gewissen Teils vom „Leserauditorium“.

Eine offensichtliche Tendenz im Leserbewusstsein der Epoche ist Annäherung des Autors und seiner Figur (bei uns Dostojewski mit Iwan Karamasow, in Europa Nietzsche mit Zarathustra). In der weit verbreiteten Annäherung der (literarischen) Figur und des Autors, des Helden und einer realen Person, in Lesearten, Deutungen, Interpretationen von realen Ereignissen und Schicksalen durch das Prisma einer Gestalt äußert sich die allgemeine lebenskünstlerische Tendenz der Epoche.

Charakteristisch für die Epoche ist auch die Annäherung von diesen Autoren selbst, von Dostojewski und Nietzsche. Grenzfragen, die sie stellten, persönlicher Mut in Entdeckung, in Erleben und Ausleben dieser Fragen ist ihre gemeinsame Antwort auf „Ressentiment“, das die Kultur überkam.

Der Charakter von Rezeption und Verarbeitung bestimmter Gestalten im Bewusstsein der Epoche drückte sich im Geist der kollektiven Mythenbildung aus.

Zur Quelle der Geburt, Aneignung von Nietzsches Gestalt in der russischen Kultur und seiner späteren Umarbeitung in den Typ des Nietzscheaners, wurde zum Beispiel der Text, der die Kultur der Moderne mit Reminiszenzen, Allusionen, direkten Zitaten und Interpretationen füllte. Es geht um “Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Seinerseits ist zum Beispiel das Buch von Wjatscheslaw I. Iwanow „Dyonisos und die vordionysischen Kulte“ ein bedeutsames ← 11 | 12 → Werk, das Tendenzen der sinndeutenden und gefühlsmäßigen Interpretation von Nietzsches Text in der russischen Kultur verdichtet. Wjatscheslaw Iwanows Text ist ein weiterer Treffpunkt von Dostojewski und Nietzsche. Hier wird die dreifache Annäherung evident: Nietzsche und Dostojewski, Dostojewski und Zarathustra, Nietzsche und Zarathustra, was wieder von der Unzertrennlichkeit des Autors und seines Helden im Bewusstsein der Epoche zeugt. Dostojewski ist in W. Iwanows Buch „ein großer Mystagoge von Zarathustras Zukunft“1.

Die Besonderheiten von Nietzsches Rezeption erklären wohl eine bedeutende Rolle, die in der Kultur dieser Periode Frauen spielten, die nicht weniger den Geist der Philosophie und Nietzsches Gestalten vermittelten und Nietzscheanerinnen waren, was eigentlich dem wirklichen Verhältnis zur Frau in Nietzsches Philosophie widersprach. Mänaden, das von ihnen verkörperte orgiastische Element, Chorprinzip, drücken das tragische Pathos aus, das die Auffassung der Epoche begleitete; es war nicht einmal ein Pathos, sondern die unbedingte Forderung – nach Leben als Tragödie. Diese Interpretation fand in W. Iwanows Werk ihren Niederschlag. „Die Frau blieb die Hauptträgerin der Tragödie… sie entdeckt in sich zwei Seelen, zwei Willen, zwei Bestrebungen… So wird in der Tragödie durch die Aufdeckung der ewigen Dualität des Weiblichen behauptet, weibliche Ganzheit und – durch den Drang der Tragödie zum Tod – Frau als die urälteste Priesterin, das weibliche Element als Element der Mutter Erde, der Wiegenerde und der Graberde“ [Op. cit. 482].

Am offensichtlichsten bestimmten Nietzsches Gestalt sowie die Aneignung von Dostojewskis femmes fatales die Stilistik des Verhaltens, den Habitus, die Verhaltensgeste, was zum Beispiel im Fall von Nina I. Petrowskaja zum Ausdruck kommt. Davon zeugt ihr Briefwechsel mit Brjussow.

Es sei hier bemerkt, dass Nina Petrowskaja, die eine der Heldinnen der Epoche wurde, in ihrer Person Autorin und Leserin des Kulturtexts von der russischen Moderne vereinigte. Als schreibende/dichtende Person (wir wollen hier ihre dichterischen Versuche nicht einschätzen) war sie in die Bildung der poetischen Sprache der Epoche einbezogen, indem sie eine ihrer SchöpferInnen war. Aber gleichzeitig bestimmt der Charakter ihres Talents und ihre Verhaltensgeste ihren Platz im Leserauditorium. Desto evidenter werden einige Kulturtendenzen, wenn man sich dem „biographischen“ Genre zuwendet, und zwar dem Briefwechsel. Der Briefwechsel zwischen Nina Petrowskaja und einem der Meister des russischen ← 12 | 13 → Symbolismus Waleri Brjussow zeigt die Spezifik der Anwesenheit von Nietzsches Texten und der Gestalt des Autors im Kulturbewusstsein. Am Anfang des Briefwechsels ist „Faszination“ von der Gestalt des Übermenschen wahrzunehmen, Streben in der eigenen Verhaltensstilistik, seine Züge zu verwirklichen.

Nina schreibt im Brief aus dem Jahr 1905: „Serjoscha sagt, ich und du, wir seien einander in unserer ‘Alleinherrschaft’ ähnlich, in unserem Hass gegen Menschen im Allgemeinen, dass unsere Seelen eine gleiche Farbe haben (wahrscheinlich sind schon beide schwarz)2.

Brjussow verstärkt die entsprechende Intonation und das Kolorit: „Es gibt Strenge in Liebe. Es gibt Tragik in Liebe… Kann Liebe ohne Tragik existieren…? Liebe muss nach Glück streben aber darf es nie berühren… Das Leben ist nur im Verhängnisvollen, nur in Tragik“3. Bemerkenswert sind diese „darf“ und „nur“, das Ganze lautet wie eine Beschwörung.

Aber Nina ist sich dessen bewusst, was dem Helden ihres Romans unzugänglich blieb: „Tragik braucht man nicht heraufzubeschwören, sie ist immer da, in der Nähe und, glaub mir, sie wird auch uns nicht lassen. Wie misstrauisch, ängstlich bist du…“4. Und etwas später verfällt sie wieder ins Nietzscheanische Element mit seinem Streben nach allem „Übermenschlichen“: „Es waren Augenblicke, als wir keine Menschen sein konnten, das ist das Einzige für mich, wozu ich leben kann“5. Unverzüglich erklärt Brjussow seine „Führerschaft“: „Es gibt Wahrheiten – weiter als Nietzsche, weiter als Przybyszewski, weiter als Verhaeren, der modernen Menschheit voran. Wer mir den Weg dazu weist, mit dem werde ich sein“«6. Beachtenswert ist hier eine Reihe aus Nietzsche, Przybyszewski und Verhaeren. Originale und eine Kopie werden gleichgesetzt. Und dann, im Brief 1906 heißt es: „ich kann nicht mehr von abgelebten Glauben, von Idealen, die ich überschritten habe, leben. Ich kann nicht mehr von „Dekadententum“ und „Nietzscheanertum“ leben…“7. Paradoxon! Nietzsche, der gegen Dekadententum kämpfte, wird jetzt als sein metaphorisches Synonym aufgefasst.

Zur Apotheose des Nietzscheanertums wird das Urteil des „Helden“, das Brjussow im Brief aus 1908 fällt: „Es war Dir jemals eine andere Tragik offen, eine wahrere, eine fürchterlichere. Du konntest jenes Ideal der endlosen Liebe verwirklichen, das über alles herrscht, sich vor nichts unterwirft, das Ideal, das Du immer ← 13 | 14 → angebetet hast. Du konntest aus der Liebe zu mir eine Heldentat machen. Mir, meinen Taten, der ganzen Welt zum Trotz konntest Du dieser Deiner Liebe heilig und treu dienen. Darin wäre natürlich eine große Qual aber auch eine echte Größe. Vielleicht hätte diese Heldentat Dich umgebracht, aber dieselbe tödliche Spitze würde auch in mich dringen. Durch solche Selbstverleugnung im Namen der Liebe würdest Du Dich unerreichbar über mich erhöhen und ich brauchte jetzt nicht diesen Brief an Dich zu schreiben sondern müsste mich vor dir niederwerfen.8.

In diesem Bedürfnis nach dem Frauenopfer und nach dem unbedingten Kniefall vor der Frau steckt Raskolnikows Geste vor der „ewigen Sonetschka“. Daher kommt auch das kränkend hingeworfene „Urteil“ des Helden, noch eines „das Recht habenden“, „des Übermenschen“: „Diese Tragödie hat sich nicht verwirklicht und man muss sie als eine schöne Möglichkeit beiseiteschieben, von der man in Dichtungen träumt, die man aber in diesem Leben nicht –ndet… Gehen wir doch vorbei, suchen wir weiter“9.

Durch das Prisma des Nietzscheanertums wurden unterschiedliche Situationen und Menschen erlebt.

Im Brief von Brjussow an Sinaida N. Hippius 1902 heißt es: „Vor kurzem war Balmont in Moskau. Ich habe mit ihm 36 Stunden verbracht. Balmont hat in sich das verwirklicht, wovon ich mitunter geträumt habe. Er hat Freiheit von allen Äußerlichkeiten und Konventionen erreicht. Sein Leben wird nur durch Laune seines Augenblicks bestimmt. <…> Er hat gejubelt, mir lange Serien von demselben erzählt – über verführte, betrogene und gekaufte Frauen. Dann haben wir uns mit allerlei berauscht und waren betrunken und haben verschiedene „wahnsinnige“ Taten vollbracht. <…> Genug, ich rechne nicht mehr damit so billig den Übermenschen zu fabrizieren10.

Die Gestalt, die Bewusstsein der Epoche verdichtet hat, prägt auch die Selbstwahrnehmung und Selbstanalyse der Menschen jener Zeit.

Der Philosoph Nakolai Berdjaew, der Held derselben Epoche, macht seine Selbstanalyse in der philosophischen Autobiographie „Selbsterkenntnis“(„Samopoznanie“), indem er entsprechende Bilder einsetzt: „Nietzsche“, „Stawrogin“, „Faust“.

Die Gestalt, die von der Epoche gefragt wurde, wurde eine Quelle von unterschiedlichen Prozessen in der Kultur, vom Prozess der Mythenbildung und vom Typisierungsprozess; er prägt auch die Eigenart einiger spezifischer Entwicklungszüge, die das Charakteristikum der Biographie von der Generation ausmachen.

← 14 | 15 → Das Problem von Verhältnis zwischen dem Leben und Schaffen aktiviert sich, indem es ein Teil vom allgemeineren und grundlegenderen Problem von Verhältnis zwischen Kunst und Leben ist, im Kunstbewusstsein von Anfang des Jahrhunderts.

Nietzsches Gestalt, die durch kollektive Bemühungen der Helden dieser Epoche geschaffen wurde, weist in ihren Anfängen jenes besondere Verhältnis zwischen Leben und Werk, Gedanken, Wort und Tat auf, das Nietzsche selbst eigen war.

Details

Seiten
232
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653043136
ISBN (ePUB)
9783653986600
ISBN (MOBI)
9783653986594
ISBN (Hardcover)
9783631651452
DOI
10.3726/978-3-653-04313-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (März)
Schlagworte
Kultur Identität Nation Deutsch-Russische Beziehungen
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 232 S., 2 Tab., 1 Graf.

Biographische Angaben

Heimo Hofmeister (Band-Herausgeber:in) Ivan Mikirtumov (Band-Herausgeber:in)

Heimo Hofmeister, Professor emeritus, Ordinarius für Religionsphilosophie an der Universität Heidelberg und Professor ehrenhalber an der Staatlichen Universität St. Petersburg, ist Koordinator des Zentrums für deutschsprachige Philosophie und Kultur. Ivan Mikirtumov ist Professor für Logik an der Philosophischen Fakultät der Staatlichen Universität St. Petersburg und Koordinator des Zentrums für deutschsprachige Philosophie und Kultur.

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