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Karl Jaspers und Jean-Paul Sartre im Dialog

Ihre Sicht auf Existenz, Freiheit und Verantwortung

von Anton Hügli (Band-Herausgeber:in) Manuela Hackel (Band-Herausgeber:in)
©2015 Konferenzband 238 Seiten

Zusammenfassung

Sartre und Jaspers, in welcher Beziehung stehen sie zueinander, was eint sie, was trennt sie? Um Fragen wie diese geht es in diesem Band. Jaspers- und Sartre-Forscher zeigen auf, wo in Bezug auf zentrale Begriffe wie Existenz, Situation, Freiheit und Verantwortung das Verbindende, aber auch das Trennende liegt in der Sicht dieser beiden wohl namhaftesten Vertreter der so genannten Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts. Thematisiert wird auch der Begriff des Verstehens selbst – zunächst anhand des Selbstverständnisses von Sartre und Jaspers, nicht zuletzt aber auch in Bezug auf den zwischen den Autoren geführten Dialog selbst. Wie weit, so immer wieder die grundsätzliche Frage, ist gegenseitiges Verstehen in der Philosophie überhaupt möglich und wo stößt auch der offenste Dialog an seine Grenzen?

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung der Herausgeber
  • Sartre und Jaspers?
  • Methodische Zugänge: Zum Verstehen des Verstehens
  • Grundbegriffe im Dialog: Existenz, Freiheit und Transzendenz
  • Verantwortung
  • Ein Ausblick
  • Literaturverzeichnis
  • 1. Zum Begriff der Existenz – eine erste Annäherung
  • Sartre und Jaspers zur Frage nach der Transzendenz. Ein Aufriss der grundlegenden Differenzen zwischen Jaspers und Sartre aus der Jaspersschen Sicht
  • 1. Sartre und Jaspers in ihrem Verhältnis zueinander
  • 2. Jaspers’ Skizze der grundlegenden Differenzen
  • 3. Aus welcher Perspektive spricht Jaspers? Eine methodologische Erörterung
  • 4. Eine Interpretation der von Jaspers konstruierten Dichotomien
  • 4.1. Das, was Existenz heißt, „ist dem einen der Inhalt einer Seinsaussage, dem anderen Appell an eine Möglichkeit“.
  • 4.2. „Dem einen ist die Existenz das Unableitbare, aus sich selbst Seiende (ich schaffe mich selber). Dem andern ist Existenz nur ineins mit der Macht, durch die sie sich gesetzt weiß, die Transzendenz (ich habe mich nicht selbst geschaffen).“
  • 4.3. „Der eine faßt die Freiheit als die Bedingungslosigkeit, vermöge der alles an mir liegt; ich kann und darf wollen, was ich will. Dem andern aber liegt in der Freiheit das Finden der Notwendigkeit dessen, was geschehen soll“.
  • 4.4. „Der eine schwelgt in der Feststellung des Absurden in allem Dasein“. „Der andere findet in der Grenzsituation des Widersprechenden, Unlösbaren, Ausweglosen, im Scheitern selbst den Aufschwung zum Innewerden des transzendenten Seins.“
  • 4.5. Der eine überwindet den Nihilismus, indem er ihn „mit einer Tapferkeit“ ergreift, „die als Tapferkeit selber schon nicht mehr Nihilismus ist“. Beim andern drängt „eine unabhängige Philosophie zur Wirklichkeit, die durch das Fegefeuer des Nihilismus gegangen ist“.
  • Literaturverzeichnis
  • Aufschwung zur Existenz oder nutzlose Leidenschaft?
  • Literaturverzeichnis
  • Der Begriff der Existenz bei Jaspers und Sartre
  • 1. Jaspers
  • 2. Sartre
  • 3. Schlussbetrachtung
  • Literaturverzeichnis
  • 2. Zur Frage des Wissens und Verstehens
  • Wissenschaft und Philosophie bei Jaspers und Sartre
  • Jaspers und Sartre über Wissenschaft
  • Jaspers und Sartre über Philosophie
  • Literaturverzeichnis
  • Der Begriff des Verstehens bei Jaspers und Sartre
  • 1. Verstehen bei Karl Jaspers
  • 2. Verstehen bei Jean-Paul Sartre
  • 3. Die existentielle Psychoanalyse und die Erklärungsidole
  • Literaturverzeichnis
  • Ist die Existenz unverständlich? Das Verstehen des Anderen und seine Grenzen in der Existenzphilosophie
  • Søren Kierkegaard – objektives oder subjektives Denken
  • Karl Jaspers – Erkenntnis des Daseins oder Appell an die Existenz
  • Jean-Paul Sartre – die Vermittlung von Objektivität und Existenz
  • Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • 3. Zum Begriff der Situation
  • Der Begriff der Situation bei Jaspers und Sartre. Der Felsblock, die Straße und die Straßenpfütze
  • 1.
  • 2.
  • Literaturverzeichnis
  • 4. Über Freiheit und Verantwortung
  • Mitverantwortung bei Jaspers, Sartre und Jonas. Eine Problemskizze
  • Einleitung
  • Sartre
  • Jonas
  • Jaspers
  • Wieland
  • Literaturverzeichnis
  • Freiheit, Schuld und Verantwortung bei Jaspers und Sartre aus der Perspektive von Lévinas
  • 1. Freiheit bei Sartre und Jaspers
  • 1.1 Konkrete Freiheit des Cogito (Sartre)
  • 1.2 Existentielle Freiheit (Jaspers)
  • 1.3 Existentielle Freiheit und metaphysische Schuld (Jaspers)
  • 1.4 Cogito und Schuld (Sartre)
  • 2. Sartre und Jaspers aus der Perspektive von Lévinas
  • 3. Über das Verhältnis von Ethik und Politik
  • Literaturverzeichnis
  • Jaspers, Sartre, Camus und die Atombombe
  • 1. Natürliche Sinnerschütterungen
  • 2. Menschliche Katastrophen
  • 3. Die Atombombe als philosophische Herausforderung
  • 4. Janusköpfige Angst
  • 5. Jaspers und Sartre und die Geschichte
  • 6. Sartre über Angst, Furcht und Freiheit
  • 7. Eine neue Situation
  • 8. Camus, die Angst und die Bombe
  • 9. Was tun? Macht und Vernunft
  • 10. Jaspers, Hochhuth, Kritik und Schweigen
  • 11. Noch einmal Sartre und die Geschichte
  • Literaturverzeichnis
  • Verzeichnis der Autoren

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Einleitung der Herausgeber

Sartre und Jaspers?

Sartre und Jaspers, in welcher Beziehung stehen sie zueinander, was eint sie, was trennt sie. Um Fragen wie diese geht es in diesem Band. Doch warum gerade jetzt und warum überhaupt? Es gibt vor allem zwei Gründe: einen in der Sache selbst und einen im Forschungsstand liegenden.

Der in der Sache selbst liegende Grund ist der Umstand, dass Sartre und Jaspers, die allein schon auf Grund ihres gemeinsamen Ausgangspunktes, des Existenzbegriffs Kierkegaards, auf das Engste miteinander verwandt zu sein scheinen und von ihren Zeitgenossen oft im selben Atemzug genannt wurden, sich persönlich nie begegnet sind und nie direkt miteinander kommuniziert haben. Es gibt weder einen Briefwechsel, in dem sie sich ausgetauscht hätten, noch irgendeine Form der Debatte. Sie haben sich zwar wechselseitig, wenn auch in unterschiedlichem Maße zur Kenntnis genommen und in ihren Werken gelegentlich aufeinander verwiesen. Doch ihr Urteil über den jeweils anderen war gemacht und blieb in Form ihrer öffentlichen Stellungnahmen weiterhin so stehen. Weder sie selbst noch jene, die sich auf sie beriefen, haben sich genötigt gefühlt, diese Urteile zu revidieren. Dass diese Debatte nie geführt wurde, wirkt bis heute nach. Sie nachzuholen ist der eine Grund.

Der Zeitpunkt ist insofern günstig, als das Interesse an den unter dem Label „Existenzphilosophie“ und „Existentialismus“ subsumierten Denkern seit einigen Jahren im Wachsen begriffen ist und entsprechend auch das Bedürfnis, sich vertieft wieder mit ihren Werken auseinanderzusetzen.1 Darum – und dies ist der ← 7 | 8 → forschungsimmanente Grund – sind nicht zuletzt auch wieder die Spezialisten gefragt, die diese Denker zum Gegenstand ihrer Forschung gemacht und zur Erschließung und Verbreitung ihrer Schriften beigetragen haben. Doch hier liegt auch schon das Problem. Je gründlicher die Kenntnisse in Bezug auf die jeweils favorisierten Denker, desto oberflächlicher häufig die Vertrautheit mit den nicht im Fokus Stehenden. Aus diesem Grund braucht es so etwas wie Überblicksforschung und – als Voraussetzung dafür –, den intensiven Austausch unter den Spezialisten selbst. Diesem Ziel diente die von der Deutschen Sartre-Gesellschaft und der Karl-Jaspers-Stiftung organisierte Tagung im Oktober 2013, aus der die Beiträge zu diesem Band hervorgegangen sind. Der Tagungsort im elsässischen Klingenthal gab dabei den idealen Rahmen ab für die Begegnung zwischen deutscher und französischer Philosophie des 20. Jahrhunderts in Gestalt zweier ihrer Hauptvertreter.

Ein erhellender Beitrag zur Überblicksforschung ist aus dieser Begegnung hervorgegangen, nicht zuletzt aber auch ein Zugewinn für die Jaspers- und Sartre-Forschung selber. Denn der Vergleich zwingt zu genauerem Lesen, bringt neue Fragen ins Spiel, erweitert so den Horizont des Verstehens und macht einmal mehr erfahrbar, dass es letztlich Verstehen nur gibt, wenn man Bezüge schaffen, Verbindungen herstellen und Dinge im Zusammenhang sehen kann. Im Vergleich erst zeigt sich auch die Besonderheit eines Autors. Und er hilft den Interpreten, sich von ihren Vorurteilen und Befangenheiten zu befreien. Der Vergleich stand denn auch auf dieser Tagung im Vordergrund. Den Referentinnen und Referenten war dabei auferlegt, in ihren Referaten den Vergleich selber zu vollziehen, d.h. sich immer mit beiden Autoren und deren Umfeld auseinanderzusetzen. Über das gegenseitige Verstehen hinaus auch zu einem Konsens in der Sache zu kommen, war von vornherein nicht Ziel; das Beste, was wir uns erhoffen konnten, war, die eigene Position in ihrer Perspektiviertheit und in ihren Grenzen zu sehen und gegenseitig voneinander zu lernen.

Methodische Zugänge: Zum Verstehen des Verstehens

Besser zu verstehen also war das erhoffte Ziel. Nur: was heißt Verstehen? Sowohl Sartre als auch Jaspers haben sich intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt, und beide haben sich extensiv im Verstehen geübt: Jaspers als Psychopathologe ← 8 | 9 → schon von Berufs wegen und als Philosophieprofessor in seinen zahlreichen philosophiegeschichtlichen Arbeiten unter den Auspizien seines Monumental-projektes einer Weltgeschichte der Philosophie, Sartre in seinen phänomenologisch-ontologischen, später zunehmend gesellschaftshistorischen Analysen der ‚menschlichen-Realität‘, die ihren Niederschlag im Projekt der existentiellen Psychoanalyse und, ganz konkret, in den Biografien Baudelaires, Mallarmés und Genets, insbesondere in seiner voluminösen Studie über Flaubert gefunden haben. Die Artikel von Philippe Cabestan, Jens Bonnemann, Alfred Betschart und Anton Hügli drehen sich um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Verstehen des Verstehens.

Als gemeinsamer Ausgangspunkt lässt sich sowohl Jaspers’ als auch Sartres kritische Haltung gegenüber einer Psychologie ausmachen, die vom Glauben beseelt ist, die Vorgänge der menschlichen Psyche seien ausschließlich über Kausalzusammenhänge beschreibbar, die sich in empirisch-quantitativen Verfahren ermitteln lassen. Jaspers’ Bemühen in der Allgemeinen Psychopathologie geht deshalb dahin, auch der „ganz anderen Art von Zusammenhängen“2 des Seelenlebens nachzugehen, welche jenseits von induktiven oder deduktiven Herleitungen „ihre Überzeugungskraft in sich selbst“3 haben und die zu ermitteln er als Aufgabe einer ‚verstehenden Psychologie‘ ausweist. Philippe Cabestan geht in seinem Beitrag auf die verschiedenen Arten des Verstehens ein, die Jaspers als Ergänzung zur empirischen Phänomenologie einerseits und zur statischen Psychologie andererseits skizziert. Ein wichtiger Aspekt des Verstehens ist, wie Cabestan zeigt, die Einfühlung in das Seelenleben des Einzelnen, durch die nicht nur die Gedankeninhalte erfasst, sondern auch die Stimmungen und Entwürfe des Einzelnen zueinander in Beziehung gesetzt und eine „Gesamtanschauung“ der seelischen Vorgänge gewonnen werden können. Kennzeichnend für dieses Verfahren ist, dass es – ganz im Husserlschen Sinn – mit Evidenzen arbeitet, aber keine ‚notwendigen‘ Zusammenhänge oder gesicherten Erkenntnisse behauptet. Denn, wie Jaspers hervorhebt, die „Übertragung [allgemeiner Zusammenhänge] auf den Einzelfall [kann] falsch sein“4, weil die konkrete Persönlichkeit eines Menschen nicht im Allgemeinen aufgeht. Vielmehr enthält sie in mehrfacher Hinsicht etwas Unreduzierbares, das sich dem Verstehen entzieht. Cabestan hält daher fest, dass für Jaspers „das Verstehen unabschließbar ist, weil es an die Grenzen des Unverständlichen des Daseins und der Freiheit ← 9 | 10 → der Existenz stößt.“5 Damit bleibt für Jaspers das Verstehen letztlich eine – mehr oder weniger gut – begründete, aber stets nur wahrscheinliche Hypothese.

Im Unterschied zu Jaspers zeigt sich Sartre, wie neben Philippe Cabestan auch Jens Bonnemann herausarbeitet, deutlich optimistischer hinsichtlich der Frage, ob bzw. mit welcher Sicherheit sich ein anderer verstehen lässt. Cabestan führt Sartres Optimismus darauf zurück, dass dieser die strikte Trennung, welche Jaspers (mit Husserl) zwischen dem phänomenologischen Erlebnisgehalt und seinem Ausdruck vollzieht, ablehnt und stattdessen beide als Einheit begreift, die überdies dem Beobachter auf der Basis eines – von Heidegger inspirierten – ‚vorontologischen Verstehens‘ zugänglich ist. Damit eröffnet sich für Sartre der Weg zum Projekt der existentiellen Psychoanalyse. Ihr zugrunde liegt – und hier zeigt sich der Einfluss der Allgemeinen Psychopathologie auf Sartres Denken – Jaspers’ Unterscheidung von (kausalem) Erklären und (einfühlendem) Verstehen, welche Sartre übernimmt und für seine eigene anthropologische Hermeneutik fruchtbar macht. „Erklären“, so schreibt er dann etwa in den Entwürfen für eine Moralphilosophie, „heißt durch die Ursachen erhellen, verstehen heißt durch die Zwecke erhellen.“6 Hier kündigen sich auch bereits die Modifikationen an, welche Sartre spätestens ab 19457 am Begriff des Verstehens vornimmt.

Am Beispiel der Flaubert-Studie veranschaulicht Jens Bonnemann in seinem Beitrag, wie Sartre konkret das von Jaspers skizzierte ‚existentielle Verstehen‘ übersetzt und ins Zentrum seiner eigenen Hermeneutik stellt, das den Einzelnen primär als Freiheit, und dies meint: von seiner Entwurftätigkeit her, versteht. Schon in Das Sein und das Nichts, im Grunde schon in den Kriegstagebüchern von 1939/40 skizziert Sartre die anthropologischen Voraussetzungen und das Verfahren der ‚existentiellen Psychoanalyse‘, das sein späteres Schaffen prägt und das er in den Fragen der Methode als Dialektik von ‚regressiver Analyse‘ und ‚progressiver Synthese‘ ausweist. Ein analoges Hin und Her zwischen Gesamtintuition bzw. -anschauung und Analyse der sich gegenseitig durchdringenden Aspekte kennzeichnete aber auch schon Jaspers in der Allgemeinen Psychopathologie als das Verfahren der verstehenden Psychologie.8 Dennoch sind die Strukturelemente der ‚verstehenden Psychologie‘ nicht mit denen der ‚existentiellen Psychoanalyse‘ identisch: Während Jaspers die Vereinigung von Phänomenologie und statischer und genetischer Psychologie im Auge hat – Psychologie verweist hier über ihre Grenzen hinaus auf die Philosophie als Existenzerhellung –, geht es ← 10 | 11 → Sartre, wie Bonnemann zeigt, um eine Vermittlung anderer Art: um die Synthese des ‚objektiven‘ mit dem ‚subjektiven‘ Denken, um die Synthese von Marx und Kierkegaard.9 Sein Verfahren fokussiert daher auf den schon in Das Sein und das Nichts ausgewiesenen zwei Seiten der Situation: auf den faktisch gegebenen historischen und soziobiographischen Umständen einerseits und auf dem Überschreiten dieser Gegebenheiten im Entwurf des Einzelnen andererseits.10 Fluchtpunkt der Analysen ist die biografische Entschlüsselung dessen, was ein Mensch unter den ihm gegebenen Bedingungen aus sich gemacht hat. Kennzeichnend für Sartres – als überzogen kritisierten – Optimismus ist der Glaube daran, dass sich die gesamte Biographie eines Menschen von einem Grundentwurf [projet initial] her erschließen lässt, der alle einzelnen – größeren und kleinen – Wahlen verstehbar macht und der, so bemerkt Alfred Betschart in seinem Beitrag, Adlers Auffassung vom Lebensplan nahesteht.

Im Unterschied zu Sartre verwirft Jaspers die Möglichkeit eines das Ganze eines Menschen oder einer Epoche umfassenden Verstehens; für ihn ist jedes Verstehen perspektivisch, es erfolgt immer nur unter bestimmten Aspekten, und jeder Aspekt steht unter eigenen Fragestellungen und verlangt seine eigenen Methoden. In der von Jaspers angedachten Weltgeschichte der Philosophie z.B. sind die Gesichtspunkte, die bei Sartre im Zentrum stehen, der Einzelne in seiner Bedingtheit durch die Zeit und in seiner unverwechselbaren Individualität, nur zwei von sieben Aspekten.11 Weil alles Verstehen perspektivisch ← 11 | 12 → ist, gibt es Jaspers zufolge, wie Alfred Betschart erläutert, stets nur partikulares Wissen, und jeglicher Anspruch auf Totalwissen beruht im Grunde auf einem Wissenschaftsaberglauben. Sind im Lichte dieser Stellungnahme Sartres ambitionierte Biographien zu verwerfen? Überspannt Sartre hier den Bogen in seinem Bestreben, Einzelne in ihrer Totalität begreifen zu wollen? Alfred Betschart antwortet hierauf mit dem Hinweis, dass Sartre – und hier zeige sich der Einfluss Heideggers – zwischen Wissenschaft und Wissenschaftsaberglauben prinzipiell nicht unterscheidet, weil es für ihn keine objektive Wissenschaft geben kann12; jeder wissenschaftliche Zugriff beruht bereits auf der Urwahl des Wissenschaftlers und enthält somit bereits eine unreduzierbar subjektive Komponente. Dies betrifft nicht nur das Verstehen Einzelner, sondern auch das Verstehen ganzer Epochen; es entlarvt zugleich jede naturwissenschaftlich-orthodoxe Interpretation der Geschichte in ihrer vermeintlich objektiven ‚Wahrheit‘ und offenbart damit Sartres eigentliche Ferne zum dialektischen Materialismus eines Engels, Lenin oder Stalin.

Mit diesem Hinweis spricht Alfred Betschart bereits einen anderen wichtigen Aspekt des Verstehens an: die Frage, wie der Verstehende selber zu dem von ihm Verstandenen steht. Ist er der neutrale Zuschauer, der Fakten beschreibt, oder ist er selber beteiligt an dem, was er darstellt, indem es ihm zur Frage wird, ob er das Verstandene sich selber zu eigen machen kann oder von sich abstoßen ← 12 | 13 → muss?13 Sartre selbst antwortet auf diese Frage in seinem Kierkegaard-Aufsatz „Das singuläre Universale“, und diese Antwort gibt bereits Auskunft über die jeweilige ‚Wahrheit‘ seiner Biografien: Selbst wenn ich alles über das Leben eines Menschen weiß, selbst wenn ich genauestens über seine Lebensverhältnisse, seine Beziehungen zu Anderen, seine Handlungen, Erfolge und Misserfolge etc. informiert bin – ob es sich hierbei um Kierkegaard, Flaubert oder einen x-beliebigen anderen Menschen handelt, ist sekundär –, bleibt dennoch etwas Unreduzierbares zurück, etwas, das ich nicht erfassen kann und das meinen Versuch, den Andern zu verstehen, letztlich scheitern lässt. Sartre kennzeichnet dieses Unreduzierbare mit Kierkegaard als die ‚subjektive Wahrheit‘ des Einzelnen, die sich nur diesem selbst – im Sich-Erleben und -Ergreifen – erschließt. So erscheint uns der Andere, wenn wir ihn verstehen wollen, im Grunde nur als ein „Pseudo-Objekt[]“14, das sich dem Verstehen entzieht. Führt aber Sartre damit nicht sein eigenes Projekt der existentiellen Psychoanalyse ad absurdum? Im Scheitern des Wissens vom Andern sieht Sartre – Gegenteil – eine Chance: der Versuch, den Andern zu verstehen, bringt mich zwar diesem in seiner ‚Wahrheit‘ nicht unbedingt näher; aber er verweist mich auf mich selbst zurück: „Wenn ich Kierkegaard lese, so gehe ich bis zu mir selbst zurück, und wenn ich ihn begreifen will, so bin ich es selbst, den ich begreife“15. Damit verlassen wir das Feld des bloß Verstehbaren und beginnen, selber zu philosophieren; wir treten ein in das, was Kierkegaard ‚indirekte Mitteilung‘ und was Jaspers ‚existentielle Kommunikation‘ nennt.

Während Sartre der Idee einer existentiellen Kommunikation in Das Sein und das Nichts angesichts der Konflikthaftigkeit menschlicher Beziehungen noch skeptisch gegenübersteht, so wandelt sich seine Sicht in den Entwürfen, wie sich anhand seiner Skizze des authentischen Appells und der authentischen Hilfe ankündigt. Für Jaspers ist sie von jeher zentral: Wer, selber philosophierend, den zu interpretierenden Autor zu seinem Gesprächspartner macht, wird – so die These von Jaspers, der Sartre letztlich auch zustimmen ← 13 | 14 → würde – für die Ergebnisse seines Philosophierens keine Objektivität beanspruchen können. Denn er ist damit selber schon mittendrin im Kampf der in der Philosophie wirksamen Mächte. Hier gibt es „keinen absoluten kritischen Maßstab von außen, nicht eine überlegene Position, von der her wir alles besser wüssten.“16 Der interpretierte Autor wird sich darum immer missverstanden fühlen. Als sprechendes Beispiel dafür kann man, wie Anton Hügli in seinem Beitrag zeigt, den öffentlichen Positionsbezug von Jaspers gegenüber Sartre selber ansehen: In dem Bild, welches Jaspers hier von Sartre zeichnet, würde sich dieser nur bedingt wiedererkennen.

Grundbegriffe im Dialog: Existenz, Freiheit und Transzendenz

Hand in Hand mit dem jeweiligen Verständnis von Philosophie geht, wie Anton Hügli, Rainer Thurnher/Manuela Hackel und Scaba Olay in ihren Beiträgen her­ausarbeiten, die Frage, worin die Existenz des Menschen besteht. Ihre Beiträge ergeben, zusammengenommen, folgendes Bild: Beide Denker beantworten die Frage, was menschliche Existenz sei, sehr verschieden. Für Sartre ist das, was die ‚menschliche-Realität‘ ausmacht, primär ein kontingentes Faktum, von dem er in den 30er Jahren und in Das Sein und das Nichts noch glaubt, dass man es allein mit phänomenologisch-ontologischen Mitteln erfassen und beschreiben kann. Existenz ist bei ihm daher zunächst ein wertneutraler Begriff, der eine Grundstruktur des Menschen im Allgemeinen erfasst. Für Jaspers dagegen ist die Existenz eine bloß mögliche, vom Einzelnen immer wieder neu zu wählende Seinsweise, zu der er sich aufschwingen, die er aber auch verfehlen kann. Jaspers spricht darum immer nur von möglicher Existenz, während die Existenz bei Sartre bereits faktisch ‚gegeben‘ ist. Darum ändert sich für Jaspers auch der Charakter philosophischer Aussagen über die menschliche Existenz. Mit ihnen wird nicht – phänomenologisch oder wie immer – festgestellt, worin menschliche Existenz als solche besteht; sie entspringen vielmehr dem Versuch eines existentiellen Denkers, seine existentiellen Erfahrungen in Begriffe zu fassen, im Wissen darum, dass das von ihm Gesagte vom andern nur soweit verstanden und angeeignet werden kann, als dieser sich dadurch in seiner eigenen Existenz ansprechen lässt. Existentielle Mitteilung ist darum für Jaspers immer appellativ, wie er dies nennt, wobei der Appell nicht als Aufforderung an den andern zu verstehen ist, sich auf meine Seite zu stellen. Es ist weit eher eine Form der ‚indirekten Mitteilung‘ im Kierkegaardschen Sinn, eine Mitteilung, die alles in ← 14 | 15 → der Schwebe lässt und es dem Empfänger überlässt, was er daraus für sich selber machen will.17

Diese Grunddifferenz im Existenzverständnis zeigt sich wohl am deutlichsten im Umgang mit dem Begriff, mit dem Existenz untrennbar verbunden ist, dem Begriff der Freiheit. „Eine Philosophie, die dieses Namens würdig ist, kann nur eine Philosophie der Freiheit sein“18. Diesem Satz von Marcel Gabriel würden wohl sowohl Jaspers als auch Sartre zustimmen. Aber hier endet auch schon die Gemeinsamkeit: Für Sartre ist Freiheit das, was dem Menschen immer schon vorweggeht. Der Mensch als Für-sich-sein ist eo ipso Freiheit, er ist nicht zunächst da, um dann frei zu werden, er ist immer schon frei, weil er Bewusstsein ist, d.h. die Negation einer unmittelbaren Koinzidenz mit sich selbst durch das Setzen einer Differenz zwischen dem, was er ist, und dem, was er (noch) nicht ist, sondern auf das hin er sich erst noch entwerfen muss. Nach Jaspers dagegen finden wir uns in dreifacher Weise als objektive, wissenschaftlich erkennbare Gegebenheit vor: als ein durch Interessen und Bedürfnisse bestimmtes Subjekt im Daseinskampf, als unpersönliches Bewusstsein überhaupt im objektivierenden Denken und als individuiertes Mitglied einer durch Ideen bestimmten Gemeinschaft. Doch in keiner dieser Erscheinungsweisen sind wir frei. Denn Freiheit, wie sie Jaspers versteht, ist mehr als die zwar spontane, aber letztlich von psychologischen Triebkräften abhängige Willkür auf der Ebene des Daseins; sie ist mehr als die transzendentale Freiheit Kants innerhalb des Bewusstseins überhaupt, die ich erfahre, wenn ich mich einem selbst gesetzten Imperativ unterwerfe19; sie ist auch mehr als die bloße Idee von Freiheit im Raum des Geistes, der ich folge, wenn ich „Bedingungen und Möglichkeiten des Handelns ohne Grenzen mir zum Bewußtsein bringe, […] alle Motive mich ansprechen und in mir zur Geltung kommen lasse“ und „aus der Totalität heraus […] die Bestimmung meines Sehens und Entscheidens, ← 15 | 16 → meines Fühlens und Handelns gewinne“20. Dies alles sind bloß Voraussetzungen für den – unter dem Druck der drängenden Zeit stehenden – ‚unbedingten Entschluss‘, mit dem ich den Sprung vollziehe in jene konkrete Lebensmöglichkeit – meine Liebe, meine Aufgabe usw. –, die ich als meine „eigenste“ übernehmen und nicht mehr aufgeben will.21 Dieser Entschluss hat nach Jaspers keinen Rest von Willkür mehr in sich, er ist ein inneres Müssen22 – nicht ein triebhaftes Müssen, sondern ein Müssen im Sinne des „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“23 Erst durch ihn gewinne ich die Freiheit – Jaspers nennt sie „existentielle Freiheit“ –, in der ich mich selbst in Freiheit und aus Freiheit ergreife.

Dennoch wird bei näherem Zusehen das – auch von Jaspers beförderte – Image Sartres als unterkühlten Beobachters, dessen Existenz- bzw. Freiheitsanalysen jeglicher Appellcharakter abgeht, Sartre nicht gerecht. Unbestritten ist zwar, dass dieser Phänomenologie und Ontologie ganz im Sinne Husserls und Heideggers als rein deskriptive Verfahren vorstellt. Vor diesem Hintergrund erteilt er in der Tat in Das Sein und das Nichts jeglichem Appellcharakter seines Existenz- bzw. Freiheitsbegriffs eine Absage: „Die Ontologie könnte selbst keine moralischen Vorschriften formulieren. Sie beschäftigt sich allein mit dem, was ist, und es ist nicht möglich, aus ihren Indikativen Imperative abzuleiten.“ Dennoch ist Sartres philosophisches Projekt damit nur zum Teil erfasst. Sein tieferes Anliegen offenbart er direkt im Anschluss an diesen Satz: „Sie [die Ontologie] läßt jedoch ahnen, was eine Ethik sein kann, die ihre Verantwortlichkeiten gegenüber einer menschlichen-Realität in Situation übernimmt.“24 Diese Ethik taucht bei Sartre bereits im Herzen der Ontologie selbst auf, wenn er hervorhebt, dass Existenz nicht, wie es zunächst schien, ein bloßes Faktum darstellt, das sich wertneutral erfassen lässt; sie „unterscheidet sich vom reinen Bewußtsein darin, daß [sie] einen Wert vor sich hin entwirft“25. Wenn auch Sartre ihren Wert als unbegründbar ausweist, so hält er ihn dennoch nicht für beliebig, sondern führt ihn auf jene vorwillentliche Urwahl zurück, welche die existentielle Psychoanalyse aufdecken soll.

In diesem Zusammenhang ist auf ein zweites, sich hartnäckig haltendes Missverständnis einzugehen, das Sartres Freiheitsbegriff selbst betrifft. Auch wenn Sartre den Menschen auf dem Grunde seines Seins als frei begreift, bedeutet dies ← 16 | 17 → nicht, dass er die Freiheit als gegeben oder gar als ‚radikal‘ gegeben setzt, was nahelegen würde, er könne dem Jaspersschen Projekt, die Freiheit als Aufgabe zu begreifen, keinen Sinn abgewinnen.

Auffällig ist zunächst, dass der Begriff der Unaufrichtigkeit schon in Sartres Frühwerk eine Omnipräsenz entfaltet, die dieses Bild infrage stellt. Sartres Bemühungen, die Unaufrichtigkeit in ihren unzähligen Gestalten zu entlarven, offenbaren darüber hinaus, dass er die Frage, ob sich der Einzelne das Faktum seiner ursprünglichen Freiheit verhehlt oder nicht, gerade nicht als sekundär einstuft. Schon Das Sein und das Nichts erweist sich als ein durch und durch aufklärerisches Projekt, das als solches bereits einem Wert dient, wenn auch Sartre diesen letztlich nicht begründen kann26: Am Fluchtpunkt steht die Idee der Authentizität als der verantwortlichen Übernahme des eigenen Freiseins, und zwar nicht im abstrakten, bloß ontologischen Sinne – in diesem und nur in diesem Sinne hält Sartre die Freiheit für ‚radikal‘ gegeben –, sondern ganz konkret, als Freiheit in Situation. Besonders evident wird dieses Projekt in den Entwürfen für eine Moralphilosophie, ebenso in seinen literarischen und politischen Schriften wie den Überlegungen zur Judenfrage, welche über das bloße Faktum des ‚Dass‘ hinaus verstehen helfen sollen, warum sich Menschen zumeist in Unaufrichtigkeit verwirklichen. Und dies wirft erneut die Frage auf, ob Sartres eigenes Denken in dieser Hinsicht nicht dem Jaspersschen Projekt der ‚Existenzerhellung‘ nahesteht, das ja ebenfalls dem Einzelnen dazu verhelfen soll, seine eigene Unfreiheit zu überwinden. Um dies zu sehen, wäre allerdings methodisch erforderlich, die unterkühlte, ahistorische ‚phänomenologische Ontologie‘ hinter sich zu lassen und sich Sartres andern Ansätzen zuzuwenden, die die empirischen Rahmenbedingungen selbstgewählter Unfreiheit einholen und schließlich offenbaren, dass Authentizität nicht von der Wahl des Einzelnen allein, sondern auch vom andern abhängt, der mich an der Ausübung meiner empirischen Freiheit hindern kann: „Eine Konversion ist selbstverständlich theoretisch möglich, sie impliziert jedoch nicht nur meine innere Wandlung, sondern eine reale Wandlung des anderen. Ohne diese historische Wandlung gibt es keine absolute moralische Konversion.“27

Ob es mir gelingt, mich in Freiheit zu ergreifen, liegt somit nicht in meiner Macht allein, sondern setzt bereits den andern als meine Freiheit ermöglichende ← 17 | 18 → Instanz voraus. Dem würde auch Jaspers zustimmen. Der tiefere Graben zwischen beiden Denkern liegt jedoch in der Interpretation dieses andern, den Jaspers zwar zunächst auch im anderen „einer existentiellen Kommunikation“ sieht, in der entscheidenden Hinsicht aber als eine transzendente Macht begreift, die alle Erscheinungsweisen des empirischen Seins übersteigt: Es ist, als ob ich mir selbst in meiner Freiheit geschenkt würde, so die immer wiederkehrende Formel von Jaspers, geschenkt durch etwas, das ich selbst nicht begreifen, sondern nur im eigenen Existenzvollzug erfahren kann. Wie bei Kierkegaard, so steht darum auch bei Jaspers diese Freiheit in unmittelbarem Bezug zur Transzendenz.

Wir können, wenn wir nicht lieben, nicht wissen, was wir sollen, unsere Freiheit nicht erzwingen. Wenn wir frei entscheiden und erfüllt vom Sinn unser Leben ergreifen, so sind wir uns bewußt, uns nicht uns selbst zu verdanken. […] [Wir sind uns] in unserer Freiheit als uns von der Transzendenz gegeben bewußt28.

Spätestens an diesem Punkt öffnet sich die wohl augenfälligste Differenz zwischen Jaspers und Sartre. Sartres Atheismus verbietet ihm jedes Guckloch zur Transzendenz und zu einem sinnstiftenden, alles umfassenden Sein, in dem er nur den Versuch sieht, sich unaufrichtig der eigenen Kontingenz zu entledigen und eine Moral a priori zu postulieren, die uns unserer eigenen ethischen Verantwortung enthebt. Die einzige Transzendenz, die es für ihn gibt, ist die daseins-immanente Transzendenz des Für-sich-seins, das – im Selbstentwurf, horizontal gleichsam – immer schon über sich hinaus ist und seine Werte setzt. Die einzige Grenze, an die der Mensch dabei stößt, ist die des Todes als „eine[r] jederzeit mögliche[n] Nichtung meiner Möglichkeiten, die außerhalb meiner Möglichkeiten liegt“29, einerseits und die meines völligen Ausgeliefertsein an den mitmenschlichen andern andererseits. Der Tod wirft mich auf mein kontingentes Dasein zurück; er ist Faktum wie ich selbst, der Freiheit des Für-sich-seins völlig entzogen und darum sinnlos, absurd; „er geschieht uns von draußen und verwandelt uns in Draußen.“30

Die Grunddifferenz zwischen Jaspers und Sartre in ihrer Haltung zur Transzendenz hat Auswirkungen auf ihr Verständnis für den – für sie wie auch für alle existenzorientierten Denker – wohl zentralsten Aspekt von Existenz: das Faktum, dass menschliche Existenz immer Existenz in Situationen ist. Nach Sartre sind wir, wie Jean-Claude Gens in seinem Beitrag zeigt, nur dadurch und nur insofern ← 18 | 19 → immer in Situation, als wir uns immer schon vorweg sind und uns auf neue Möglichkeiten hin entwerfen. Zentral für Jaspers dagegen ist das Bewusstsein dafür, dass es Situationen gibt, denen wir nicht entrinnen und die wir nicht auf neue Situationen hin überschreiten können. Zu diesen unüberschreitbaren Grundsituationen gehört für ihn nicht nur der Tod, sondern auch die Tatsache, dass wir notwendigerweise zu kämpfen und zu leiden haben, dem Zufall unterworfen sind und nicht leben können, ohne schuldig zu werden. Das Wissen darum, dass wir permanent in solchen Grenzsituationen gefangen sind und letztlich immer scheitern werden, kann uns innerlich vernichten, es kann uns nach Jaspers aber auch zum Anlass werden, den Sprung über unser Dasein hinaus zu wagen zum Glauben an die Möglichkeit eines Seins, das die Erscheinungshaftigkeit der Welt übersteigt und das ich überall dort, wo ich meine Freiheit (im zuvor beschriebenen Sinn) ergreife, als Wirklichkeit erfahren kann.

Für Sartre kommt in diesem ‚Sprung‘, der das Scheitern überwinden soll, jenes ‚religiöse Bedürfnis‘31 zum Ausdruck, das schon Nietzsche im postmetaphysischen Menschen entdeckt und als ‚Hinterweltlertum‘ diskreditiert hat und dem nachzugeben Camus als ‚philosophischen Selbstmord‘ bezeichnet. Sartres Einigkeit mit diesen beiden Denkern mag der Grund dafür sein, dass er in seiner bekannten undifferenzierten Weise Jaspers dem ‚christlichen Existentialismus‘ zuschlägt32, weil er ihn für einen ‚weichen‘ und in letzter Hinsicht unaufrichtigen Denker hält, der sich, weil er das Scheitern unserer metaphysischen Ambitionen nicht erträgt, in das Unbegreifliche stürzt, um aus ihm eine Hoffnung zu schöpfen, die Sartre als Flucht ausweist.33 Jaspers wiederum würde auf die (jeder Vernunft widerstreitenden) Konsequenzen hinweisen, die diese Transzendenzlosigkeit nach sich zieht und die nach seiner Deutung schon Nietzsche gezogen hat: Wenn die Freiheit des sich selbst

Details

Seiten
238
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653042757
ISBN (ePUB)
9783653986723
ISBN (MOBI)
9783653986716
ISBN (Hardcover)
9783631651391
DOI
10.3726/978-3-653-04275-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Dezember)
Schlagworte
Atombombe Zweiter Weltkrieg NS-Diktatur Existenzphilosophie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 238 S.

Biographische Angaben

Anton Hügli (Band-Herausgeber:in) Manuela Hackel (Band-Herausgeber:in)

Anton Hügli war bis zu seiner Emeritierung Professor für Philosophie und Pädagogik an der Universität Basel. Seine Forschungsschwerpunkte sind Praktische Philosophie, Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, Begriffs- und Ideengeschichte sowie Bildungs- und Erziehungsphilosophie. Manuela Hackel promovierte über Selbstverhältnis und Mangelhaftigkeit bei S. Kierkegaard und J.-P. Sartre. Sie ist Mitherausgeberin des Buches Sartre – eine permanente Provokation (2014).

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Titel: Karl Jaspers und Jean-Paul Sartre im Dialog
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