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Sicherheit, Risiko und Opferschutz

Anlässe der Strafgesetzgebung und Möglichkeiten wissenschaftlicher Einflussnahme

von Benjamin Kertai (Autor:in)
©2014 Dissertation 340 Seiten
Reihe: Criminalia, Band 57

Zusammenfassung

Wie kommen Stalking, Terrorcamps und Schulamokläufe ins Strafgesetz? Welches Strafrecht entsteht dabei? Und wie kann wissenschaftliche Einflussnahme aussehen? Die Untersuchung der Gesetzgebung zeigt, dass die Weichen früh gestellt werden. Das betrifft einerseits die Möglichkeiten wissenschaftlicher Einflussnahme, andererseits entscheidet sich ebenso früh, wie das Ergebnis des Gesetzgebungsprozesses aussehen wird. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich das Buch zunächst mit den Anlässen der Neuschaffung materiellen Strafrechts anhand dreier aktueller Beispiele: § 52a WaffG, § 89a StGB (sog. Terrorcamp-Vorschrift) und § 238 StGB (Stalking). Der Autor stellt die Anlässe anschließend den Ergebnissen der Gesetzgebung gegenüber und skizziert deren dogmatische Struktur. In einem Ausblick wird eine Kritik der Anlässe und Ergebnisse der Gesetzgebung anhand des gängigen Konzeptes des Rechtsgutes versucht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Widmung
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • B. Wissenschaftlicher Kontext: Gesetzgebungswissenschaft und die Forderung nach einer rationalen Kriminalpolitik
  • I. Gesetzgebungswissenschaft
  • II. „Rationale Kriminalpolitik“
  • 1. Der Begriff Kriminalpolitik
  • 2. „Rationale Kriminalpolitik“
  • 3. Wissenschaftlichkeit und Strafgesetzgebung
  • 4. Wissenschaftliche Politikberatung durch öffentliche Anhörungen in den Ausschüssen des Bundestags (Hearings)
  • 5. Wissenschaftliche Politikberatung in der Praxis: Drei Beispiele
  • 6. Zusammenfassung: Was bleibt von der rationalen Kriminalpolitik?
  • III. Politische Kriminalpolitik
  • 1. Strafrechtsgesetzgebung und Machtpolitik
  • 2. Handlungsfähigkeit und Tatkraft beweisen
  • 3. Ohnmacht verbergen
  • 4. Beschwichtigung und Beruhigung der Bevölkerung: Reaktionen auf Unsicherheitsgefühle
  • 5. Wertbekenntnisse
  • 6. Legitimierung staatlicher Macht
  • IV. Folgerungen für eine wissenschaftliche Befassung mit der Kriminalpolitik
  • C. Die Untersuchung der Anlässe der Gesetzgebung: Problemimpulse und Zielsetzungsphase
  • I. Je früher, desto besser: Die Bedeutung der Zielfindungsphase
  • II. Problemimpulse
  • 1. Untersuchungsschwerpunkt: materielle Impulse
  • 2. Einschränkung der möglichen Aussagen
  • 3. Begriffe: Problemimpuls, Anlass, Zielsetzung, Auslöser
  • 4. Problemimpulse als teilweise normative Fragen
  • 5. Problemdefinition als auch empirische Fragestellung
  • 6. Problemimpuls und Handlungsbedarf
  • 7. Zusammenfassung: Der Begriff des Problemimpulses in dieser Arbeit
  • III. Untersuchung der Problemimpulse an Beispielen
  • 1. Ausgangsthese: Bestimmte Problemimpulse als wiederkehrende Faktoren bei der Schaffung neuen Strafrechts
  • 2. Unmöglichkeit einer vollständigen Erfassung
  • 3. § 238 StGB
  • 4. § 52a WaffG
  • 5. § 89a StGB
  • 6. Zusammenfassung
  • D. Analyse und Diskussion der aufgefundenen Problemimpulse
  • I. Risiko und Sicherheit
  • 1. Zukunftsungewissheit als Leitmotiv
  • 2. Sicherheit als Leitmotiv
  • 3. Der Risikobegriff in dieser Arbeit
  • 4. Sicherheit und Strafrecht
  • 5. Sicherheit als Problemimpuls
  • 6. Risiko als Problemimpuls
  • II. Opferschutz
  • 1. Der Begriff des Opfers in dieser Arbeit
  • 2. Die Wiederentdeckung des Opfers in Strafprozess und Strafgesetzgebung
  • 3. Potentielle und wirkliche Opfer
  • 4. Opferschutz als Teil der staatlichen Schutzaufgabe
  • 5. Täterinteressen versus Opferinteressen
  • 6. Opferlose Delikte
  • 7. Zwischenfazit: Opferschutz als Motor repressiver Kriminalpolitik
  • 8. Opferschutz als Problemimpuls
  • III. Ermittlungsparagrafen und Türöffner
  • IV. Gesetzgebung zur Lückenschließung
  • V. Einzelfallreaktionen
  • 1. Die Medien als Akteure im Gesetzgebungsverfahren
  • 2. Gesetzgebungsanlässe oder nur anschauliche Beispiele?
  • 3. Geschwindigkeit als Folge und als Mittel zum Zweck – Einzelfälle als Auslöser expressiver Politik
  • 4. Grundsätzliche Einwände gegen Gesetzgebung als Reaktion auf Einzelfälle
  • 5. Zusammenfassung
  • VI. Europarechtliche Impulse
  • 1. Europäisches Strafrecht
  • 2. Europäische Einflüsse auf deutsches Strafrecht
  • 3. Einflüsse durch Tätigkeiten des Europarats
  • 4. Einflüsse der EU
  • 5. Fazit: Europas Impulse für das Strafrecht
  • VII. Zusammenfassung – Wiederkehrende Gesetzgebungsanlässe
  • E. Ergebnisse der Strafgesetzgebung: Versuch der Feststellung einer Tendenz der Strafrechtsausweitung
  • I. Zielsetzung: Kriterien der Vorverlagerung
  • II. Quantitative Ausweitung strafrechtlicher Verbote
  • III. Kriterien einer qualitativen Ausweitung: Vorverlagerung und Ausdehnung
  • 1. Was ist mit Vorfeld gemeint?
  • IV. Dogmatische Einordnung der untersuchten Delikte
  • 1. § 52a WaffG
  • 2. § 89a StGB
  • 3. § 238 StGB
  • 4. Fazit: Zwei Arten beabsichtigter Vorverlagerung
  • F. Der Bezug von Sicherheit, Risiko und Opferschutz zur Vorfeldkriminalisierung mittels abstrakter Gefährdungsdelikte
  • 1. Sicherheit und Gefährdungsstrafrecht
  • 2. Risiko als Begründungsansatz für Vorfeldkriminalisierung
  • 3. Opferschutz und Vorfeldkriminalisierung
  • G. Ausblick: Gegentendenzen?
  • I. Aktuelle und historische Rolle des Rechtsgutsdogmas
  • 1. Rechtsgutsbegriff, Rechtsgutstheorie, Rechtsgüterschutzdogma
  • 2. Der (fast) unstrittige Ausgangspunkt: Rechtsgüterschutz als Aufgabe des Strafrechts und der Kriminalpolitik
  • 3. Systemimmanente und systemkritische Funktion des Rechtsgutsbegriffs
  • 4. Inhaltliche Bestimmung des Rechtsgutsbegriffs
  • 5. Verortung der Rechtsgutstheorie in einer Kritik am Strafrecht
  • II. Probleme des Rechtsgutsbegriffs am Beispiel des § 238 StGB
  • 1. Begriffsweite und Unklarheiten als Hindernis bei der Erfüllung der systemimmanenten Funktion
  • 2. Begriffsweite und Unklarheiten als Hindernis bei der Erfüllung der systemkritischen Funktion
  • III. Das Schutzdogma und die Grenzen der Rechtsgutstheorie
  • 1. Sicherheit und Rechtsgüterschutz
  • 2. Opferschutz und Rechtsgüterschutz
  • 3. Rechtsgüterschutz und Ermittlungsparagrafen
  • IV. Gefährdungsstrafrecht als Verstoß gegen das Rechtsgüterschutzdogma?
  • V. Zusammenfassung
  • H. Ergebnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Literaturverzeichnis

← 10 | 11 → A. Einleitung

Unsere Kenntnisse über die Strafgesetzgebung sind einerseits erheblich und andererseits gezeichnet von einer erstaunlichen Kargheit an ausführlichen Untersuchungen. Eine Vielzahl der Lehrbücher zum Allgemeinen Teil des Strafrechts und nahezu jedes Lehrbuch der Kriminologie enthalten einige Aussagen zu Strafgesetzgebung und Strafrechtspolitik. Gerade was den politischen Aspekt der Gesetzgebung angeht, scheinen viele dieser Aussagen nur eine geringe Fundiertheit aufzuweisen. Diese bekannte Wissenslücke bezüglich der Gesetzgebung zu schließen, hat sich die Gesetzgebungswissenschaft zur Aufgabe gemacht.1 Ebenso kann das damit verfolgte Ziel einer wissenschaftlichen Aufklärung über die Gesetzgebung im Bereich des Strafrechts als Gegenstand einer zeitgenössischen Kriminologie verstanden werden.2 Damit ist auch der Antrieb zur vorliegenden Arbeit umschrieben. Doch es geht nicht um Forschung um der Forschung willen. Das Ziel der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gesetzgebung wird hier auch in der Fundierung einer Kritik gesehen: Eine Kritik braucht genaue Kenntnisse der Wirklichkeit um zu überzeugen.3 Sie geht sonst entweder von falschen Tatsachen aus und ist dann selbst falsch, oder sie ist mit einem Verweis auf die Wirklichkeit leicht zu entkräften. So macht sich diese Arbeit eine Aussage Hassemers zu eigen:

„Strafrechtswissenschaftliche Aussagen stehen und fallen nämlich, sofern und soweit sie Behauptungen über die Wirklichkeit enthalten, auch mit der Richtigkeit dieser Behauptungen; Analysen und Empfehlungen gegenwärtiger und künftiger Kriminalpolitik stehen ihrerseits in einem historischen Kontext, dem sie gerecht werden können, den sie aber auch verfehlen können. Diese Kontexte muss benennen, wer sie beurteilen will, und er muss sie treffen, wenn er Recht haben will.“4

← 11 | 12 → Ansätze für eine Kritik der Gesetzgebung ergeben sich schon zahlreich aus dem strafrechtlichen Schrifttum, insbesondere im Kontext der Rechtsgutstheorie. In einem Ausblick am Ende der Arbeit soll nochmals das Bestreben der Fundierung einer umfassenden Gesetzgebungskritik anhand einer Gegenüberstellung der vorherigen Ergebnisse der Untersuchung mit den Rechtsgutstheorien untermauert werden. Dabei wird sich zeigen, dass es keineswegs überflüssig ist, einen Beitrag zur wissenschaftlichen Gesetzgebungskritik zu leisten. Im Gegenteil scheint sich angesichts zahlreicher Änderungen auf dem Gebiet des Strafrechts ein enormer Bedarf an kritischen Werkzeugen zu ergeben, der bisher kaum gedeckt ist.

Bei der Bearbeitung der Literatur zur Strafgesetzgebung zeigte sich ein erstaunlich diffuses Pendeln zwischen Aussagen über die Wirklichkeit und dem Aufstellen von Forderungen an Politik und Justiz. In der vorliegenden Arbeit soll an dieser Stelle genau unterschieden werden. Hinsichtlich der Forderungen wird sicherlich als ein großes Manko der Gesetzgebungswirklichkeit deren politische Prägung gesehen. Zum Standardrepertoire strafrechtswissenschaftlicher Kritik gehört einerseits die Klage über Irrationalität, in deren Kern der Vorwurf eines Mangels an wissenschaftlicher Fundierung steht.5 Andererseits wird auch kritisiert, dass das Strafrecht politisch funktionalisiert, für die Politik verfügbar6 und Instrument der (Innen-)Politik (geworden) sei7. Der Gesetzgebung wird damit allerdings ein Vorwurf gemacht, der sie nicht erreichen kann. Denn Gesetzgebung ist das Ergebnis von Politik, sie ist Politik und wohl sogar ihr Kern. Der Politik vorzuwerfen, sie sei politisch (und nicht etwa wissenschaftlich) führt sicherlich nicht weiter. Eine Kritik muss Politik als Politik akzeptieren und ihre Diskurse kennen und annehmen: Sie muss ihre Sprache sprechen. Dabei versteht es sich, dass die Politik im Bereich des Strafrechts teilweise strafrechtswissenschaftliche Diskurse übernimmt. Dafür, dass andersherum die strafrechtswissenschaftliche Diskussion noch fundierter und breiter, als sie dies bereits tut, auch politische Diskurse integriert, will die vorliegende Arbeit werben und Anknüpfungspunkte schaffen.

← 12 | 13 → Den dazu gewählten Ausgangspunkt stellt die Analyse der Anlässe strafrechtlicher Gesetzgebung dar.8 Gewählt wurden dabei nur Normen, die neue strafrechtliche Verbote beinhalten, also Neukriminalisierungen. Das verengt sicherlich den Blick, soweit einige Entwicklungstendenzen sich gerade durch Neuerungen im Strafprozessrecht oder dem Sanktionensystem kennzeichnen. Eine Analyse der gesamten Strafrechtsgesetzgebung wäre in der hier unternommenen Ausführlichkeit jedoch sicher nicht möglich gewesen. Durchaus vorstellbar ist es aber, dass die Ergebnisse dieser Arbeit zu einer Gesamtanalyse herangezogen werden. Die Untersuchung neuer Straftatbestände begrenzt den Gegenstand auf den Besonderen Teil des materiellen Strafrechts. In den dort auffindbaren Begründungen für die Schaffung neuen Strafrechts finden sich einige der maßgeblichen politischen Diskurse wieder. Die Untersuchung der Aussagen politischer Akteure bei der Schaffung neuer Normen lässt einen Blick in das Verständnis des Strafrechts seitens der Politik zu.

Vom Gesetzgeber ist in dieser Arbeit häufig die Rede, wobei sich von selbst versteht, dass es den Gesetzgeber als solchen nicht gibt. Als Gesetzgeber kann man (untechnisch gesprochen) nicht nur die dazu berufenen Institutionen Bundestag und Bundesrat bezeichnen sondern auch die einzelnen Personen in diesen Institutionen, die Regierung und (wie sich mit der Untersuchung der Anlässe zeigt) auch externe Einflüsse wie Verbände, soweit sie maßgeblichen Einfluss auf die Gesetzgebung ausüben. Die Vokabel „Gesetzgeber“ ist also nur eine abkürzende, symbolische Formel,9 um alle Akteure der Gesetzgebung zusammenzufassen, um überhaupt in lesbarer Weise über den Prozess der Gesetzgebung schreiben zu können.

Nachdem das primäre Interesse der Untersuchung der Offenlegung politischer Diskurse galt, ergab es sich im Laufe der Untersuchung, ein Hauptaugenmerk auf die inhaltlichen oder – wenn man sie so nennen möchte – materiellen Anlässe der Gesetzgebung10 zu richten, so dass dagegen die durchaus auch aufschlussreiche Frage nach den maßgeblichen Personen und/oder Institutionen in den Hintergrund treten musste. Innerhalb der aufgefundenen Anlässe der Gesetzgebung fand sich ein besonders starker Einfluss der Punkte, die verkürzt mit Risiko, Sicherheit und Opferschutz bezeichnet werden können. Bei Sicherheit und Opferschutz ergibt sich ein möglicher Zusammenhang mit der Gesetzgebung recht schnell: Man kann versuchen größtmögliche Sicherheit sowie den bestmöglichen Schutz von ← 13 | 14 → Opfern11 mittels neuer Strafvorschriften zu erreichen. Etwas komplizierter ist das beim Risiko; der Begriff bedarf weiterer Untersuchung. Soviel vorweg: Gemeint ist hier damit das Denken in Risiken, also Risikodenken. Dabei wird die These aufgestellt, dass (soziale) Probleme als Risiken zu verstehen, Anlass und Antrieb zur Schaffung von Strafvorschriften sein kann.

An dieser Stelle darf eine Untersuchung der Gesetzgebung von strafrechtswissenschaftlicher Seite jedoch nicht stehen bleiben. Entscheidend bleiben stets auch die Ergebnisse der Gesetzgebung. Nach der Frage, aus welchem Anlass der Gesetzgeber aktiv wird, stellt sich also die Frage, was genau er dann tut. Damit gehört zu einer Analyse der Gesetzgebung auch die (zumindest teilweise) dogmatische Behandlung der neuen Straftatbestände. Vor dem Hintergrund der ausdifferenzierten Dogmatik, die im Gegensatz zur Gesetzgebung kaum Wissenslücken offenlässt, werden wiederum Aussagen zur Gesetzgebung möglich. Es lässt sich dann darstellen, welche Strafgesetzgebung12 jeweils veranlasst wird.

Ebenso wie bei den Anlässen der Gesetzgebung lassen sich bei den verabschiedeten Gesetzen einige Übereinstimmungen finden. Es scheint also, dass die Strafgesetzgebung in gewisser Weise Regelmäßigkeiten unterworfen ist. Auch wenn diese Regelmäßigkeiten durchaus Anlass zur Besorgnis darstellen können, ist der Befund auch beruhigend. Für eine wissenschaftliche Befassung mit der Strafgesetzgebung in ihrer relativen Langwierigkeit sind wiederkehrende Motive und Mechanismen hilfreich, um überhaupt Ansatzpunkte für eine Kritik zu finden. Gerade wenn man mit den Gegebenheiten nicht zufrieden ist, ist es gut zu wissen, was genau man ändern kann und muss und was nicht.

__________

1Dazu u. S. 4.

2Albrecht, Kriminologie, S. 6.

3Hassemer, Sicherheit durch Strafrecht, in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, S. 125.

4Hassemer, Sicherheit durch Strafrecht, in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, S. 124.

5U. S. 10.

6Hassemer, Grundlinien einer personalen Rechtsgutslehre. in: FS Kaufmann, S. 85 ff.; Hassemer, Sicherheit durch Strafrecht, in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, S. 111.

7Braun, Die Tatbestände des Diebstahls mit Waffen und des Schweren Raubes zwischen Gefährdungsdogmatik und Gesetzlichkeitsprinzip, in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Frankfurt a.M., Irrwege der Strafgesetzgebung, S. 27; Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 66 f.; Albrecht, Kriminologie, S. 1.

8U. S. 71.

9Noll, Gesetzgebungslehre, S. 44.

10U. S. 71.

11Wobei noch zu klären sein wird, wer in diesem Zusammenhang als Opfer bezeichnet wird. Dazu u. S. 142.

12Zu den unterschiedlichen Deliktsstrukturen u. S. 200.

← 14 | 15 → B. Wissenschaftlicher Kontext: Gesetzgebungswissenschaft und die Forderung nach einer rationalen Kriminalpolitik

I.Gesetzgebungswissenschaft

Die vorliegende Arbeit lässt sich in den Kontext der Gesetzgebungswissenschaft einordnen. Die moderne Gesetzgebungswissenschaft entstand in den 1970er Jahren. Aus einer konstatierten „Gesetzesflut“ und Unzufriedenheit mit der Qualität der Gesetze ergab sich (erneut) ein Bedürfnis nach einer intensiven wissenschaftlichen Betrachtung von Gesetzgebung und Gesetzgeber und für ausgebildete, wissenschaftlich vorgebildete Gesetzgebungsexperten.1 Die ersten Ergebnisse dieser Bemühungen waren Ansätze einer Theorie für Praktiker2 der Gesetzgebung; ein Schwerpunkt lag auf einer Etablierung als Teil der juristischen Ausbildung.3

Damit ging auch ein verändertes Verständnis der Rechtswissenschaft einher; in Abkehr von Kelsens „Reiner Rechtslehre“ sollte sie sich nicht nur als eine Rechtsprechungs-Wissenschaft verstehen, die sich allein mit dem positiven Recht befasst.4

← 15 | 16 → Eines der maßgeblichen Werke dabei war das „Gesetzgebungslehre“ genannte Studienbuch Nolls5. Dieser Titel prägte sich als Bezeichnung für die wissenschaftliche Befassung mit der Gesetzgebung im Rahmen der Rechtswissenschaft ein.6

Das einheitliche Ziel der Gesetzgebungswissenschaft liegt in „Handreichungen zur Beförderung guter Gesetze und zur Förderung des guten Gesetzgebers“.7 Dennoch lassen sich hier mindestens zwei Aspekte unterscheiden8, wobei die Bezeichnungen variieren:

Erstens bedarf es erst einmal der empirischen Untersuchung der auch informellen Realität des Gesetzgebungsalltags, um Gesetzgebung, Gesetzgeber und Gesetz wissenschaftlich zu erklären, zu verstehen, und konstruktiv zu kritisieren. Untersucht wir also das, „was denn Gesetz, Gesetzgeber, Gesetzgebung usw. in der Wirklichkeit alltäglich sind“.9 Ein wichtiger Bestandteil der Gesetzgebungswissenschaft besteht aus dieser Erforschung der rechtlichen Tatsachen, hier geht es also um „gesetzgeberische Verhaltensforschung“.10 Diese kann man auch Gesetzgebungstheorie nennen.11

Zweitens kann von dieser Gesetzgebungstheorie ausgehend eine auf wissenschaftliche Vorbereitung und Anleitung der Praxis gerichtete12 „gesetzgeberische Verhaltenslehre“ entwickelt werden, die man auch als Gesetzgebungslehre im engeren Sinn bezeichnen kann13. Diese beschreibt, wie das Verhalten des Gesetzgebers ← 16 | 17 → sein soll.14 Sie beschäftigt sich mit den „Regeln, Kriterien und Verfahren inhaltlich und formal guter Rechtssetzung.“15 Dabei will sie nicht wertfrei die Instrumente zur Entwicklung einer Machttechnologie bieten, sondern den Gesetzgeber beraten. Sie will, dass gutes, richtiges Recht gesetzt wird.16 Diese Gesetzgebungslehre im engeren Sinn ist allerdings immer noch in ihrer Entstehung begriffen.17 Gemeinsam haben alle Ansätze den Versuch einer Rationalisierung der Gesetzgebung.18

In den beschriebenen Kontext lässt sich auch die folgende Arbeit eingliedern: Die wissenschaftliche Erforschung der Gesetzgebung anhand konkreter Fälle stellt eine grundlegende Voraussetzung für die Erarbeitung von Handlungsanweisungen an die Akteure der Gesetzgebung dar und scheint dennoch bisher noch nicht ausreichend geschehen zu sein19. Zielrichtung ist also ein Beitrag zur Gesetzgebungstheorie. Dabei kann aber an einigen Stellen an bereits existierende Postulate, wie sie sich im Rahmen der Gesetzgebungslehre finden lassen, angeknüpft werden. Eine Gegenüberstellung der vorgefundenen Tatsachen mit den Forderungen einer Gesetzgebungslehre vermag einige Schwierigkeiten der Umsetzung verständlich machen und möglicherweise zu deren Beseitigung beitragen – oder die Notwendigkeit einer Überarbeitung der Gesetzgebungslehre an diesen Stellen verdeutlichen.

II.„Rationale Kriminalpolitik“

1. Der Begriff Kriminalpolitik

Bei der Untersuchung der Gesetzgebung im Bereich des Strafrechts finden sich schnell Verweise auf das, was gemeinhin Kriminalpolitik genannt wird.20 Kriminalpolitik dient dabei als Überbegriff der Tätigkeiten, die (unter anderem) schlussendlich ← 17 | 18 → in die Verabschiedung neuer Strafvorschriften münden. Die Definitionen dessen, was mit dem Begriff Kriminalpolitik bezeichnet wird, sind vielfältig; es gibt engere und weitere Auffassungen.21 Dabei ist umstritten, ob es nur um das Strafrecht oder um jedwede Form des Gesellschaftsschutzes bzw. Rechtsgüterschutzes geht22. Kriminalpolitik wird etwa verstanden als „die Gesamtheit aller staatlichen Maßnahmen zur Verbrechensverhütung und Verbrechensbekämpfung“23 bzw. als „ein Policy-Programm, welches die Strategien, Taktiken und Sanktionsinstrumente beschreibt, mit denen die Institutionen der Inneren Sicherheit eine Optimierung der Verbrechenskontrolle zu erreichen versuchen.“24 Gegenstand der Kriminalpolitik ist also das crimen, das Verbrechen.25

Der hiesige Untersuchungsgegenstand der „Neugestaltung der Strafrechtsnormen“ ist aber jedenfalls nach allen Definitionen Gegenstand der Kriminalpolitik.26

a) Kriminalpolitik als Teil der Gesetzgebungslehre im engeren Sinn

Eine weitere Klärung des Begriffs Kriminalpolitik wird notwendig, wenn man dessen Verwendung näher untersucht. So wird in mehreren Standardwerken zum Thema mit dem Begriff Kriminalpolitik allein eine wissenschaftliche Kriminalpolitik beschrieben. So nennt etwa Zipf sein Lehrbuch „Kriminalpolitik“27, wobei er weiter schreibt, dass das Ziel der Kriminalpolitik stets „die nüchterne Ausrichtung […] an der Aufgabe der Verbrechensbekämpfung“28 sei. Diese Aussage basiert auf dem Versuch, Kriminalpolitik als einen Teil einer wissenschaftlichen Rechtspolitik zu verstehen.29

Das ist insofern folgerichtig, als dass eine solche einengende Verwendung des Begriffs nur aus einer Perspektive befriedigen kann, die Kriminalpolitik als eine Wissenschaft oder zumindest als untrennbar mit wissenschaftlicher Expertise verwoben sieht.

← 18 | 19 → Allerdings ist es höchst problematisch, da der Zusammenhang von realer Kriminalgesetzgebung und wissenschaftlicher Expertise gerade der Untersuchung bedarf, um sinnvolle Aussagen über den Bereich der Politik, die dem Verbrechen gewidmet ist, tätigen zu können. Ebenso ist es denkbar, dass eine Untersuchung der Strafgesetzgebung zu dem Ergebnis kommt, dass bei der Neuschaffung einer Strafnorm überhaupt kein oder nur geringes Interesse an Verbrechenskontrolle bestand oder eine Verringerung von Rechtsgutsverletzungen offensichtlich nicht erreicht werden kann. Der Wille zur Verringerung von Rechtsgüterverletzungen oder Verbrechenskontrolle etc. wird aber nach obigen Ansichten als notwendiges Merkmal der Kriminalpolitik vorausgesetzt. Folgerichtig müsste man dann sagen, dass es sich bei symbolischen Gesetzen30 und sonstiger „schlechter“ Kriminalpolitik31 überhaupt nicht um Kriminalpolitik handelt. Und tatsächlich gibt es diese Ansicht, wie in einer Aussage von Putzke offensichtlich wird, wenn er schreibt: Wer „entgegen wissenschaftlicher Erkenntnisse Politik betreibt, ist Scharlatan und verdient […] nicht Kriminalpolitiker genannt zu werden.“32

Mit diesem Begriff der Kriminalpolitik verengt sich der Forschungsgegenstand auf Aussagen darüber, wie Kriminalpolitik sein soll. Das zeigt sich beim eingangs genannten Lehrbuch Zipfs: Neben der Diskussion des Platzes seiner Kriminalpolitik im System der Wissenschaften widmet er sich in den folgenden Kapiteln grundsätzlichen Fragen wie dem Schuldgrundsatz (§4), dem Verbrechensbegriff (§5) oder Kriminalitätstheorien (§8), ohne freilich in einleitenden Kapiteln oder überhaupt von den Forderungen getrennt die Realität der politischen Betätigungen im Bereich der Verbrechenskontrolle zu beschreiben33.

Blendet man die Tatsachenforschung aus, bleibt auch kein Raum für eine Befassung mit dem Aspekt der Macht, der die politische Realität zu einem großen Teil ausmacht, und der so einen nicht geringen Einfluss auf die Ergebnisse der Strafgesetzgebung haben kann, wie etwa Schüler-Springorum bereits aufzeigen konnte.34 Folgerichtig ist es aber eine wie von Zipf beschriebene Kriminalpolitik, die sich der Beschreibung von Handlungsanleitungen für die Gesetzgebung (unter anderem) im Bereich des Strafrechts widmet, in einem engen Zusammenhang mit der Gesetzgebungslehre im engeren Sinn zu sehen35: Zipf versteht seine „Kriminalpolitik“ ← 19 | 20 → konsequent auch als den sozusagen Besonderen Teil gegenüber einem Allgemeinen Teil der Gesetzgebungslehre.36

b) Kriminalpolitik und Kriminalpolitikwissenschaft

Für die vorliegende Untersuchung kann der obige Begriff der Kriminalpolitik nicht befriedigen. Gegenstand der Untersuchung ist mit dem Gesetz das Ergebnis von Politik und mit der Gesetzgebung ein Vorgang einer Politik, die sich auf Straftaten bezieht, also letztlich die Realität der Kriminalpolitik. Die wissenschaftliche Befassung damit kann man dann Kriminalpolitikwissenschaft nennen.

Demgegenüber kann man die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Befassung, die auf das Ziel der Verbrechenskontrolle gerichtet ist, als wissenschaftliche Kriminalpolitik bezeichnen. Damit ist die reale und wirklich betriebene Kriminalpolitik aber keineswegs vollständig beschrieben. Das ist wichtig; man sollte Kriminalpolitik nicht mit Kriminalpolitikwissenschaft verwechseln37. Insbesondere sollte es auch eindeutig zum Ausdruck kommen, wenn Gegenstand der wissenschaftlichen Arbeit in erster Linie die Beschreibung einer möglichst „guten“ Kriminalpolitik ist.

Dem läuft die oben beschriebene Verwendung des Begriffs zur Beschreibung eines Forderungskatalogs entgegen, während mit „Politik“ im allgemeinen Sprachgebrauch tatsächliche Verhaltensweisen bezeichnet werden. Das jedoch versperrt den Blick für die klare Unterscheidung von Fakten und Forderungen. Doch erst wenn mit (wissenschaftlicher) Klarheit feststeht, welche Fakten und Schlüsse in der Wirklichkeit zugrunde gelegt werden, lässt sich vernünftig über die darauf bezogenen Forderungen diskutieren. Weiterhin ist jede andere noch so gute Theorie ohne Chance auf Verwirklichung wenig wert: Die Forderungen der Wissenschaft müssen sich darum auch an ihrer faktischen und politischen Durchsetzbarkeit messen lassen.38 Es stellt sich somit neben der Beschäftigung mit den wissenschaftlichen und geistesgeschichtlichen Grundlagen die Frage nach den Möglichkeiten der Umsetzung wissenschaftlicher Forderungen. Die Zielbeschreibungen der wissenschaftlichen Kriminalpolitik können dabei allerdings als Ausgangspunkt dienen.

Für die Nachvollziehbarkeit der Diskussionen und im Hinblick auf die Durchsetzungschancen wissenschaftlicher Forderungen wird hier für eine möglichst strikte Trennung von Schlüssen über die Realität (der Politik) wie sie ist und ← 20 | 21 → (wissenschaftlichen) Forderungen an die Realität wie sie sein soll, plädiert. Diese meiner Ansicht nach eminent bedeutsame Trennung wird durch die Bezeichnung „Kriminalpolitik“ für eine nur wissenschaftliche Kriminalpolitik aufgegeben.

2. „Rationale Kriminalpolitik“

a) Rationale Kriminalpolitik als Leitbild

Wie gesehen beschäftigt sich die als „Verhaltenslehre“ verstandene wissenschaftliche Kriminalpolitik mit der Bestimmung von Aufgabe und Funktion der Strafrechtspflege einschließlich der dabei maßgebenden Leitlinien, der Erarbeitung und Entscheidung eines bestimmten Regelungsmodells in diesem Bereich, seiner praktischen Gestaltung und Durchführung anhand der Aufgabenstellung und seiner ständigen Überprüfung.39 Dabei widmet sich eine Vielzahl der Arbeiten zur Gesetzgebung auf dem Gebiet der Strafrechtssetzung der Umschreibung eines Optimalzustandes. „Rationale Kriminalpolitik“ stellt dabei den gemeinsamen Nenner dar40: Ausgehend davon, dass staatliche Strafverfolgung wie jede staatliche Tätigkeit stets der Rationalität verpflichtet sei41, solle es sich insbesondere auch „bei den Verfahren, die den Gesetzesänderungen oder Neuregelungen zugrunde liegen, gleichzeitig um die Umsetzung einer rationalen Kriminalpolitik handeln.“42 Die Forderung nach Rationalität der Gesetzgebung ist weit verbreitet und wird als selbstverständlich angesehen.43

b) Zweck und Zweckrationalität

Was hier mit Rationalität gemeint ist, ist nicht leicht zu fassen, nicht nur wegen der Unklarheit des Begriffs der Rationalität in diesem Kontext44, sondern schon allein, ← 21 | 22 → weil „umstritten ist, welche Kriminalpolitik vernünftig ist“45. Bei der Definition von „rational“ lässt sich grundsätzlich zwischen zwei Varianten unterscheiden: Das ist erstens Wertrationalität, die „die inhaltliche Begründung von elementaren Verhaltensnormen in der Gesellschaft im Auge hat“46 und zweitens Zweckrationalität, die auf die erfolgreiche Umsetzung der Programme, also die Erreichung der Zwecke, abzielt.47

Für die „rationale Kriminalpolitik“ ist dabei eine Orientierung an Zwecken erkennbar48; Rechtsnormen an sich sollen in dieser Konzeption immer (auch) instrumentellen Charakter haben.49 Die Maxime der Zweckrationalität ergibt sich aus der Notwendigkeit einer Legitimierung der staatlichen Strafe an einem realen gesellschaftlichen Zweck.50 In der Folge wurde Zweckrationalität in den Gesetzgebungswissenschaften lange Zeit „als generelles Deutungsmuster und Idealbild für sinnvolle gesetzgeberische Handlungen ausdrücklich oder als nicht hinterfragte Selbstverständlichkeit angewandt“.51 Das optimale Gesetz wäre danach das wirkungsoptimale, also dasjenige bei dem die Wirkungen mit den Intentionen des Gesetzgebers möglichst übereinstimmen.52

Hinsichtlich der zu verfolgenden Zwecke legt sich eine Vielzahl der Autoren fest: Diese seien Kriminalprävention und Verbrechenskontrolle53.

Freilich ist die Zweckrationalität wertrational durchbrochen, wenn (im Hinblick auf die Wertentscheidungen des Grundgesetzes) auf möglicherweise höchst effiziente, doch unverhältnismäßige oder menschenverachtende Maßnahmen verzichtet wird. Dennoch ist erkennbar, dass für die Forderung der rationalen Kriminalpolitik mit Rationalität die möglichst effiziente Ausrichtung an der Verbrechensbekämpfung54 gemeint sein soll.

← 22 | 23 → Diese Zwecksetzung überschneidet sich mit dem Verständnis der Aufgabe des Rechtsgüterschutzes. Rationale Kriminalpolitik wäre im Bereich der Gesetzgebung demnach der beste Weg, diese Schutzaufgabe zu erfüllen55. Unter Festlegung auf das Ziel der „Vermeidung von Rechtsgutsverletzungen“ widmet sich ein großer Teil der kriminalpolitischen Diskussion den besten Wegen, dieses Ziel zu erreichen.56

c) Konkrete Verhaltensregeln zur Zweckerreichung – Die Wissenschaft als Garant der Rationalität

Für eine rationale Kriminalpolitik, die auf der Suche nach erfolgversprechenden Maßnahmen für die Verbrechensbekämpfung ist, soll empirische Forschung weiteren Aufschluss geben.57 Kriminalpolitik soll, um als rational zu gelten, „auf der Grundlage einer rationalen Kriminologie“ betrieben werden, „die ihr Erfahrungswissen aufgrund von wissenschaftlich abgesicherten Forschungsergebnissen unter Einbettung in ein theoretisches Konzept erzielt, aufbaut und durch sie begründet wird“58.

In diesem Konzept sind die Aufgaben der Wissenschaft vielfältig: Für die Ausarbeitung und Umsetzung kriminalpolitischer Maßnahmen, insbesondere für die Gesetzgebung, müssten immer kriminologische Befunde herangezogen werden.59 Folglich sollte sich der Gesetzgeber, bevor er tätig wird, über die Täter und Opfer informieren60, sich klare Gedanken über die angestrebten Ziele machen61 und dazu den Ist-Zustand genau kennen, um nicht versehentlich Scheinprobleme zu regeln. „Eine Verbesserung der Qualität des rationalen Diskurses“ sei letztlich nur „über eine fest institutionalisierte Beteiligung der Wissenschaft am Gesetzgebungsprozess“ erreichbar.62

← 23 | 24 → In der Verwirklichung des Ziels einer rationalen Kriminalpolitik ist die Rolle der Wissenschaft also eine tragende in der Definition der Probleme und der Lösungen. Damit wird eine Art der Gesetzgebung beschrieben, in der die Grundlagen63 der gesetzgeberischen Entscheidung wissenschaftliche Erkenntnisse sind. Die Hinzuziehung externen Sachverstands wird als wichtig für die Rationalisierung der Gesetzgebung angesehen64. Macht man sich dabei wieder die Unterscheidung zwischen Fakt und Forderung mit Blick auf deren Verwirklichungschancen deutlich65, muss man sich auch an dieser Stelle zunächst einmal ein Bild über den Ist-Zustand machen. Für die Möglichkeiten der Verwirklichung der oben beschriebenen Forderung nach „rationaler Kriminalpolitik“ stellt sich also die Frage nach dem Einfluss der kriminalpolitischen Wissenschaft auf die kriminalpolitische Realität.

3. Wissenschaftlichkeit und Strafgesetzgebung

a) Die aktuelle Verbindung von Wissenschaft und Gesetzgebung: eine erste Einschätzung

Die Verbindung von Strafrechtswissenschaft66 und Kriminologie zur Gesetzgebung war historisch eine sehr enge, beginnend bei Beccaria, dessen Werk „dei delitti e delle pene“ von 176467 von den österreichischen Provinzen Oberitaliens bis hin nach Russland und Amerika maßgeblichen Einfluss auf die Reform der Gesetzgebung hatte.68 Diesem Beispiel folgend war die Strafrechtswissenschaft in ihrer Tätigkeit lange gerade auf die Schaffung neuen Rechts ausgerichtet, wobei sie wiederum eng mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen, allen voran der Philosophie verknüpft war. Von Ende des 18. Jahrhunderts bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts wurden im Gebiet des heutigen Deutschlands neue Gesetzgebungsprojekte im ← 24 | 25 → Bereich des Strafrechts stets von prominenten Größen der Strafrechtswissenschaft vorbereitet und begleitet. Erinnert werden soll hier nur etwa an die Beiträge J.A. Feuerbachs zum Bayerischen StGB oder Bindings zum StGB von 1871.69 Die Kriminologie war im Zusammenhang der Prävention als Zweck des Strafrechts gefragter Lieferant notwendigen Wissens.70 In diesen geschichtlichen Kontext passen auch noch die Diskussionen zu den großen Strafrechtsreformen, die in den 1960er Jahren mit dem Entwurf der Großen Strafrechtskommission von 1962 ihren Anfang nahmen und durch den „Alternativentwurf“, der von zahlreichen renommierten Strafrechtsprofessoren erstellt worden war, ergänzt wurden.71

Diese Hochzeiten der wissenschaftlichen Gesetzgebung dauerten jedoch nicht ewig an. Der Einfluss der Wissenschaft verblasste zunehmend. Während die Gesetzgebung um den Alternativentwurf als Triumph wissenschaftlich motivierter Gesetzgebung gefeiert wird, folgte bald darauf Resignation.72

Details

Seiten
340
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653042788
ISBN (ePUB)
9783653986709
ISBN (MOBI)
9783653986693
ISBN (Paperback)
9783631651407
DOI
10.3726/978-3-653-04278-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
Kriminalpolitik Gesetzgebungstheorie Symbolgesetzgebung Gesetzgebungslehre Rechtsgutstheorie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 340 S.

Biographische Angaben

Benjamin Kertai (Autor:in)

Benjamin Kertai, promovierter Volljurist; Studium der Rechtswissenschaften in München und Aix-en-Provence; anschließend Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für die Gesamten Strafrechtswissenschaften der LMU München; derzeit tätig als Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft München I.

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