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Kanon und Literaturgeschichte

Facetten einer Diskussion

von Ina Karg (Band-Herausgeber:in) Barbara Jessen (Band-Herausgeber:in)
©2014 Konferenzband 336 Seiten

Zusammenfassung

Kanonbildung ist mit Literaturgeschichtsschreibung und der Auswahlproblematik eng verbunden. Stets muss über die Aufnahme oder den Verzicht auf Werke und Autoren eine Sinn- und Bedeutungszumessung im Kommunikationsfeld Literatur vorgenommen werden. Dieser Aufgabe stellte sich die Sektion 11 des Germanistentages 2013 in Kiel. Die hier versammelten Tagungsbeiträge lassen sich folgenden Themenfeldern zuordnen: Zunächst wird Grundsätzliches zur Kanontheorie und Kanonbildung besprochen. Anschließend finden Orte der Vermittlung Erwähnung: Dichterhäuser, Literaturmuseen, Universitäten, Schulen, Theater. Schließlich beschäftigen sich die Beiträge mit übersehenen Epochen und Literaturen: Kinder- und Jugendliteratur, Mittelhochdeutsche Literatur, Drittes Reich, DDR-Literaturgeschichte, Theaterlandschaft um 1800, Interkulturelle Literatur und vergessene Autor(inn)en.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Kanon und Literaturgeschichte. Facetten einer Diskussion
  • Kanon und Gegenwart. Theorie und Praxis des literarischen Kanons im Zeichen von Historizität, Dynamik und Pluralität
  • Typische Texte. Überlegungen zu einem kulturwissenschaftlichen Kanonbegriff
  • „…Kälte atmend der Ofen …“. Edvard Munch, Franz Kafka, Charlie Chaplin – Deuter der Moderne
  • „Sonderfall Weimar“. Vermittlung von Literatur und Kultur in Dichter- und Herrscherhäusern sowie Parkanlagen
  • Literarische Museen – Tempel des Kanons?
  • Jenseits des Kanons. Wege der außerschulischen Vermittlung von Literatur jenseits des Höhenkamms
  • Kanonisierungseffekte und Klassikerlektüre/ schriftliche Abiturprüfungen/ Bildungsstandards
  • Die Öffnung des Kanons. Zur literaturdidaktischen Auswahlpraxis von Gegenwartsprosa und den Möglichkeiten ihrer Analyse
  • Erzählen vom heimlichen Blick. Ein Plädoyer für themengeleitete Kanonisierung zur Integration vormoderner Texte in den Deutschunterricht
  • Literaturgeschichte und Kanon der Kinder- und Jugendliteratur – Schul- und hochschuldidaktische Annotationen
  • Was man gelesen haben muss – und was gelesen wird. Mittelhochdeutsche Literatur gestern und heute
  • Deutsche Literatur 1933-1945 und Fragen der Kanonisierung
  • DDR-Literaturgeschichte neu schreiben
  • Es war nicht immer Kotzebue. Eine Revision der Kanonisierung des populären Theaterstücks um
  • Interkulturelle Literatur im Kanon der zeitgenössischen Literatur
  • Warum ist Carry Brachvogel (1864-1942) heute vergessen? Carry Brachvogel - eine berühmte Münchner Schriftstellerin und Frauenrechtlerin zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ein vergleichender Blick auf Franziska von Reventlow (1871-1918)
  • Die Beiträgerinnen und Beiträger

← 6 | 7 →Ina Karg und Barbara Jessen

Einleitung Kanon und Literaturgeschichte. Facetten einer Diskussion

Für altgriechisch κανών findet man als erste Bedeutung ‚Stab‘ oder ‚Rohr‘, was auf einen Teil einer Pflanze hinweist. Erkennbar ist dies noch im englischen cane, das zugleich allerdings auch den Rohr stock bezeichnet, der in Schulen zur Disziplinierung der Kinder eingesetzt wurde. Damit eröffnet sich die Perspektive auf ein Bedeutungsfeld, das mit Maßstab / Regel / Reglementierung / Grenzziehung umrissen werden kann, d.h. es geht um Entscheidungen, etwas zu akzeptieren oder auch nicht. In theologischen und juristischen Zusammenhängen sind kanonische Texte nicht nur solche, die Akzeptanz gefunden, Vorbildfunktion haben und sich besonderer Wertschätzung erfreuen, sondern denen Verbindlichkeit zuerkannt ist und mit denen Gewährleistungen eingefordert werden können. Dass dies erfolgt, dafür sorgen Autoritäten bzw. diejenigen, denen Autorität übertragen worden ist, die zugleich auch – offen oder versteckt – die Deutungsmacht über den Kanon haben.

Etwas anders sieht es für Texte aus, die man gemeinhin als ‚Literatur‘ liest: Weder scheint es eine Verbindlichkeit noch eine Autorität mit Deutungs- oder gar Durchsetzungsmacht zu geben. Andererseits herrscht auch hier keine reine Willkür. Da Kanonbildung und Literaturgeschichte – besser: Literatur geschichtsschreibung – eng miteinander verbunden sind und selbst ein annalistisches Prinzip von ‚Literaturgeschichte‘ nicht ohne Auswahl auskommt, muss stets über die Aufnahme oder den Verzicht auf Werke und Autoren eine Sinn- und Bedeutungszumessung im Kommunikationsfeld Literatur vorgenommen werden. Bei anderen Modellen des literaturgeschichtlichen Narrativs ist noch deutlicher zu erkennen, dass der Auswahl bestimmte Prinzipien zugrunde liegen.

Ein ‚Kanon‘ ist auch nicht etwas, das sich ein einzelner Mensch, eine Gruppe oder eine bestimmte Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit voraussetzungslos zusammensucht. Synchron betrachtet hat ein Kanon einen Kern und hat Ränder. Diachron betrachtet zeigen sich die Veränderungen im Inventar und in den Grundsätzen der Bedeutungszumessung, die zur Auswahl führen. Und selbst wo das Kanon-Korpus im Kern fest bleibt, kann seine Wertschätzung aus ← 7 | 8 →unterschiedlichen Gründen erfolgen und umgekehrt für unterschiedliche Wertschätzungen zur Verfügung stehen und genutzt werden. Dies wiederum bedeutet, dass zum einen – wenn vielleicht und nicht immer Autoritäten im engeren Sinne – so doch Akteure beteiligt sind, dass zum anderen die wertgeschätzte Textgruppe zur Verfügung steht und dass schließlich die Beteiligung an der Verhandlung der Sinn-, Bedeutungs- und Wertzumessungen an Orten und in Institutionen gewährleistet sein muss.

Den Wandel und die Kontinuität der Texte und Autoren, die in den literarischen Kanon Eingang gefunden haben oder nicht, zu betrachten und den dahinterstehenden Einschätzungen, die zu den jeweiligen Entscheidungen geführt haben, ist dabei eine Aufgabe, der sich die Literaturwissenschaft nicht entziehen kann. Gerade weil gegenwärtig Konsens darüber zu bestehen scheint, dass Kanonbildung ein invisible-hand-Phänomen ist, wobei der Erklärungswert der Metapher dahingestellt sein mag, so befreit dies dennoch nicht von der Verpflichtung, den Prozessen und Folgen von Kanonisierung und Literaturgeschichtsschreibung nachzugehen. Sich in den Spannungsfeldern zu bewegen, die sich zwischen Kernkanon und Rändern einerseits sowie Stabilität und historischer Veränderung andererseits aufspannen lassen, fördert nicht selten überraschende Funde zu Tage. In diesem Sinne verstanden kann die literaturwissenschaftliche Arbeit den Blick für Verhandlungen von Wertzuschreibungen für Texte schärfen und Perspektiven benennen, aus denen heraus verhandelt und entschieden wird. Aus diesem Auftrag ergibt sich, dass sie sich dabei über die Beschäftigung mit Texten des traditionell-wissenschaftlichen Paradigmas hinaus auch um Orte der Verhandlung, der Vermittlung, der Revision und der Weitertradierung der literarischen Überlieferung und Produktion kümmert: in Schule, Theater, Dichterhäusern, Museen und Gedenkstätten, aber auch in neu gestalteten Einrichtungen des Forschens, Lehrens und Lernens mit und über Literatur.

Die Beiträge der Sektion 11 des Deutschen Germanistentages 2013 in Kiel haben sich Fragen des Kanons und der Literaturgeschichte gestellt, solche der Bedeutungszumessung, Auswahl und Verhandlung aufgegriffen, sich um Vermittlung gekümmert und dabei auch die Orte der Austragungen bedacht. Grenzziehungen und Ausgrenzungen, v.a. auch deren Überwindung, d.h. bestimmte, vermeintlich marginale und aus der Marginalität zu befreiende Epochen, Namen und Werke wurden ebenfalls mit in die Überlegungen einbezogen. Vor diesem Hintergrund lässt sich für die nun vorliegende Publikation eine entsprechende Gruppierung der Beiträge vornehmen.

Den Auftakt bilden drei Abhandlungen, die sich zunächst in grundsätzlichem Sinne der Kanontheorie und der Kanonbildung zuwenden. Deutlich wird dabei, ← 8 | 9 →dass es sich um Verhandlungen ästhetischer Erscheinungen im kulturellen Umfeld einer Gesellschaft handelt:

Aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive und mit Bezug auf die kontrovers geführte Diskussion, die das einstige klare Plädoyer Harold Blooms für einen „Western Canon“ (so sein Buch von 1994) hervorgerufen hat, geht Christian Kirchmeier dem (vermeintlichen) Gegensatz von Kulturwissenschaft und Kanon nach. Er kann ihn nicht nur auflösen, sondern kommt zu dem Ergebnis, dass „diese [die Kulturwissenschaften] auf einen Kanon angewiesen sind, um eine Wissensgeschichte zu schreiben.“

Leonhard Hermann setzt in seinem Aufsatz einstige und heutige Kanonisierungen in Beziehung zueinander. Daraus kann er die Erkenntnis ziehen, dass ein Kanon Kommunikationsgrundlage für eine Gruppe von Interessierten und nur als Gegenstand der Auseinandersetzung greifbar ist. Denn Werte und Wertschätzungen werden immer wieder neu ausgehandelt, was sich gegenwärtig in Form der Folgen des Bologna-Prozesses im Hinblick auf wissenschaftliche Lehrangebote und Forschungsprojekte, in der Verleihung von Literaturpreisen, der Literaturkritik und neuesten medialen Kommunikationskanälen konkretisiert.

Um solche „Verhandlungen“ in einer bestimmten kulturgeschichtlichen Situation, um ihre Spuren und ihre Folgen geht es Hans-Christian Ramm, der Literatur, Kunst und Film im (frühen) 20. Jahrhundert miteinander vergleicht. Über auf den ersten Blick so disparate Schöpfungen wie Edvard Munchs Gemälde mit dem Titel Galoppierendes Pferd (1910-1912), Franz Kafkas Erzählfragment Der Verschollene (1912-1914) und Charlie Chaplins erstem Tonfilm Der Große Diktator (1940) wird ein „ästhetischer Erfahrungshorizont“ erschlossen, innerhalb dessen sich die „Aufsehen erregende Neuerung der polyfokalen Perspektivtechnik der Moderne“ als Wertzumessung beschreiben lässt.

Eine zweite Gruppe von Beiträgen kann sich in der Weise zusammenfinden, als es konkret um Orte der Aushandlung von Kanon und Kanonfragen geht.

Mit dem „Sonderfall Weimar“ kann Constanze Breuer einen außergewöhnlichen Glücksfall vorstellen, was die „Vermittlung von Literatur und Kultur in Dichter- und Herrscherhäusern sowie Parkanlagen“ angeht. Dass Literatur und Kultur Trägerinstanzen brauchen und Präsentation und Repräsentation dabei ein produktives und nachhaltig wirksames Zusammenspiel eingehen, kann sie auf beeindruckende Weise zeigen – nicht zuletzt durch die Bilder, die eine konkrete Vorstellung von diesem außergewöhnlichen Beispiel Weimar geben.

Einen sehr wohl kritischen, aber in diesem Sinne auch berechtigten Blick wirft Anja Hoffmann in ihrem Beitrag auf verschiedene Typen von Literaturmuseen, wobei sie ein reduziertes Verständnis solcher Orte als „Tempel des ← 9 | 10 →Kanons“ zu Recht aufbrechen möchte. Zweifellos bieten diese Inszenierungen von Literatur mit kanonbildender Funktion. Doch über die sicher wichtige Bewahrungs- und Erinnerungsarbeit sieht die Verfasserin eine wesentliche Aufgabe dieser Einrichtungen darin, das Selbstverständnis einer Kulturgemeinschaft zu stützen, lebendig zu halten und deswegen vor allem immer wieder auch neu zu bestimmen.

Gilbert Hess führt seine Leserinnen und Leser in einen Bereich „Jenseits des Kanons“, in dem sie auf Schülerinnen und Schüler stoßen, und zwar außerhalb der Schule. Ähnlich naturwissenschaftlichen Lehr-Lern-Labors sind in der letzten Zeit vergleichbare kulturwissenschaftliche Einrichtungen entstanden, die wissenschaftliche Forschung, universitäre und schulische Vermittlung im Zusammenspiel ermöglichen. Am Beispiel der Angebote eines bereits erfolgreich arbeitenden Labors an der Universität Bochum und des neu gegründeten an der Universität Göttingen wird gezeigt, dass gerade solche Orte die Voraussetzungen schaffen, zukunftsweisend Fragen der Vermittlung kanonischer und nicht kanonischer Literatur auf wissenschaftlicher Grundlage für die nachwachsende Generation zu stellen und zu bearbeiten.

Fraglos hat sich jedoch die Debatte um die literarische Tradition darum zu kümmern, wie in der schulischen Arbeit im Deutschunterricht „Arbeit am Kanon“ geleistet wird und geleistet werden soll.

Ein Stück Realität bringt Helmut Bernsmeier in das weite Feld der Diskussion um Kanon und Literaturgeschichte, insofern er „Kanonisierungseffekte und Klassikerlektüre“ in den schriftlichen Abiturprüfungen einiger Bundesländer vorstellt. Dabei ist insbesondere zu erkennen, dass nicht allein die Auswahl bedeutsam ist, sondern ebenso die Verfahren, mit denen die Texte bearbeitet werden, d.h. die Aufgaben, die in den Prüfungen und Bildungsstandards – als Vorgaben für den Unterricht – gestellt werden.

Aus der Perspektive des literaturdidaktischen Paradigmas beschreibt Julia Heuer „Topoi“ für die Literaturauswahl in zwei Untersuchungszeiträumen. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass für die Schule ‚Literatur‘ nicht einfach vorliegt – auch nicht in einer Auswahl, die anderswo getroffen wird, sondern der Umgang im Deutschunterricht eine didaktische Rekonstruktion darstellt und erforderlich macht. Diese Vermittlungsperspektive kann sich für die wissenschaftliche Konstitution des Gegenstandes nur als positiv erweisen. Die Verfasserin nimmt dabei die „Auswahlpraxis von Gegenwartsprosa“ und die „Möglichkeiten ihrer Analyse“ in den Blick und plädiert für eine „Öffnung des Kanons“.

Daran lässt sich der Vorschlag von Ulla Reichelt und Hans Velten anschließen, mittelalterliche Texte nicht (nur) per se, sondern im Verbund mit anderen ← 10 | 11 →und damit im Rahmen von epochenübergreifender thematischer Arbeit in den Deutschunterricht zu bringen. Gewinnbringend ist dieser Beitrag nicht nur im Hinblick auf die unterrichtspraktischen Perspektiven, die er eröffnet, sondern vor allem auch deswegen, weil er Zusammenhänge aufdeckt, die bei einer ausschließlich text- und werkorientierten Auswahl nicht erkannt werden können. Erprobt und gestützt wird das „Plädoyer für themengeleitete Kanonisierung zur Integration vormoderner Texte in den Deutschunterricht“ anhand von Texten und Bildern, die „vom heimlichen Blick“ erzählen.

Kanonbildung und Literaturgeschichte rücken dann in eine neue Perspektive, wenn bislang wenig bedachte Epochen und Literaturen einbezogen werden.

Sebastian Schmideler tut dies, indem er Kinder- und Jugendliteratur im Kanonrahmen bespricht, jedoch nicht etwa deren (gesonderte) Geschichte schreibt, sondern sie in Zusammenhang mit dem sie umgebenden gesamtliterarischen Feld sieht. Damit werden ‚kanonische‘ Grenzziehungen traditioneller Art aufgebrochen, Wertzumessungen diskutierbar gemacht und Erkenntnisse über Autoren und ihre literarische Produktion gewonnen, die aus herkömmlichen Orientierungen auf Gattungen, Genres und literaturgeschichtliche bzw. didaktische Paradigmen nicht erfolgen.

Andrea Schindlers Beitrag mit dem Titel „Was man gelesen haben muss – und was gelesen wird“ bezieht sich auf die Wertschätzung mittelhochdeutscher Literatur einst und jetzt. Die Veränderbarkeit von Kanones sieht die Verfasserin als Chance, immer wieder Neues auf die Verhandlungsbühne der Wertzumessungen zu stellen. Dass es dabei jedoch nicht nur um die Werke oder Texte als solche, sondern insbesondere um die „Form“ geht, in der sie bekannt sind oder vermittelt werden sollen, ist v.a. angesichts der Adaptationen, Nacherzählungen, der Rezeptionsschichten und der Umschreibungen, die mittelalterliche Literatur erfahren hat und noch erfährt, ein ganz wesentlicher Aspekt.

Jörg Schuster geht es um die für Kanonisierungsfragen alles andere als ‚einfache‘ Phase der literarischen Produktion zwischen 1933-1945. Er stellt eine Reihe von Texten vor, denen „auf doppelte Weise“ eine Aufnahme in den Kanon verweigert war: Es sind solche, die als ‚moderne Literatur‘ mit der NS-Kulturpolitik nicht konform gingen, andererseits aber nach dem Zweiten Weltkrieg „mit Thomas Mann gesprochen, vorgeblich der ‚Geruch von Blut und Schande‘ anhaftete“. Der Verfasser zeigt, dass – entgegen verbreiteter Auffassung – Autoren wie Elisabeth Langgässer und Friedo Lampe Beispiele für eine ununterbrochene literarische Moderne in Deutschland sind.

Doreen Mildner setzt sich dafür ein, DDR-Literaturgeschichte „neu“ zu schreiben, da sie sowohl in der Vermittlung durch Literaturgeschichten (auch in ← 11 | 12 →Publikationen nach 1989) als auch insbesondere der im Literaturunterricht der Schule erhebliche Defizite feststellt. Dabei wäre gerade eine Diskussion um die Literaturauswahl eine hervorragende Möglichkeit, die immer noch existierende „Mauer in den Köpfen“ (Sven Kersten Roth) zunächst überhaupt präsent zu machen, um sich einer Aufarbeitung der deutsch-deutschen Vergangenheit zu stellen. Dass es dabei keinesfalls darum gehen kann, Vereinnahmungen oder gar Verurteilungen vorzunehmen, sondern neue Perspektiven gefunden werden müssen, kann die Verfasserin eindrucksvoll anhand von Literaturgeschichten, die vor und nach der Wende entstanden sind, zeigen.

Schließlich zeigt eine letzte Gruppe von Beiträgen, wie gerade Fragen des Kanons, seiner Tradition und der Literaturgeschichtsschreibung zu neuen und interessanten Entdeckungen führten kann.

Anja Schonlaus Beitrag ruft in Erinnerung, dass es nicht nur einen Kanon der „Höhenkammliteratur“ gibt oder gegeben hat, wie man gemeinhin anzunehmen pflegt, sondern literarische Angebote des populären und unterhaltenden Sektors eine eigene Kanongeschichte haben. Am Beispiel der „Chiffre Schröder-Iffland-Kozebue“ nimmt sie sich der Theaterlandschaft um 1800 an und zeigt überzeugend, dass man v.a. angesichts der Aufführungszahlen eine „Revision der Kanonisierung des populären Theaterstücks um 1800“ vornehmen muss. Die Verfasserin beschreibt konkret anhand von Theaterspielplänen und Wertzuweisungen für Autoren und Werke differenziert und differenzierend kanonbildende Verhandlungen und stellt dar, wie diese sich auch auf das „Narrativ Literaturgeschichte“ auswirken.

Gesa Singer widmet sich unter dem Titel „Interkulturelle Literatur im Kanon der zeitgenössischen Literatur“ Autoren und Autorinnen aus Familien griechischer Herkunft. Für die ausgewählten Literaten ist Migration nicht mehr selbst im Fokus, da sie in Deutschland aufgewachsen sind und auf Deutsch schreiben. Dennoch thematisieren sie in den Handlungen der Romane, die die Verfasserin für ihren Beitrag ausgewählt hat, die Erfahrung zweier Welten, die sie kunstvoll, ironisch, ja mitunter sarkastisch miteinander in Beziehung setzen. Der Leser erfährt von „anderen Inhalten“ und einem „anderen Schreiben“, das nicht nur die Literatur bereichert, sondern auch Anlass dazu gibt, Wertschätzungen, Kanonbildungen und Literaturgeschichtsschreibung zu überdenken.

Absichtsvoll am Ende im Reigen der Beiträge ist Ingvild Richardsens Arbeit über eine Schriftstellerin platziert, zu der sie die Frage stellt „Warum ist Carry Brachvogel (1864-1942) heute vergessen?“ Carry Brachvogel war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bekannte Münchner Schriftstellerin und Frauenrechtlerin. Sie war jüdischer Herkunft, wurde nach Theresienstadt deportiert und dort ← 12 | 13 →ermordet. Am Beispiel ihrer Biographie wird so eindrucksvoll wie erschütternd nachvollzogen, wie die politische Katastrophe des 20. Jahrhundert in Deutschland nicht nur einen Menschen (wie viele) vernichtet hat, sondern nachhaltig das Vergessen einer damals erfolgreichen, zukunftsweisenden literarischen Produktion und kulturellen Praxis befördert hat. Kanonbildung ist mitunter eben nicht nur ein invisible-hand-Phänomen, und Literaturgeschichtsschreibung war es noch nie.← 13 | 14 →

← 14 | 15 →Leonhard Herrmann

Kanon und Gegenwart. Theorie und Praxis des literarischen Kanons im Zeichen von Historizität, Dynamik und Pluralität

In seinem jüngsten Roman Die Zukunft des Mars entwirft Georg Klein – „einer der großen Fantasten der deutschen Gegenwartsliteratur“1 – eine düstere Zukunft der Menschheit: Ausgewandert auf den Mars, lebt eine Gruppe von Menschen seit Generationen isoliert vom Mutterplaneten Erde. Zu dieser ist jeder Kontakt verloren – mit der Konsequenz, dass auch ihre ‚heiligen Schriften‘ unlesbar geworden sind, die in großen Folianten zwar überliefert, jedoch nur noch verehrt, nicht mehr gelesen werden.

Kleins Text steht in einem doppelten Traditionsbezug: dem der Dystopien, die analog zur Utopie eine Zukunftsvision menschlichen Lebens entfalten, diese jedoch ins Negative wenden, sowie dem der Kanon-Texte,2 einem Genre, das – etwa in Texten Tiecks, Brentanos oder von Arno Schmidt – Fragen literarischer Kanonbildung ihrerseits literarisch reflektiert. Dabei ist Kleins Text selbst zunächst lesbar als eine weitgehend pessimistische Allegorie des Verhältnisses von Tradition und Gegenwart: Der Verlust irdischer Kulturtradition geht einher mit einer dehumanisierten, streng durchorganisierten Lebensform, die das ureigentlich Menschliche an den Rand drängt. Doch allein die Tatsache, dass Kleins Roman seinerseits in literarischen Traditionen steht und diese auch deutlich ausweist, macht deutlich, dass der innerhalb des Textes beschworene Verlust an kulturellen Traditionen und Fähigkeiten nicht einseitig als Negativdiagnose der unmittelbaren Gegenwart des Autors Klein zu lesen ist – das Lesen ‚irdischer‘ Texte wird im Handlungsverlauf in diesem Sinne zu einer zwar geheimen, aber sehr wertvollen Kulturtechnik stilisiert. Dass auch wir Heutige analog zu Kleins entmenschlichten Marsbewohnern abgekoppelt ← 15 | 16 →von Tradition und Vergangenheit leben und uns das ehedem Heilige verborgen bleibt, ist demnach zwar ein möglicher Ausgang der Geschichte, aber bezogen auf unsere eigene Gegenwart für Klein (zumindest: noch) keine historische Tatsache.

In diesem Sinne möchte folgender Beitrag fragen, wie es um das Verhältnis von Kanon – verstanden als zentraler Bestandteil kultureller Überlieferung im Sinne einer Auswahl besonders relevanter Gehalte – und der unmittelbaren Gegenwart bestellt ist. Dabei soll einerseits Bezug genommen werden auf zeitgenössische theoretische Modellierungen von Kanon, die seit Mitte der 1990er Jahre eine große Konjunktur haben, andererseits auf einige ausgewählte Bereiche des praktischen Umgangs mit historischer wie gegenwärtiger Literatur. Dabei kann deutlich gemacht werden, dass sowohl in der Kanontheorie als auch im praktischen, wertenden Umgang mit Literatur Kanon eine Größe darstellt; es hat eine ‚Versöhnung‘ gegeben mit dem – in Theorie wie Praxis – noch vor wenigen Jahrzehnten als Macht- und Herrschaftsinstrument verfemten Kanon. Doch sowohl in der theoretischen Modellierung von als auch im praktischen Verständnis von Kanon lassen sich einige signifikante Veränderungen aufzeigen.

Details

Seiten
336
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653042214
ISBN (ePUB)
9783653987140
ISBN (MOBI)
9783653987133
ISBN (Hardcover)
9783631651117
DOI
10.3726/978-3-653-04221-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Schlagworte
Kanonisierung Höhenkammliteratur Literatur des Dritten Reiches DDR-Literaturgeschichte Mittelhochdeutsche Literatur
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 336 S., 9 farb. Abb., 6 Tab.

Biographische Angaben

Ina Karg (Band-Herausgeber:in) Barbara Jessen (Band-Herausgeber:in)

Ina Karg studierte Germanistik und Anglistik in Regensburg und Reading (Vereinigtes Königreich). Sie war als Gymnasiallehrerin in Bayern und im Auslandsschuldienst tätig und ist derzeit Professorin für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Göttingen. Barbara Jessen studierte Germanistik, Geschichts- und Erziehungswissenschaften, arbeitete als Gymnasiallehrerin und ist derzeit als Fachleiterin für Deutsch am Studienseminar für Gymnasien in Gießen tätig.

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