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Gottes Gerechtigkeit und Evangelium im Römerbrief

Die Rechtfertigungslehre des Paulus im Vergleich zu antiken jüdischen Auffassungen und zur Neuen Paulusperspektive

von Jacob Thiessen (Autor:in)
©2014 Monographie 241 Seiten
Reihe: Edition Israelogie, Band 8

Zusammenfassung

In Bezug auf den Römerbrief des Paulus werden nach wie vor intensive kontroverse Diskussionen geführt. Besonders das Thema Rechtfertigung wurde durch die Neue Paulusperspektive noch wesentlich verstärkt. Diese Studie zeigt die Entwicklung hin zur «neuen Perspektive» auf und legt eine alternative Deutung vor, indem sie sich anhand von zentralen Texten des Römerbriefs mit dem Gedankengut der «neuen Perspektive» exegetisch auseinandersetzt. Auch der «jüdische Kontext» der paulinischen Ausführungen wird untersucht und mit den Aussagen des Apostels verglichen. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die paulinische «Rechtfertigungslehre» sowohl wichtige soteriologische als auch ekklesiologische Aspekte beinhaltet, die weder getrennt noch gegeneinander ausgespielt werden sollen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort zur Reihe „Edition Israelogie“
  • Vorwort des Verfassers
  • 1. Allgemeine Einführung
  • 2. Die Herausforderung durch die Neue Paulusperspektive
  • 2.1. Einführung
  • 2.2. Einzelne Wegbereiter der „neuen Perspektive“
  • 2.2.1. Claude G. Montefiore
  • 2.2.2. George Foot Moore
  • 2.2.3. Albert Schweitzer
  • 2.2.4. Hans Joachim Schoeps
  • 2.2.5. Johannes Munck
  • 2.2.6. William David Davies
  • 2.2.7. Krister Stendahl
  • 2.3. Drei wegweisende Vertreter der „neuen Perspektive“
  • 2.3.1. Ed Parish Sanders
  • 2.3.2. James D. G. Dunn
  • 2.3.3. N. T. Wright
  • 2.4. Zusammenfassung und kurze Bestandsaufnahme
  • 3. Abfassungumstände, Hintergrund und Thema des Römerbriefs
  • 3.1. Zur Frage nach „dem Judentum“ im Kontext des Römerbriefs
  • 3.2. Die Umstände bei der Abfassung des Römerbriefs und der Abfassungszweck
  • 3.3. Das Ziel der paulinischen Verkündigung
  • 3.3.1. Den Glaubensgehorsam unter allen Nationen aufrichten
  • 3.3.2. Paulus und die Gläubigen in Rom
  • 3.3.3. Paulus als Apostel für alle Menschen ohne Unterschied
  • 3.4. Das von Paulus verkündigte Evangelium im Kontext des Römerbriefs
  • 3.5. Fazit
  • 4. Die Rechtfertigung im Römerbrief angesichts jüdischer Auffassungen und der Neuen Paulusperspektive
  • 4.1. Kritik am jüdischen Selbstruhm
  • 4.1.1. Vorbemerkungen zu Röm 1,18-32 und 2,1-29
  • 4.1.2. Was Paulus „dem Juden“ vorwirft (Röm 2,17-24)
  • 4.1.2.1. „Der du dich Jude nennst …“ (Röm 2,17a)
  • 4.1.2.2. „… und dich auf das Gesetz stützt“ (Röm 2,17bα)
  • 4.1.2.3. „… und dich Gottes rühmst“ (Röm 2,17b)
  • 4.1.2.4. „Du kennst den Willen …“ (Röm 2,18a)
  • 4.1.3. Beschneidung und wahres Judentum (Röm 2,25-29)
  • 4.1.3.1. Was die Beschneidung nützt
  • 4.1.3.2. Wer für Paulus wahrer Jude ist
  • 4.1.4. Der Selbstruhm ist also ausgeschlossen (Röm 3,27-28)
  • 4.1.5. Ein Gott, der in der Rechtfertigung der Juden und Heiden das Gesetz bestätigt (Röm 3,29-31)
  • 4.2. Nicht aus Werken des Gesetzes (Röm 3,20)
  • 4.2.1. Einführung
  • 4.2.2. Verschiedene Positionen und Statements
  • 4.2.3. „Werke der Tora“ und „Soteriologie“ im Judentum
  • 4.2.4. „Werke des Gesetzes“ und „Soteriologie“ bei Paulus
  • 4.2.5. Abrahams Rechtfertigung „nicht aus Werken“ (Röm 4)
  • 4.3. Das Evangelium als „Kraft Gottes“ zur Errettung von allen Glaubenden (Röm 1,16)
  • 4.4. Gottes Gerechtigkeit wird im Evangelium offenbart
  • 4.4.1. Einführung
  • 4.4.2. Gerechtigkeit Gottes im Alten Testament
  • 4.4.3. Gerechtigkeit Gottes und Gerechtigkeiten im Judentum
  • 4.4.4. Gottes Gerechtigkeit bei Paulus
  • 4.5. Gleiche Erlösung für Juden und Nichtjuden (Röm 3,22b-25)
  • 4.6. Christus versus Adam (Röm 5,12.19)
  • 4.6.1. Einführung
  • 4.6.2. Durch Adam kamen Sünde und Tod (Röm 5,12)
  • 4.6.3. Als Sünder und als Gerechte eingesetzt (Röm 5,19)
  • 5. Sünde, Erlösung und Wiederherstellung nach N. T. Wright, dem antiken Judentum und im Römerbrief – abschließende Gedanken
  • 6. Bibliografie

Vorwort des Verfassers

Der Römerbrief gehört nach wie vor zu den neutestamentlichen Schriften, über die intensive kontroverse wissenschaftliche Diskussionen geführt werden. Solche Diskussionen um den Römerbrief fangen u. a. bei der Frage nach Zweck und Ziel des Römerbriefs an und berühren in den letzten Jahrzehnten besonders das zentrale Thema „Gottes Gerechtigkeit“ bzw. „Rechtfertigung“ im Römerbrief. Sie wurden durch die „Neue Paulusperspektive“ noch wesentlich verstärkt. An diesen Diskussionen wird sichtbar, wie komplex der Inhalt des Römerbriefs zumindest für den Forscher, der in einer ganz anderen Zeit als Paulus und seine Leser lebt und denkt, ist. Aber gerade das macht das Studium des Römerbriefs so interessant und spannend.

Anlässlich meiner Forschung- und Lehrtätigkeit beschäftige ich mich seit vielen Jahren intensiv mit der Auslegung des Römerbriefs. Ziel der vorliegenden Veröffentlichung ist es, das Thema der Rechtfertigung im Römerbrief besonders angesichts seines jüdischen „Kontextes“ exegetisch zu erläutern. Das geschieht in kritischer Beschäftigung mit der Neuen Paulusperspektive, welche die Exegese des Römerbriefs in den letzten Jahrzehnten besonders im angelsächsischen Raum stark geprägt hat. Der Überblick zur Entwicklung hin zur Neuen Paulusperspektive hilft, das von ihren Befürwortern vertretene Gedankengut besser zu verstehen und einzuordnen.

Vielen Personen, die mich in den Jahren bei der Entstehung der vorliegenden Ausführungen über den Römerbrief unterstützt, korrigiert und ergänzt haben, haben an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön verdient. Dazu gehört Prof. Dr. Erich Mauerhofer, bei dem ich während des Theologiestudiums auch eine exegetische Vorlesung über den Römerbrief besuchte, wodurch meine Liebe zum Inhalt des besonderen paulinischen Schreibens befestigt wurde. Mein Dank gilt auch den Studierenden der Staatsunabhänigen Theologischen Hochschule Basel (STH Basel), mit denen in meinen exegetischen Vorlesungen über den Römerbrief immer wieder interessante Diskussionen entstanden. Dankbar bin ich zudem u. a. Prof. Dr. Otfried Hofius (Tübingen), der einen Teil der Arbeit kritisch gelesen hat. Seine konstruktiven Rückmeldungen waren für das Weiterarbeiten sehr wertvoll und haben dieses wesentlich mitgeprägt.

Mein Dank gilt ebenfalls Dr. Berthold Schwarz (Gießen) für Hinweise und Vorschläge bei der Überarbeitung. Für die Aufnahme in die Reihe „Edition Israelogie“ danke ich den Herausgebern Prof. Dr. Helge Stadelmann und Dr. Berthold Schwarz und den verantwortlichen Personen beim Peter Lang Verlag. Frau Ute Winkelkötter vom Peter Lang Verlag (Frankfurt am Main) gebührt ein herzliches Dankeschön für die freundliche und kompetente Betreuung.

Gerade im Römerbrief hängt die Frage nach der Verwirklichung der „Gerechtigkeit Gottes“ durch Jesus Christus eng mit der Israel-Frage zusammen. Das zeigt auch das Beispiel von N. T. Wright – als einem Vertreter der „Neuen Paulusperspektive“ –, der z. B. von einer „Neudefinition Israels“ in Röm 2,28f. und 3,29f. ausgeht. Von „Is ← 9 | 10 → rael“ ist im Römerbrief allerdings erst in Röm 9–11 die Rede, während in Röm 2,17ff. „der Jude“ angesprochen wird. Exegetisch sollten die Begriffe im Kontext des Römerbriefs sorgfältig getrennt werden.

Mit der Frage nach einer „Neudefinition Israels“ im Römerbrief habe ich mich in der Monografie „Gott hat Israel nicht verstoßen“ (Edition Israelogie 3) auseinandergesetzt. In der vorliegenden Studie wird u. a. die Frage nach „dem Juden“ und seiner Rechtfertigung Gott gegenüber aus der Sicht des Paulus im Römerbrief nachgegangen. Grundsätzlich wird untersucht, wie Paulus das Thema „Gerechtigkeit Gottes“, wie sie im Alten Testament verheißen wurde und durch Jesus Christus für Juden und Nichtjuden „im Evangelium“ verwirklicht wird (vgl. Röm 1,16f.), im Römerbrief versteht und welche Auswirkungen sie in Bezug auf den Menschen „vor Gott“ hat.

1.Allgemeine Einführung

Das Thema der Rechtfertigung bei Paulus ist in den letzten Jahren sehr kontrovers behandelt worden, und zwar vor allem auf Grund der so genannten „Neuen Paulusperspektive“ („New Perspective on Paul“). Dabei geht es zentral um die Frage, ob das reformatorische Verständnis der Rechtfertigungelehre dem entspricht, was Paulus tatsächlich lehrte, und um die Stellung der Rechtfertigungslehre innerhalb der paulinischen Theologie. McGrath bemerkt zum Verständnis und zur Bedeutung der Rechtfertigungslehre seit der Reformationszeit:

„The doctrine of justification has come to develop a meaning quite independent of its biblical origins, and concerns the means by which man’s relationship to God is established. The church has chosen to subsume its discussion of the reconciliation of man to God under the aegis of justification, thereby giving the concept an emphasis quite absent from the New Testament. The ‚doctrine of justification’ has come to bear a meaning within dogmatic theology which is quite independent of its Pauline origins …“1

Sollte diese Anmerkung zutreffen, so stellt sich die Frage, wie wir die Rechtfertigungslehre im Neuen Testament zu verstehen haben. Im Folgenden soll dieser Frage anhand der paulinischen Ausführungen im Römerbrief in kritischer Auseinandersetzung mit den Thesen der Neuen Paulusperspektive, aber auch im Vergleich zu antiken jüdischen Aussagen über die Rechtfertigung nachgegangen werden.

Zuerst wird eine Übersicht über die Entwicklung im 20. Jahrhundert hin zur „neuen Perpektive“ dargelegt. Sodann wird auf das Entstehungsumfeld des Römerbriefs eingegangen, weil das Verständnis des Inhalts damit verbunden ist. Damit hängt z. B. eng die Frage zusammen, ob die Rechtferfertigungslehre lediglich ein „Nebenkrater“ der paulinischen Lehre sei (so Albert Schweitzer). Aber auch die Frage nach dem Judentum als (möglichen) Hintergrund der paulinischen Ausführungen spielt eine wichtige Rolle und wird deshalb ebenfalls gestellt, bevor zentrale Abschnitte und Aussagen zur Rechtfertigung im Römerbrief exegetisch entfaltet werden.

Die Themen aus dem Römerbrief, welche exegetisch entfaltet werden, werden insgesamt einander thematisch zugeordnet. Dabei entspricht der Aufbau nicht immer dem des Römerbriefs, was aber nicht bedeutet, dass der jeweilige Kontext im Römerbrief nicht beachtet wird. Wenn z. B. Röm 3,27ff. im Kontext von Röm 2,17ff. behandelt wird, so ist das thematisch bedingt, ohne dabei zu übersehen, dass der jeweilige engere Kontext im Römerbrief unterschiedliche Schwerpunkte behandelt.

Vom Hintergrund antiker jüdischer Ausführungen zu Themen wie Judentum, Gesetz, Werke, Beschneidung usw. wird in exegetischer Arbeit zum Römerbrief untersucht, welche Positionen Paulus einnimmt und was ihn von jüdischen Überzeugungen unterscheidet. Auch wenn Paulus sich nie vom Judentum abgewandt hat, so hat doch ← 11 | 12 → seine Erkenntnis, dass die Rechtfertigung allein durch Jesus Christus vermittelt wird, seine Haltung in mancher Hinsicht entscheidend verändert (vgl. z. B. Gal 2,15f.). Rechtfertigung wird dabei nicht allein als „Erklärung“, dass auch die „Heiden“ durch den Glauben an Jesus Christus zum Volk Gottes gehören, verstanden (so z. B. N. T. Wright), wie in der vorliegenden Arbeit aufgezeigt wird. Ebenso wird dargelegt, dass mit dem Ausdruck „Werke des Gesetzes“ z. B. in Röm 3,20 sehr wohl auf die ganze Tora Bezug genommen wird, wobei die jeweilige Auslegung der Tora mitgedacht ist. Es geht Paulus im Römerbrief wesentlich darum, dass sowohl die Juden als auch die „Heiden“ nur durch Jesus Christus Anteilhaber der göttlichen Heilsverheißungen, wie sie durch die alttestamentlichen Propheten vorher verkündigt wurden (vgl. Röm 1,2), werden können. Diese Sicht wird im Folgenden ausführlich exegetisch begründet.

Der letzte Punkt der vorliegenden Studie fasst nicht nur das Ergebnis zusammen, sondern setzt sich zudem auch u. a. mit den Auffassungen von N. T. Wright zum „Programm“ Jesu und seiner Sicht der Wiederherstellung Israels auseinander. Wrights Deutung der Verkündigung Jesu wirkt sich offensichtlich wesentlich auf sein Verständnis in Bezug auf die „Rechtfertigung“ bei Paulus und damit auch auf seine Deutung des Römerbriefs aus. Zudem hat dieses Verständnis eine Auswirkung auf die Frage, wie die Ausführungen des Paulus im Römerbrief über „die Juden“ und über Israel gedeutet werden. Es geht schlussendlich auch um die Frage, ob die bleibende Erwählung Israels sich in der „Bestätigung“, dass auch die Nichtjuden zum Volk Gottes gehören, auflöst, oder ob sie für das ethnische Israel bestehen bleibt (vgl. z. B. Röm 11,1f.). Eng damit verbunden ist die Frage, wie Juden und Nichtjuden nach der Überzeugung des Apostels Paulus das göttliche Heil erfahren können. Die abschließende Auseinandersetzung damit ist deshalb für das Gesamtverständnis wesentlich.

Baltes mahnt vor einer einseitigen Lektüre des Alten Testaments „durch die [vermeintliche] Brille des Neuen Testaments“, da sich nach ihm dabei die Frage stellen muss, welche Brille überhaupt gemeint ist.2 Wer eine solche Brille aufsetze, „der wird aus dem Alten Testament nur solche Aussagen für wichtig halten, die im Neuen Testament ausdrücklich aufgegriffen und bestätigt werden“.3 Und Baltes ergänzt: „Wir verstehen das Neue Testament nur dann richtig, wenn wir es aus der Perspektive des Alten Testaments heraus betrachten.“4 Das gilt sicher auch in Bezug auf die Ausführungen des Römerbriefs über die Verwirklichung der „Gerechtigkeit Gottes“ durch Jesus Christus für Juden und Nichtjuden. Dabei ist zu beachten, dass Paulus die Begriffe „Jude“ und „Israel“ nicht einfach gleichwertig verwendet und dass Paulus zwischen dem „Alten Testament“ und dem Judentum seiner Zeit unterscheidet. Beide Aspekte werden z. B. bei N. T. Wright m. E. zu wenig berücksichtigt. Die Unterscheidung wird in der vorliegenden Arbeit begrün,det und die Bedeutung für das Verständnis der Texte wird erläutert. ← 12 | 13 →

1McGrath, Iustitia Dei1, S. 2–3; zur Geschichte der Interpretation der „Gerechtigkeit Gottes“ im Neuen Testament vgl. u. a. Stuhlmacher, GerechtigkeitGottes, S. 11–73.

2Vgl. Baltes, Jesus, der Jude, S. 167ff.

3Ebd., S. 172.

4Ebd.

2.Die Herausforderung durch die Neue Paulusperspektive

2.1.Einführung

Die Rede von einer „Neuen Paulusperspektive“ in Bezug auf die Paulusforschung kann seit einigen Jahren kaum mehr überhört werden.1 Wie im Folgenden dargelegt wird, ging es zuerst jedoch nicht um eine neue Sicht des Paulus, sondern um eine neue Sicht des Judentums seiner Zeit.2 Weil man offensichtlich nicht stehen lassen wollte, dass Paulus das Judentum seiner Zeit missverstanden habe, wie z. B. vom jüdischen Theologen Claude G. Montefiore behauptet wurde, führte das zu einer „neuen“ Paulusauslegung, welche sich von der reformatorischen Rechtfertigungslehre zumindest zum Teil distanzierte. Auf Grund von dieser Sachlage scheint nicht immer klar zu sein, wer schlussendlich wen falsch verstanden haben soll und wer „neu“ verstanden wird. Im Folgenden soll die Entstehung dieser „neuen Perspektive“ in einem kurzen Überblick dargelegt werden.

Bereits im Jahr 1897 hatte Paul Wernle die These aufgestellt, dass Paulus „zur Aufstellung der Rechtfertigungslehre genötigt worden“ sei, und zwar „durch die Schwierigkeiten, welche seinem theokratischen Bewusstsein aus seinem Missionsruf erwuchsen“. Nach Wernle dient die Rechtfertigung „lediglich der Heidenmission“.3 Im 20. Jahrhundert wurde diese Sicht weiterentwickelt bis hin zur „Neuen Paulusperspekte“, nach welcher es bei der Rechtfertigung, wie Paulus sie darstellt, nicht um Soteriologie, sondern um Ekklesiologie, bzw. nicht um die Frage, wie der Mensch gerettet wird, sondern um die Frage, wie er nicht vom Volk Gottes ausgeschlossen werden darf, geht.

2.2.Einzelne Wegbereiter der „neuen Perspektive“

2.2.1.Claude G. Montefiore

In einer Publikation des jüdischen Theologen Claude G. Montefiore von 1914 mit dem Titel „Judaism and St. Paul“4 geht es um eine Untersuchung des Judentums zur ← 13 | 14 → Zeit des Neuen Testaments und dessen Darstellung durch Paulus. Sein Ziel ist, einerseits die religiöse Entwicklungen und Überzeugung des Apostels Paulus vor seiner Bekehrung zu erhellen und andererseits die Beziehung des Paulus zum Judentum seiner Zeit zu erklären.5 Bei dem Versuch, das rabbinische Judentum zur Zeit des 1. Jahrhunderts n. Chr. darzustellen, steht er allerdings vor dem Problem, dass die rabbinische Literatur praktisch ausnahmslos aus späteren Jahrhunderten stammt.6 Er orientiert sich deshalb am rabbinischen Judentum von 300 und 500 n. Chr. In Bezug auf Paulus fragt er: „How far was his religion, before the event at Damascus, the same as, or different from, that of any ordinary and average representative of Rabbinic Judaism?“7

Montefiore betont, dass für das rabbinische Judentum das Gesetz die Gabe eines liebenden Gottes für sein Volk gewesen sei8, um es sowohl in diesem irdischen Leben als auch im kommenden Leben glücklich und gerecht zu machen9. Die Menge der Gesetzesvorschriften wirke für Juden nicht erdrückend, da es für sie ein Privileg Gottes sei, das Gesetz halten zu dürfen, und weil die Zahl der Vorschriften für den Einzelnen gar nicht so groß sei.10 Auch wenn niemand das ganze Gesetz halten könne, hätten die Juden nicht in Angst vor dem Gericht Gottes gelebt, da Gottes Barmherzigkeit größer sei als sein Zorn und Gott keine Vollkommenheit erwarte und bereitwillig vergebe.11 Sünde werde ernst genommen, doch sei Gott immer bereit, diese zu vergeben.12 Gott gebe seine Vergebung so bereitwillig, dass es für jeden „anständigen“ Israeliten einen Platz in der „kommenden Welt“ gebe.13

Ein göttliches Eingreifen im Sinn des Kreuzestodes als Opfertod ist nach Montefiore für das rabbinische Judentum unnötig, da der einzelne Jude durch Gesetz und Buße ständigen Zugang zu Gott habe.14 Er anerkenne die menschliche Anstrengung, das Gesetz zu halten. „Man could receive salvation, and get the better of sin, (for God was always helping and forgiving) even without so strange and wonderful a device.“15

Nach Montefiore stimmt eine solche Sicht des Judentums nicht mit dem Bild überein, das die Paulusbriefe und die Lebensgeschichte von Paulus selbst zeichnen. Für Paulus bringe das Gesetz keineswegs nur Gutes hervor. Für ihn sei das Gesetz ein Fluch und verursache die Sünde, sodass niemand durch die Gesetzeswerke Gottes Gunst und Rechtfertigung erlangen könne.16 Montefiore geht davon aus, dass die Religion des Paulus vor seiner Bekehrung auf jeden Fall ärmer, düsterer und hoffnungslo ← 14 | 15 → ser als das rabbinische Judentum war.17 Paulus sei kein reiner rabbinischer Jude gewesen.18 Montefiore identifiziert das Judentum des Paulus viel eher mit dem Diaspora-Judentum. Von diesem Hintergrund her könne man viele Besonderheiten der Theologie des Paulus erklären, die im Vergleich mit rabbinischem Judentum eigenartig, ja unverständlich erschienen.19

2.2.2.George Foot Moore

Auch für den christlichen Theologen George Foot Moore steht das Judentum, das Paulus in seinen Briefen beschreibe, im Widerspruch zum rabbinischen Judentum. Nach ihm wird im Judentum die Gnade Gottes betont, welche Grundlage der Sündenvergebung sei.20 In Bezug auf die Beschaffenheit des Menschen betont er die Gottesebenbildlichkeit.21 Deshalb solle sich jeder Mensch so verantwortlich fühlen, als würde die ganze Menschheit („the whole human race“) von seinem Verhalten abhängen.22 Gott habe den Menschen mit vier Eigenschaften der „oberen Schöpfungen“ („creatures above“) ausgestattet, und wenn er den Willen des himmlischen Vaters erfülle, sei er wie diese „oberen Schöpfungen“.23 Der Mensch sei fähig, zwischen Richtigem und Falschem zu entscheiden – das Problem mit dem „freien Willen“ und der Lehre von der göttlichen Vorsehung sei erst im 10. Jahrhundert entstanden.24 In diesem Zusammenhang zitiert Moore PsSal 9,4, wonach es in der menschlichen Entscheidung und „in der Vollmacht unserer Seele“ liegt, die Gerechtigkeit oder die Ungerechtigkeit zu tun.25

Wenn der Mensch sündigt, so bestehe im Judentum die Möglichkeit zur Wiedergutmachung („expiation“), und zwar durch das Erleiden der Folgen der Sünde26, durch den Tod und durch das Opfer, dessen Grundlage die Buße („repentance“) sei.27 In bestimmten Fällen bleibe nach der Buße eine Wiedergutmachung zu tun.28 Dabei hätten das Leiden und der Tod des Gerechten auch für andere versöhnenden Charakter.29 In diesem Zusammenhang erwähnt er die Haggada, welche Jes 53,12 auf Pinhas (vgl. ← 15 | 16 → Num 25,13) bezieht, indem betont wird, dass gesagt werde, dass Paulus die Sühne für Israel in der Gegenwart bewirke und dass er dieses auch dann werde, wenn die Toten zum Leben kommen würden.30 Ob dieses Leiden in den jüdischen Quellen auch auf den Messias bezogen wurde, lässt Moore offen. Er bemerkt lediglich:

„In view of such utterances as have been quoted above about the fathers and the prophets, it would be neither strange nor especially significant, of among the many and diverse homiletical applications of scripture to the Messiah, something of a similar king should have said about him.“31

In Bezug auf Paulus bemerkt Moore:

„How a Jew of Paul’s antecedents could ignore, and by implication deny, the great prophetic doctrine of repentance, which, individualized and interiorized, was a cardinal doctrine of Judaism, namely, that God, out of love, freely forgives the sincerely penitent sinner and restores him to his favor – that seems from the Jewish point of view inexplicable.“32

Die Äußerungen des Paulus bleiben für ihn aus jüdischer Sicht also unbegreiflich. Man könne sie nur dadurch erklären, dass für Paulus das Heil allein durch Christus komme. Paulus hat nach ihm das Judentum auf diese Weise dargestellt, um die Heiden von seiner Botschaft zu überzeugen. Dabei habe er es bewusst polemisch und sogar falsch beurteilt.

Die Forschungsgeschichte des Judentums ist nach Moore zu stark von christlicher Polemik beeinflusst.33 Man solle bei der Untersuchung des Judentums bewusst auf die neutestamentlichen Texte verzichten, da das von ihnen dargelegte Bild vom Judentum nicht zutreffend sei. Erst mit den Erkenntnissen, die aus den jüdischen Quellen gezogen werden, soll nach Moore ein neues Licht auf die Paulusbriefe geworfen werden.

2.2.3.Albert Schweitzer

Weitere Kritik an der Rechtfertigungslehre in der Theologie des Paulus, welche ihr in der protestantischen Theologie eingeräumt wurde, kam von Albert Schweitzer. In den Werken „Die Geschichte der Paulinischen Forschung von der Reformation bis auf die Gegenwart“ (1911) und „Die Mystik des Apostel Paulus“ (1930) finden sich Gedanken, welche Jahrzehnte später von Vertretern der Neuen Paulusperspektive aufgenommen wurden.34 ← 16 | 17 →

Nach Schweitzer wollte Paulus keine neue Religion gründen.

„Für ihn gab es nur eine Religion: die jüdische … Das ‚Christentum‘ ist für Paulus keine neue Religion, sondern die jüdische, mit dem der Zeit entsprechend verlegten Schwer-punkt. Sein eigenes System gilt ihm vollends nicht als neue Religion. Es ist der adäquat erkannte und in seinen Konsequenzen dargestellte Glaube, und will nichts anderes sein als die wahre zeit- und schriftgemässe jüdische Religion.“35

Details

Seiten
241
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653042603
ISBN (ePUB)
9783653987669
ISBN (MOBI)
9783653987652
ISBN (Hardcover)
9783631650837
DOI
10.3726/978-3-653-04260-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Januar)
Schlagworte
Gnadenreligion Rechtfertigungslehre Judentum Römerbrief des Paulus Werkgerechtigkeit
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 241 S.

Biographische Angaben

Jacob Thiessen (Autor:in)

Jacob Thiessen ist Professor für Neues Testament an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel.

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