Lade Inhalt...

Aufarbeitung der Vergangenheit als Dimension der Erwachsenenbildung

Polnische, russländische und ukrainische Perspektiven

von Dr. Tetyana Kloubert (Autor:in)
©2014 Dissertation XVIII, 719 Seiten

Zusammenfassung

Wie wird in den drei Ländern Russland, Polen und Ukraine mit den problematischen Ereignissen der nationalen Geschichte umgegangen? Dieser Frage widmet sich diese Studie in Form einer empirischen Untersuchung, durchgeführt im Jahr 2009. Befragt wurden in eingehenden Interviews 91 Erwachsenenbildner aus drei Ländern. Dabei ergab sich, dass die Aufarbeitung der Geschichte in engem Zusammenhang steht mit den Prozessen der gesellschaftlichen Transformation und Integration sowie mit der Demokratieentwicklung im jeweiligen Land. An einer Fülle von Beispielen kann gezeigt werden, dass der Erwachsenenbildung in Umbruchzeiten ganz eigene Möglichkeiten zukommen, den Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit zu fördern. Im Vergleich von Russland, Polen und der Ukraine treten neben Gemeinsamkeiten auch markante Unterschiede in Theorie, Praxis und professionellem Selbstverständnis der Erwachsenenbildner hervor.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Hingabe
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Danksagung
  • 1 Einleitung und Begriffsklärung
  • 2 Theoretische Einführung
  • 2.1 Stand der Forschung
  • 2.1.1 Historische Ebene der Aufarbeitung der Vergangenheit
  • 2.1.2 Politische Ebene der Aufarbeitung der Vergangenheit
  • 2.1.3 Rechtliche Ebene der Aufarbeitung der Vergangenheit
  • 2.1.4 Künstlerisch-gestaltende Ebene der Aufarbeitung der Vergangenheit (Gedenkstätten, Museen, Filme, Publizistik)
  • 2.1.5 Aufarbeitung der Vergangenheit auf der Ebene der gesellschaftlichen Entwicklung (gesellschaftswissenschaftliche Perspektive)
  • 2.1.6 Die anthropologisch-philosophische Aufarbeitung der Vergangenheit
  • 2.1.7 Aufarbeitung der Vergangenheit auf der pädagogischen Ebene
  • 2.2 Aufarbeitung der Vergangenheit im Rahmen der Erwachsenenbildung
  • 2.2.1 Zum Gegenstand des pädagogischen Handelns in Bezug auf die Aufarbeitung der Vergangenheit: Das kollektive Gedächtnis und das kulturelle Gedächtnis
  • 2.2.2 Politisches Handeln, Demokratie, Mündigkeit und Menschenrechte
  • 2.2.3 Bildung in Krisensituationen
  • 2.2.4 Erwachsenenbildung und Identitätsstiftung. Erinnerung und Biographie
  • 2.2.5 Aufarbeitung der Vergangenheit und Werte
  • 2.2.6 Aufarbeitung der Vergangenheit und Generationenverhältnis
  • 2.2.7 Erinnerung und Globalisierung
  • 2.2.8 Selbstverständnis der Lehrenden
  • 2.2.9 Zusammenfassung
  • 2.3 Forschungsfragen und methodisches Vorgehen
  • 2.3.1 Methodisches Vorgehen
  • 2.3.2 Struktur der Arbeit
  • 2.4 Spezifika des Umgangs mit der Vergangenheit in Osteuropa
  • 2.4.1 Polen
  • 2.4.2 Russland
  • 2.4.3 Ukraine
  • 2.4.4 Zu erwartende Probleme
  • 3 Darstellung und Analyse der empirischen Daten
  • 3.1 Polen
  • 3.1.1 Hintergrund der Untersuchung
  • 3.1.2 Aufarbeitung der Vergangenheit im Prozess der gesellschaftlichen Transformation
  • 3.1.2.1 Identitätsstiftung
  • 3.1.2.2 Religion
  • 3.1.2.3 Generationenverhältnis
  • 3.1.2.4 Polnische Zielformeln für die Bildung
  • 3.1.2.5 Hindernisse bei der Aufarbeitung der Vergangenheit
  • 3.1.2.6 Schlussfolgerungen
  • 3.1.3 Aufarbeitung der Vergangenheit und das Verständnis von Demokratie
  • 3.1.3.1 Demokratie, Menschenrechtsbildung und bürgerschaftliche Bildung
  • 3.1.3.2 Der Bürger und der Staat
  • 3.1.3.3 Zerfall des Kommunismus
  • 3.1.3.4 Schuldfrage
  • 3.1.3.5 Lustration
  • 3.1.3.6 Wertewandel
  • 3.1.3.7 Schlussfolgerungen
  • 3.1.4 Bildung und gesellschaftliche Integration
  • 3.1.4.1 Bildungsverständnis
  • 3.1.4.2 Patriotismus
  • 3.1.4.3 Öffnung gegenüber anderen Gruppen
  • 3.1.4.4 Holocaust in den polnischen Vergangenheitsdeutungen
  • 3.1.4.5 Schlussfolgerungen
  • 3.1.5 Pädagogisches Selbstverständnis
  • 3.1.5.1 Pädagogische Ziele und Herausforderungen
  • 3.1.5.2 Biographischer Hintergrund der Erwachsenenbildner
  • 3.1.5.3 Schlussfolgerungen
  • 3.1.6 Schlussfolgerungen zum gesamten Kapitel
  • 3.2 Russland
  • 3.2.1 Hintergrund der Untersuchung
  • 3.2.2 Aufarbeitung der Vergangenheit im Prozess der gesellschaftlichen Transformation
  • 3.2.2.1 Entwicklung der Debatte um die Vergangenheit nach der Zeit des Verdrängens
  • 3.2.2.2 Identitätsstiftung
  • 3.2.2.3 Religion
  • 3.2.2.4 Generationenverhältnis
  • 3.2.2.5 Russländische Zielformeln für die Bildung
  • 3.2.2.6 Hindernisse bei der Aufarbeitung der Vergangenheit
  • 3.2.2.7 Schlussfolgerungen
  • 3.2.3 Aufarbeitung der Vergangenheit und das Verständnis von Demokratie
  • 3.2.3.1 Wahrnehmung der Demokratie und der Menschenrechte
  • 3.2.3.2 Bürgerschaftliche Bildung
  • 3.2.3.3 Der Mensch und der Staat
  • 3.2.3.4 Schuldfrage
  • 3.2.3.5 Wertewandel
  • 3.2.3.6 Zerfall der Sowjetunion
  • 3.2.3.7 Schlussfolgerungen
  • 3.2.4 Bildung und gesellschaftliche Integration
  • 3.2.4.1 Patriotismus
  • 3.2.4.2 Öffnung gegenüber anderen Gruppen
  • 3.2.4.3 Konkurrenz der Erinnerungen
  • 3.2.4.4 Holocaust in den russländischen Vergangenheitsdeutungen
  • 3.2.4.5 Schlussfolgerungen
  • 3.2.5 Pädagogisches Selbstverständnis
  • 3.2.5.1 Selbstbild
  • 3.2.5.2 Pädagogische Ziele und Herausforderungen
  • 3.2.5.3 Motivation und biographischer Hintergrund der Erwachsenenbildner
  • 3.2.5.4 Schlussfolgerungen
  • 3.2.6 Schlussfolgerungen zum gesamten Kapitel
  • 3.3 Ukraine
  • 3.3.1 Hintergrund der Untersuchung
  • 3.3.2 Aufarbeitung der Vergangenheit im Prozess der gesellschaftlichen Transformation
  • 3.3.2.1 Von der Heroisierung zur Europäisierung der Geschichte
  • 3.3.2.2 Identitätsstiftung
  • 3.3.2.3 Religion
  • 3.3.2.4 Generationenverhältnis
  • 3.3.2.5 Ukrainische Zielformeln für die Bildung
  • 3.3.2.6 Hindernisse bei der Aufarbeitung der Vergangenheit
  • 3.3.2.7 Schlussfolgerungen
  • 3.3.3 Aufarbeitung der Vergangenheit und das Verständnis der Demokratie
  • 3.3.3.1 Wahrnehmung der Demokratie in der Gesellschaft
  • 3.3.3.2 Menschenrechte. Der Mensch und der Staat
  • 3.3.3.3 Bürgerschaftliche Bildung
  • 3.3.3.4 Zerfall der Sowjetunion
  • 3.3.3.5 Wertewandel
  • 3.3.3.6 Schuldfrage
  • 3.3.3.7 Schlussfolgerungen
  • 3.3.4 Bildung und gesellschaftliche Integration
  • 3.3.4.1 Bildungsverständnis
  • 3.3.4.2 Patriotismus und Dienst am Volk
  • 3.3.4.3 Öffnung gegenüber anderen Gruppen
  • 3.3.4.4 Holocaust in den ukrainischen Vergangenheitsdeutungen
  • 3.3.4.5 Schlussfolgerungen
  • 3.3.5 Pädagogisches Selbstverständnis
  • 3.3.5.1 Selbstbild
  • 3.3.5.2 Pädagogische Ziele und Herausforderungen
  • 3.3.5.3 Motivation und biographischer Hintergrund der Erwachsenenbildner
  • 3.3.5.4 Schlussfolgerungen
  • 3.3.6 Schlussfolgerungen zum gesamten Kapitel
  • 4 Vergleich der Ergebnisse und Schlussfolgerungen der Arbeit
  • 4.1 Allgemeine Anmerkungen zum Kapitel und Vergleich der Ergebnisse
  • 4.2 Pädagogischer Aufbau der Aufarbeitung der Vergangenheit
  • 4.2.1 Transformation und Krisenbewältigung
  • 4.2.2 Demokratielernen, demokratische Werte, demokratisches Handeln
  • 4.2.3 Integration
  • 4.2.4 Akteure
  • 4.3 Pädagogische Konsequenzen und Empfehlungen
  • 4.4 Zum Abschluss: Eingliederung des Themas in das Fachgebiet Erwachsenenbildung und die Disziplin Erziehungswissenschaft insgesamt
  • Literaturverzeichnis
  • Summary
  • Anhang

← XIV | XV → Abkürzungsverzeichnis

AK

Armia Krajowa; polnische Heimatarmee

CBOS

Centrum Badania Opinii Społecznej; Zentrum der Meinungsforschung in Polen

DAAD

Deutscher Akademischer Austauschdienst

GUS

Gemeinschaft Unabhängiger Staaten; Zusammenschluss einiger Nachfolgestaaten der UdSSR

IPN

Instytut Pamięci Narodowej; polnisches Institut des Volksgedächtnisses

KGB

Komitet gosudarstvennoj bezopasnosti; der sowjetische In- und Auslandsgeheimdienst

NGO

Non-Governmental Organization; Nichtregierungsorganisation

NKWD

Narodny kommissariat wnutrennich del; Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten in der Sowjetunion

OUN

Orhanizacija ukraїns’kych nacionalistiv; Organisation der Ukrainischen Nationalisten

PiS

Polnische Partei „Prawo i Sprawiedliwość“ („Recht und Gerechtigkeit“)

PO

Polnische Partei „Platforma obywatelska“ („Bürgerplattform“)

PRL

Polska Rzeczpospolita Ludowa; Volksrepublik Polen

SBU

Služba bezpeky Ukraїny; Sicherheitsdienst der Ukraine

SED

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

SPS

Sojus Pravych Sil; russische liberale Partei „Union der Rechten Kräfte“

UNR

Ukraїns’ka Narodna Respublika; Ukrainische Volksrepublik

UPA

Ukraїns’ka Povstans’ka Armija; Ukrainische Aufstandsarmee

VCIOM

Vserossijskij centr izučenija obščestvennogo mnenija; Allrussisches Zentrum für Meinungsforschung

ZHP

Związek Harcerstwa Polskiego; der Polnische Pfadfinderverband ← XV | XVI →

← XVI | XVII → Danksagung

Das vorliegende Buch ist die gekürzte Fassung meiner Dissertation, die der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg im Wintersemester 2012/2013 vorgelegen hat (Tag der mündlichen Prüfung: 12. März 2013). Ohne die fördernde und vielseitige Ermutigung und Zuwendung mehrerer Menschen wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ich möchte mich bei Frau Prof. Dr. Elisabeth Meilhammer herzlich bedanken für ihre fördernde Unterstützung und Beratung während der gesamten Arbeit am Thema der Dissertation, aber auch für ihr Vertrauen und für ihr Einfühlungsvermögen, das mir zuteil wurde. Mein besonderer Dank gilt Frau Prof. em. Dr. Martha Friedenthal-Haase, die mich in das Fach eingeführt hat, immer wieder mein Interesse an Themen und Fragen der Erwachsenenbildung neu entflammen ließ und mich während der gesamten Arbeit an der Promotion mit fachlichen und persönlichen Gesprächen begleitet hat. Für die Bereitschaft, die Zweitgutachterin meiner Arbeit zu sein, und für ein herzliches Willkommen an der Universität Augsburg möchte ich Frau Prof. Dr. Eva Matthes danken. Für meine fachliche Weiterentwicklung durch viele interessante Gespräche möchte ich Herrn Prof. Dr. Dr. Michael Winkler meinen Dank aussprechen. Ich danke auch Herrn Prof. Dr. Stefan Troebst für seine gründliche fachliche Beratung und kritischen Anmerkungen in unterschiedlichen Phasen der Arbeit. Bei Herrn Prof. Stefan Troebst und Herrn Prof. Dittmar Schorkowitz möchte ich mich herzlich für die Aufnahme der Dissertation in die Reihe „Gesellschaften und Staaten im Epochenwandel“ bedanken.

Zudem möchte ich Herrn Volker Koepp danken, der mir beigebracht hat, auf der Reise die Augen offen zu halten, den Menschen Fragen zu stellen und ihnen zuzuhören.

Bei meinen Gesprächspartnern möchte ich mich besonders herzlich bedanken – ohne ihre Überlegungen und Kommentare wäre diese Arbeit nicht möglich geworden. Ich würde, wenn ich dürfte, sie alle hier gerne bei Namen nennen – jedes Interview war für diese Arbeit ein großer Gewinn und ist in meiner Erinnerung verankert.

Ich möchte mich bei meinem leider zu früh verstorbenen Onkel Leon Horochivs‘kyj bedanken, der mich durch sein eigenes Schicksal und durch persönliche Gespräche aufmunterte, über das Wesen des totalitären Staates nachzudenken.

← XVII | XVIII → Für die finanzielle und ideelle Unterstützung danke ich der Studienstiftung des deutschen Volkes, die es mir durch verschiedene Programme ermöglicht hat, den Beruf und die Familie vereinbaren zu können.

Für das gründliche und emsige Korrekturlesen der Arbeit und für kluge Beratung bei sprachlichen wie auch fachlichen Fragen, für Empathie und eine interessante und weiterbringende Zeit am Jenaer Lehrstuhl für Erwachsenenbildung danke ich herzlich Frau Dr. Katrin Henkel.

Mein Dank gilt auch meinem Mann, der mich bestärkte und ermutigte, der stets bemüht war, mir die besten Bedingungen für das Fortschreiten der Arbeit zu schaffen. Meinen beiden Töchtern Alma und Lidia danke ich für ihre ansteckende Neugier, Lebensfreude und Lebensenergie und dafür, dass sie mir indirekt beibrachten, die Zeit zu planen und zweckmäßig zu nutzen.

Ein besonders herzlicher Dank gilt meinen Eltern, die mich stets unterstützten und mir nach all ihren Möglichkeiten halfen, die sich über jedes Gelingen freuten und bereit waren, mit mir über Osteuropa zu diskutieren. Ihnen möchte ich diese Arbeit widmen.

← XVIII | 1 → 1 Einleitung und Begriffsklärung

Reflexionen über die Erinnerung und das Gedächtnis haben in verschiedenen Fachdisziplinen Konjunktur. Eine hohe wissenschaftliche Aufmerksamkeit spiegelt den Zustand der brisanten öffentlichen und politischen Debatten in mehreren Gesellschaften wider. Nicht nur Historiker tragen zur Etablierung und Verfestigung der Diskurse um die Vergangenheit im öffentlichen Raum bei. Die Herausbildung, Bewahrung und Entwicklung des kollektiven (nationalen) Gedächtnisses ist angewiesen auf verschiedene Organisationen, Instanzen, Medien – und auf verschiedene Akteure, die an diesen Prozessen beteiligt sind. Die Arbeit an der Geschichte erfolgt ebenfalls in den institutionalisierten Bildungsprozessen, die für die Ausbildung der Diskutanten des öffentlichen Raums sorgen und die Diskussionsinhalte mitbestimmen, indem sie nicht nur die Geschichtsinterpretationen darbieten, sondern diese durch Selektion akzentuieren. Auf diese Formen der Vergangenheitsdeutung soll in der vorliegenden Arbeit genauer eingegangen werden. Grundsätzlich soll danach gefragt werden, welche Bedeutung die Auseinandersetzung mit der Geschichte für die Bildungsprozesse hat; in welcher Form, zu welchen Zwecken und von welchen Akteuren die Vergangenheit erinnert wird. Gefragt wird andererseits auch danach, was den spezifisch pädagogischen Umgang mit der Vergangenheit kennzeichnet? Welche Möglichkeiten, welchen Einfluss und welche Wirkung haben solche Bildungsprozesse? Wie stellen sich die Pädagogen der Herausforderung des kollektiven Gedächtnisses? Dies sind die Fragen, die diese Forschungsarbeit eingeleitet haben. Zum einen geht es in dieser Arbeit allgemein um Fragen der gesellschaftlichen Erinnerungspraxis und des kollektiven Gedächtnisses; zum anderen konkret um den pädagogischen Aspekt des Umgangs mit der Geschichte. Für diese Zwecke werden die Erwachsenenbildner aus drei ost- und mitteleuropäischen Ländern, die sich in ihrer pädagogischen Tätigkeit dem Umgang mit der Vergangenheit widmen, in Interviews befragt.

Diese Arbeit ist gewiss ein Teil vom – wie Aleida Assmann und Ute Frevert es 1999 formulierten – „Erinnerungsmarathon, den die Deutschen derzeit absolvieren“ (Assmann/Frevert 1999, S. 10). Die deutsche Gesellschaft der Gegenwart ist ohne das Verständnis der Vergangenheit kaum verständlich. Die Erinnerung als fester Bestandteil der Gesellschaft ist jedoch nicht nur in der deutschen theoretischen ← 1 | 2 → Diskussion sowie praktischen Aktivitäten stark vertreten. Die Beobachter sprechen von einem transnationalen Phänomen: von der „Ära des Gedenkens“ (Nora 1992) oder von der „Vergangenheitsbesessenheit“ (Rousso 1998). Vorliegende Arbeit versucht den deutschen Diskurs durch die Perspektive auf die Erinnerungslandschaft der drei ost- und mitteleuropäischen Länder (Polen, Russland und der Ukraine) zu erweitern. Die Vergangenheit als Sozialisationselement ist nicht nur für westeuropäische Gesellschaften konstitutiv; Geschichte und Erinnerung spielen in Ost- und Mitteleuropa eine ebenso große, zum Teil sogar eine größere Rolle als in Westeuropa. Die wichtigste Differenz liegt in der Perspektive, die sich in der Vergangenheitsdeutung widerspiegelt. Grob spricht man von „Holocaust- versus Gulag-Gedächtnis“ (vgl. z. B. Schweilling 2009, S. 184f.), wobei diese Gegenüberstellung stark differenziert betrachtet werden muss.

Nach den politischen Umwälzungen der Jahre 1989 bis 1991 in Mittel- und Osteuropa wird dort die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit immer häufiger thematisiert. Obwohl die Umbrüche jetzt mehr als zwanzig Jahre zurückliegen, kann der Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit nicht als abgeschlossen gelten. Eine „Strategie des Schlussstrichs“ war in vielen der ost- und mitteleuropäischen Gesellschaften ein möglicher Weg des friedlichen Wandels; heute jedoch werden immer stärker Forderungen nach Klärung von Regimeverbrechen artikuliert, nach öffentlicher Diskussion aus der Perspektive der Opfer und Hinterbliebenen sowie nach innergesellschaftlicher Aussöhnung, die im Prozess der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vollzogen werden kann. Nach dem Zerfall der Diktaturen stellt sich nicht nur die Frage nach der Verarbeitung ihres Erbes, sondern auch nach Neuorientierung. Wenn die Vergangenheit das gesellschaftliche Zusammenleben sowie die individuelle Lebensführung beeinträchtigt, so ist es in solch einem Fall die Aufgabe der Bildung (im Hinblick auf die betroffenen Personen der Erwachsenenbildung), ein Handeln zu initiieren, das sich am Ziel der individuellen und kollektiven Aufarbeitung dieser Vergangenheit orientiert und diesen Prozess durch das Schaffen eines entsprechenden thematischen Angebotes und günstiger Rahmenbedingungen unterstützt. Klaus Mollenhauer wies in seinen „Vergessenen Zusammenhängen“ darauf hin, dass „die Pädagogik […] an kultureller und biographischer Erinnerung arbeiten [muss]; sie muss in dieser Erinnerung die begründbaren (zukunftsfähigen) Prinzipien aufsuchen; sie muss für diese Arbeit einer der Sache angemessene genaue Sprache finden“ (Mollenhauer 1983, S. 10).

Die öffentliche Aufmerksamkeit hinsichtlich der Vergangenheit und die gesellschaftliche Bedeutung eines angemessen Umgangs mit der Vergangenheit betonen auch deren Relevanz für Bildung. Die Bildungsmotive können dabei ← 2 | 3 → verschiedenartig sein. Sabine Horn und Michael Sauer erklären: „Wer sich mit Geschichte befasst, will freilich nicht unbedingt Bildungsbedürfnisse befriedigen und spezifische Kenntnisse erwerben. Es geht (auch) um Unterhaltung, Spaß, Entspannung“ (Horn/Sauer 2009, S. 9). Der Bildungsbegriff im Sinne der Erwachsenenbildung schließt alle hiermit angesprochenen Dimensionen mit ein und zeigt die Vielfalt der Zugänge zum pädagogischen Prozess des Umgangs mit der Vergangenheit. Im Idealfall gelingt es, ein anfangs vielleicht als Schaulust zu bezeichnendes Interesse der Rezipienten in Erkenntnisse und Einsichten zu transformieren. Nach Günther Dohmen knüpft die Bildung (Weiterbildung) an die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger an, und eine so gedachte Bildung schafft „eine wichtige Grundlage […] für das notwendige Mitdenken und Mitwirken möglichst vieler kreativer Menschen an der demokratischen Gestaltung eines Gemeinwesens, das den Anforderungen und Gefährdungen der Zukunft gewachsen ist“ (Dohmen 1995, S. 36).

Mit den Worten von Jaworski stellen die Umwälzungen, welche in ganz Osteuropa nach dem Sturz des Kommunismus seit 1989/90 wirksam geworden sind, die betroffenen Länder vor enorme Herausforderungen in nahezu allen Lebensbereichen, wobei „immaterielle Aspekte der laufenden Transformationsprozesse“, unter denen der Autor „ideologisch-weltanschauliche Umorientierungen, Veränderungen der Werte- und Normensysteme sowie de[n] notwendig gewordene[n] Austausch kollektiver Identifikationsmuster“ versteht, neben politischen und ökonomischen Schwierigkeiten nicht unterschätzt sein dürfen (Jaworski 2003, S. 11f.). Diese immateriellen Aspekte des Transformationsprozesses spielen sich nicht nur auf der Ebene des Individuums ab. Verschiedene pädagogische Gemeinschaften, in denen Menschen zum Dialog und zur Konfliktbewältigung zusammenkommen und sich auf das Lernen der neuen, oft mit der eigenen Weltsicht nicht übereinstimmenden Perspektiven einlassen, leisten ebenfalls einen erheblichen Beitrag zur Bewältigung der Transformation. Vor dem Hintergrund neuer gesellschaftlicher Umbrüche in Ost- und Mitteleuropa stellt sich somit für die Erwachsenenbildung, welche für die Orientierung, Identitätsbildung und -festigung sowie Bewältigung der Veränderungen Ansatzpunkte geben möchte, eine Aufgabe von höchster Relevanz sowohl im Kontext der individuellen Lebensführung, als auch in einem Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung. Erwachsenenbildung wird in dieser Arbeit demgemäß aufgefasst als „ein […] kommunikativer Prozeß der deutenden Übersetzung zwischen den Bedeutungszusammenhängen der subjektiven und der objektiven Wirklichkeit. […] In diesem ständigen Problematischwerden der Welt ist Erwachsenenbildung eine mögliche Instanz der Herstellung materialer Rationalität und Verhaltenssicherheit. Sie ist neben Beratung und Therapie eine ← 3 | 4 → der professionell unterstützenden Instanzen, die sich wesentlich des Gesprächs als einer dialogisch ermöglichten Form der deutenden Übersetzung zwischen innerer und äußerer Realität bedienen“ (Schmitz 1984, S. 95). In dieser Arbeit wird es, verallgemeinert gesprochen, um andragogisch-pädagogische Umgangsweisen mit der Vergangenheit gehen, die auch als Formen der deutenden Übersetzung verstanden werden. Der pädagogische Umgang mit der Vergangenheit kann dabei unter zwei Blickwinkeln betrachtet werden: Die Bewältigung, die Aufarbeitung der Vergangenheit als eine pädagogische Maßnahme einerseits und als Rückgriff auf den Themenkomplex „Erinnerung“ zur Klärung weiterer pädagogischer Fragestellungen (wie beispielsweise Menschenrechtsbildung oder bürgerschaftliche Bildung) andererseits.

Die Frage, ob Akteur der Aufarbeitung der Vergangenheit oder Träger der Erinnerung an die Vergangenheit das einzelne Individuum ist und sie somit immer personengebunden ist – weshalb es keine kollektive Erinnerung gäbe, sondern lediglich die „kollektive[n] Bedingungen möglicher Erinnerung“, wie es Koselleck behauptet (Koselleck 2003, S. 205f.) – oder ob sogar Nationen und Staaten, so Christoph Cornelißen (Cornelißen 2003, S. 555), als Erinnerungsträger auftreten können, umreißt im Kontext dieser Arbeit zwei wichtige Aspekte des Umgangs mit der Vergangenheit: erstens, die Bedeutung der Aufarbeitung der Vergangenheit für ein einzelnes Individuum mit dem Zweck einer gelungenen Lebensführung sowie zweitens, der gesellschaftliche Bedarf des Gesamtprozesses der Aufarbeitung im Rahmen der Erwachsenenbildung mit dem Ziel der Gesellschaftskonstituierung und -konsolidierung.

Zum einen steht das Individuum, seine Erfahrungen, seine Lebensführung und Lebensmeisterung im Zentrum des Bildungsvorgangs. Dabei soll im Rahmen dieser Arbeit dem Aspekt der Bildung in Krisensituationen, den Fragen der Deutung, Verarbeitung und Identitätsfindung der Erwachsenen im Rahmen der Bildungsprozesse nachgegangen werden.

Zum anderen geht es – aus systematischer Perspektive – um den Beitrag der Erwachsenenbildung zu den Bestrebungen einer umfassenden kulturellen Demokratisierung nach einem Regimewechsel. Verantwortung, nationale Selbstbesinnung, demokratische Identität, historisches Bewusstsein sind die Bestandteile solcher Lernprozesse. Erinnerungsarbeit und die Aufarbeitung der Vergangenheit sind in diesem Kontext untrennbar mit der politischen Kultur und Bildung eines Landes verflochten.

Als Bestandteil der Bildung lässt sich Erinnerung sowohl hinsichtlich ihrer spezifischen Ausprägung im bestimmten Kontext der politischen und gesellschaftlichen Struktur als auch hinsichtlich der besonderen Didaktik und Methodik des ← 4 | 5 → Umgangs mit dieser Erinnerung analysieren. Somit wurden weitere zwei Aspekte der Arbeit formuliert: Es geht um eine Analyse der politisch-historischen Kultur im Medium der Erwachsenenbildung einerseits und andererseits um die Untersuchung des pädagogischen Handelns, gerichtet auf den Umgang mit der Vergangenheit im Rahmen der Fragen, wie die Aufarbeitung der Vergangenheit individuell und in Gruppen vonstattengeht, durch Austausch und Kommunikation gefördert wird, ob und warum über bestimmte Themen geschwiegen wird oder ob sie öffentlich anerkannt und tradiert werden.

Generell gilt es, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema der Erinnerungskultur interdisziplinär angesetzt werden muss. Die Betrachtung kultureller Erinnerung aus der Perspektive der Erziehungs- und Bildungswissenschaft, insbesondere der Erwachsenenbildung, soll dennoch der Kern dieser Arbeit sein. In der Arbeit will sich die Verfasserin mit dem Umgang mit der Vergangenheit im östlichen Europa (am Beispiel von Polen, Russland und der Ukraine) aus der erwachsenenbildnerischen Perspektive auseinandersetzen. Obwohl der Fokus der Untersuchung eindeutig in Ost- und Mitteleuropa liegt, werden auch deutsche Diskurse zu diesem Thema einbezogen, da die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland eine breitere und zeitlich länger andauernde Auseinandersetzung erfahren hat und diese zur Analyse, Systematisierung und Kategorisierung wichtiger Theorien, Begriffe, Definitionen und Praktiken beitragen können. Der deutsche Fall wird dabei nicht als ein vorbildliches Modell der Aufarbeitung der Vergangenheit verstanden, da dadurch spezifische Bedingungen, Voraussetzungen und Umstände in dem jeweiligen Land außer Acht gelassen werden könnten; er wird jedoch als ein heuristisches und analytisches Modell aufgefasst.

Der Begriff der Vergangenheitsbewältigung wird überwiegend in Bezug auf die deutsche Realität der Nachkriegszeit verwendet, verbunden mit dem moralischen Schuldgefühl und dem Schuldbekenntis in Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit. In vielen Sprachen existiert der Ausdruck „Vergangenheitsbewältigung“ nicht oder wird erst in letzter Zeit als eine begriffliche Umschreibung eingeführt. Der Begriff der Vergangenheitsbewältigung ist in der deutschen Diskussion stark unter Kritik geraten und zwar unter folgenden Gesichtspunkten: Eine gängige Argumentation ist, man könne die Vergangenheit nur bewerten, jedoch nicht bewältigen. Das Wort „Bewältigung“ würde besagen, dass die Auseinandersetzung mit der Geschichte abgeschlossen sein kann (vgl. Wenke 1960, S. 67). Im deutschen Kontext wird ebenfalls der von Adorno 1959 eingeführte Begriff der „Aufarbeitung der Vergangenheit“ verwendet, welcher besonders in der Bildungs- und Erziehungswissenschaft verbreitet ist (vgl. Dudek 1992; Dudek 1995). Aufarbeitung der Vergangenheit wird von ← 5 | 6 → Helmut König definiert als „die Gesamtheit jener Handlungen und jenes Wissens […], mit der sich die jeweiligen neuen demokratischen Systeme zu ihren nichtdemokratischen Vorgängerstaaten verhalten. Es geht dabei vor allem um die Frage, wie die neu etablierten Demokratien mit den strukturellen, personellen und mentalen Hinterlassenschaften ihrer Vorgängerstaaten umgehen und wie sie in ihrer Selbstdefinition und ihrer politischen Kultur zu ihrer jeweiligen belastenden Geschichte stehen“ (König 1998, S. 375). Von Peter Reichel wurde der Begriff der „Erinnerungskultur“ vorgeschlagen, der sich allmählich auch in wissenschaftlichen Abhandlungen etabliert (Reichel 1995, vgl. auch Theile 2009). Der Begriff der Erinnerungskultur ist inhaltlich umfassender als Vergangenheitsbewältigung, die eine Auseinandersetzung mit dem schuldhaften Verhalten fordert. Zunehmend bedeutet die Erinnerungskultur die Darstellung und den Umgang mit gruppenspezifischen Gedächtnissen. Parallel wird auch der neutrale Begriff „Umgang mit der Vergangenheit“ benutzt (Jesse 1993)1 In dieser Arbeit werden die Begriffe „Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ und „Umgang mit der Vergangenheit“ synonym verwendet; in manchen Fällen wird zum Begriff der „Aufarbeitung der Vergangenheit“ gegriffen, um den Aspekt der Auseinandersetzung mit der „belasteten“ Vergangenheit hervorzuheben. Der Begriff „Vergangenheitsbewältigung“ scheint der Verfasserin zu stark mit den Umwandlungsprozessen im Nachkriegsdeutschland verknüpft zu sein, sodass nach Möglichkeit ein breiterer und neutraler Begriff – der der Auseinandersetzung und des Umgangs mit der Vergangenheit – bevorzugt wird. Darunter wird in dieser Arbeit die Aufarbeitung der totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts insgesamt, insbesondere der Erinnerung an die stalinistischen Verbrechen und an die NS-Verbrechen und an den Holocaust sowie allgemein der Umgang mit den Verbrechen des Totalitarismus verstanden, aber auch die Wiederentdeckung und Konstruktion der nationalen Geschichte im Sinne der nationalen Identitätsstiftung und Selbstwahrnehmung aufgefasst. Die Erinnerungskultur in Osteuropa ist im Unterschied zu Deutschland dadurch geprägt, dass dort die nationalen Leidenschaften nach dem Umbruch 1989/1991 nach ← 6 | 7 → einer langen Unterdrückung erst möglich geworden und daher stürmisch entflammt sind: „Nach fünfzig, in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion sogar nach fast hundert Jahren begann in Osteuropa seit 1990 eine Rehabilitierung und Rekonstruktion bis dahin verschütteter, diskriminierter, zumindest aber deformierter nationalgeschichtlicher Sinnbezüge“ (Jaworski 2003, S. 11f.). Dem letztgenannten Aspekt würde der Begriff der Vergangenheitsbewältigung nicht Rechnung tragen können.

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird in der vorliegenden Arbeit demnach nicht (nur) im Sinne von Schuldeingeständissen verstanden, sondern auch als eine Überwindung vom Untertanendenken, von Einschüchterung und Gleichschaltungstendenzen sowie als Bekämpfung von Gesetzlosigkeit und Diskriminierung, als ein Weg zur Demokratie. Es wird auch um die Bildung gehen, die sich mit Modellen und Formen des zivilen Verhaltens, mit der Verantwortung und den Regeln des Zusammenlebens, mit der Partizipation auseinandersetzt.2 In den totalitären Systemen herrschte ein nahezu unbegrenztes Machtmonopol, konzentriert in den Händen einer kleinen gesellschaftlichen Gruppe (Partei) oder einer Person, welche allen anderen eine einzige Richtung und politische Ideologie aufzuerlegen suchte. Damit einher ging auch die Abschaffung bzw. eine gravierende Einschränkung bürgerlicher und politischer Rechte und Freiheiten, unter anderem auch des Rechtes auf freie Meinungsbildung und Meinungsäußerung, die Negation politisch-sozialer Aktivitäten außerhalb des Regimes sowie die strenge, ahndende Überwachung und Einschüchterung der Bürger (vgl. Linz 2003, S. 528f.). Es wird davon ausgegangen, dass die Möglichkeit, nach dem Niedergang der totalitären Regimes eine Zivilgesellschaft in den betroffenen Ländern aufzubauen, nicht ohne eine kritische Reflexion der Geschichte gegeben sein kann. Der amerikanische Politologe Marc Morjé Howard (2003) vertritt die Meinung, dass der Aufbau der Zivilgesellschaft historisch verankert ist und dass eben die Erfahrungen der Bürger die entscheidende Ursache für die Schwäche der Zivilgesellschaft in Osteuropa ausmachen. Totalitäre Gesellschaften mit ihren menschenverachtenden, oft hegemonial-militaristischen Programmen sowie mit der willkürlichen Gewalt können in Anlehnung an Theodor Adorno als Aufkündigung der Humanität und als Barbarei verstanden werden, über deren geschichtliche, sozial-politische und moralische Bedingungen und Ursachen, über die ihnen zugrundeliegenden Ideologien sowie über gesellschaftliche und ethische Schlussfolgerungen es auch im Rahmen der Bildung nachzudenken gilt. So muss die Aufarbeitung einer solchen ← 7 | 8 → Vergangenheit die „Erziehung3 zur Entbarbarisierung“ (Adorno) im Sinne einer Erziehung zur Humanisierung und Mündigkeit beinhalten (Adorno 1971b, vgl. dazu auch Brumlik 1995, S. 8f.).4

Die vorliegende Studie ist nicht primär eine historische und verfolgt somit nicht den Anspruch, die mit dem Zweiten Weltkrieg oder mit der kommunistischen Diktatur verbundenen historischen Ereignisse in einzelnen Ländern zu untersuchen. Im Vordergrund dieser Untersuchung stehen die Grundkategorien und Dimensionen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als Lernprozess. Es sollen diejenigen Kategorien ausfindig gemacht werden, die einem solchen Lernprozess zugrunde liegen. Es gilt aufzuzeigen, welche Strukturen dieser Lernprozess besitzt, wie er sich ausdrückt und sich von anderen Wissensaneignungen abgrenzt. Empirische Forschung wird sich hier auch als Kategoriensuche gestalten. Innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Forschung sind die Fragen des pädagogischen Umgangs mit der Vergangenheit bislang nicht systematisch behandelt worden. Zwar gibt es eine lange Tradition des theoretischen Nachdenkens über die „Erziehung nach Auschwitz“ (vgl. z. B. Ahlheim 2010; Benzler 2009; Distel 2003; Rathenow 2003; Heyl 2002, Fechler u. a. 2001; Heyl 1997), aber über die Formen, Methoden und Inhalte des pädagogischen Handelns im Umgang mit der Vergangenheit im europäischen Kontext – das sich sowohl mit der eigenen Schuld auseinandersetzt, aber auch durch die Suche nach Selbstdefinierung und Selbstbestätigung geprägt ist – wurde bisher kaum geforscht. Die empirischen Untersuchungen zum Umgang mit der Vergangenheit kamen meist nicht aus der Pädagogik, sondern aus anderen Disziplinen. Diese Arbeit soll die Suche nach spezifisch pädagogischen bzw. erwachsenenpädagogischen Formen des Umgangs mit der Vergangenheit in den Mittelpunkt stellen. Es wird nach Merkmalen gesucht, durch die die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als „pädagogisch/andragogisch“ definiert werden kann, sodass eine spezifisch pädagogische Diskussion um den Umgang mit der Vergangenheit – einerseits in Anlehnung an die anderen Disziplinen, andererseits aber in der Ausgrenzung der zentralen pädagogischen Elemente – weiterentwickelt werden kann.

← 8 | 9 → Die Untersuchung ist so angelegt, dass die Sicht der Akteure und der Gestalter der pädagogischen Praxis im Zentrum steht. Dazu wurden in drei Ländern (Polen, Russland und der Ukraine) Interviews mit Erwachsenenbildnern durchgeführt, in deren pädagogischer Praxis die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine Rolle spielt. Ein offener, nicht durch eine vorab definierte Hypothese geleiteter Zugang zu den Erfahrungen der Bildner ermöglicht eine empiriebegründete Kategorisierung des Diskurses über die pädagogische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, was das Ziel dieser Untersuchung darstellt. Die Daten aus den mit den Pädagogen durchgeführten Interviews geben nicht nur Auskunft über das pädagogische Handeln auf dem Feld der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, sondern liefern auch eine subjektive Begründung des eigenen pädagogischen Handelns. Somit kann die Arbeit eine Analyse des pädagogischen Selbstverständnisses der Menschen,5 die sich selbst mit der Vergangenheit auseinandersetzen, liefern und die unterschiedlichen Zugänge zum Thema dazu darstellen.

Diese Vorgehensweise eröffnet die Möglichkeit, der Vielfältigkeit des Umgangs mit der Vergangenheit im Rahmen der pädagogischen Settings Rechnung zu tragen. Die Arbeit ist nicht darauf ausgerichtet, konkrete Wissensinhalte der Erinnerungskultur im jeweiligen Land, die der Auseinandersetzung unterliegen, auszuarbeiten. Im Zentrum stehen indessen die Beschreibung und die Kategorisierung des im Kreis der Erwachsenenbildner vorzufindenden Verständnisses und der gesammelten Erfahrungen über die pädagogische Praxis im Umgang mit der Vergangenheit. Die gewählte Vorgehensweise ist natürlich nur unter der Prämisse möglich, dass die Erwachsenenbildner über die zu vermittelnden Inhalte und Formen in ihrer Praxis der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit reflektieren und dadurch über ein implizites oder explizites Konzept des spezifisch pädagogischen Umgangs mit der Vergangenheit verfügen. Es muss zudem davon ausgegangen werden, dass die Ansichten und Vorstellungen der Bildner in der konkreten pädagogischen Praxis ihren Niederschlag in Form von Konzeption, Planung und Durchführung der Bildungsprozesse finden. Gleichzeitig wird aber, zumindest teilweise, versucht der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Bildung und Erziehung sich „subtil und sublim, unterhalb der Oberfläche des manifesten Alltagsgeschehens [vollziehen]“ (Winkler 2006, S. 11). Ein ausführliches Interview mit Bildnern erlaubt eben nicht nur einen Blick in ihre pädagogische Praxis, sondern auch in ihre Motive, Ansichten und Beweggründe für eine bestimmte Praxis.

← 9 | 10 → Der gegenwärtig in der Öffentlichkeit und in der Bildung[-swissenschaft] gängigen, dennoch meist unstrukturierten Diskussion um den Umgang mit der Vergangenheit soll diese Arbeit eine empirische Studie entgegenstellen, die durch die Praktiken und Ansichten der in der Bildung handelnden Personen einen pädagogischen Ansatz in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit systematisch herausarbeiten will. Es geht dabei um Erwachsenenbildner in drei Ländern Osteuropas, deren explizite und implizite Bildungskonzepte hinsichtlich ihrer pädagogischen Praxis im Umgang mit der jeweiligen Vergangenheit untersucht werden. Dabei wird auf die Methode der Experteninterviews und die Auswertung im Sinne der Grounded Theory, nach welcher die Interviews nach Themen (Codings) eingeordnet und somit die Bildung von Kategorien ermöglicht werden, zurückgegriffen.

Dank dieser Methode ist es gelungen, eine große Datenmenge (91 Interviews, insgesamt ca. 1 800 Seiten) verständlich zu strukturieren und zu kategorisieren und die Verbindung zwischen den unterschiedlichen Themenbereichen herzustellen, sodass zum Schluss ein systematisches Konzept des pädagogischen Umgangs mit der Vergangenheit entworfen werden kann. Die wissenschaftliche Literatur aus den Bereichen der Bildung, aber auch der Gedächtnisforschung soll als Grundlage für die Erstellung des Fragenkatalogs und als Vergleichsgrundlage zu den Inhalten der durchgeführten Interviews dienen und wird im einführenden Kapitel dargestellt. Es lassen sich darüber hinaus aus der Analyse der Entwicklung im Erinnerungsdiskurs des östlichen Europas Fragestellungen ableiten, die auch jenseits eines spezifisch „osteuropäischen“ Wahrnehmungskontextes von Interesse und wissenschaftlicher Relevanz sind.

Ziel dieser Untersuchung ist es auch, die ost- und mitteleuropäische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Deutschland verständlicher zu machen. Die Erörterung der europäischen Erinnerungskultur kann mit den Worten von Stefan Garsztecki nicht nur bedeuten, „dass in den postsozialistischen Staaten ein ‚europäischer Modus des Erinnerns‘ etabliert wird“ (Garsztecki 2008, S. 115); es müssen die spezifischen osteuropäischen Erfahrungen und die Formen des Umgangs mit der Vergangenheit explizit in Betracht gezogen werden.

In der heutigen Diskussion über das gemeinsame europäische Gedächtnis ist ein genauerer Blick auf die Verhältnisse, Umstände und Entwicklungen in den Erinnerungskulturen der osteuropäischen Gesellschaften von Bedeutung. Es wird von der „Osterweiterung des historischen Bewußtseins“ (Kämmerlings 2004) gesprochen, die neue Perspektive, aber auch neue Konflikte auf die Tagesordnung treten lässt. Helmut König scheibt in seinem Resümee zu seinem ausführlichen Buch über die Erinnerung: „[M]an schüttelt über den ← 10 | 11 → Osten verwundert den Kopf und tut so, als wenn die Turbulenzen dort eine inneröstliche Angelegenheit wären, die das Selbstbewußtsein und das Selbstbild des restlichen Europa nicht weiter berührt. In diesem Selbstbild hat das westliche Europa die Vorreiterrolle, und die Pflicht zur nachholenden Entwicklung liegt bei den anderen. Diese Perspektive ist zwar für den Westen schön und beruhigend, aber sie verzerrt die Lage, und sie ist meilenweit von allem entfernt, was man sich unter einem Gedächtnis Europas vorstellen könnte“ (König 2008, S. 649). ← 11 | 12 →

__________

1 Nach Auffassung von König/Kohlstruck/Wöll ist der Begriff des Umgangs mit der Vergangenheit (wie auch der Aufarbeitung der Vergangenheit) eng gefasst und bezieht sich „nur auf eine Dimension der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ihren Folgen“, wobei jedoch das „Spektrum der politischen, kulturellen, juristischen, wissenschaftlichen, pädagogischen und religiösen Handlungsdimensionen in seiner Gesamtheit“ (König/Kohlstruck/Wöll 1998, S. 9f.; vgl. dazu auch König 2003, S. 8f.) nicht darin enthalten sind. In dieser Arbeit sollen diese Dimensionen explizit in dem Begriff eingeschlossen werden.

2 Zu den Regeln des Zusammenlebens vgl. Elias 1992, S. 46f.

3 Hier wird der Begriff der Erziehung verwendet, um die Terminologie von Adorno beizubehalten. Im Übrigen werden die Begriffe „Bildung“ und „Lernen“ bevorzugt, welche den Diskursen der Erwachsenenbildung entsprechen (vgl. z. B. Faulstich/Zeuner 2008, S. 19).

4 Adorno bezieht sich zwar in seinen Überlegungen über die Barbarei auf die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges in Deutschland. Im Hinblick auf die oben geschilderten Begebenheiten der totalitären Gesellschaften kann diese Bezeichnung jedoch auch allgemein auf diese zutreffen.

Details

Seiten
XVIII, 719
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653041644
ISBN (ePUB)
9783653987324
ISBN (MOBI)
9783653987317
ISBN (Hardcover)
9783631651018
DOI
10.3726/978-3-653-04164-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Mai)
Schlagworte
Vergangenheitsbewältigung Interkultureller Dialog Identitätsstiftung Demokratieentwicklung Politische Bildung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. XVIII, 719 S., 6 farb. Abb., 11 Tab.

Biographische Angaben

Dr. Tetyana Kloubert (Autor:in)

Tetyana Kloubert, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Pädagogik mit Schwerpunkt Erwachsenen- und Weiterbildung der Universität Augsburg; Forschungsschwerpunkte: interkulturelle und politische Erwachsenenbildung, Geschichte der Bildung, Erwachsenenbildung in Ost-und Mitteleuropa sowie Vergleichende Pädagogik.

Zurück

Titel: Aufarbeitung der Vergangenheit als Dimension der Erwachsenenbildung
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
741 Seiten