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Liberale Europapolitik 1949–1989

Die Europapolitik der FDP zwischen 1949 und 1989- Mit einem Vorwort von Hans-Dietrich Genscher

von Andreas Moring (Autor:in)
©2014 Dissertation 618 Seiten
Reihe: DemOkrit, Band 4

Zusammenfassung

Diese Arbeit untersucht die Europapolitik der Freien Demokratischen Partei zwischen dem Zeitpunkt der deutschen Teilung und dem Fall des Eisernen Vorhangs. Ziel ist es, die Traditionen liberaler Europapolitik und deren Anpassung an die sich wandelnden nationalen und internationalen Umstände aufzuzeigen und zu erklären. Welche Gruppen und Persönlichkeiten vertraten welche Interessen und Ziele? Wer setzte sich durch und warum? Was war an der Politik der FDP eigentlich liberal? Folgten die Liberalen in Deutschland einem bestimmten Leitbild der Integration? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der Untersuchung. Diese Arbeit ist die erste umfassende wissenschaftliche Darstellung und Analyse des Themenbereichs und vereint politikwissenschaftliche und historische Perspektiven, um ein profundes Verständnis liberaler Europapolitik im Kalten Krieg zu erreichen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Parteiprogramm, Realität und Parteiinteresse Einführung von Helmut Stubbe da Luz
  • Inhalt
  • 1. Einführung
  • 1.1. Gegenstand der Untersuchung
  • Föderalismus
  • Funktionalismus
  • Transaktionalismus
  • Intergouvernementalismus
  • Institutionalismus
  • 1.2. Der Forschungsstand
  • 1.3. Die Quellenlage
  • 1.4. Die Gliederung
  • 2. Zeittafel
  • 1947
  • 1948
  • 1949
  • 1950
  • 1951
  • 1952
  • 1953
  • 1954
  • 1955
  • 1956
  • 1957
  • 1959
  • 1960
  • 1961
  • 1962
  • 1963
  • 1965
  • 1966
  • 1967
  • 1968
  • 1969
  • 1970
  • 1971
  • 1972
  • 1973
  • 1974
  • 1975
  • 1976
  • 1977
  • 1979
  • 1981
  • 1982
  • 1983
  • 1984
  • 1985
  • 1986
  • 1987
  • 1988
  • 1989
  • 1990
  • 3. Europapläne und Europavorstellungen im politischen Liberalismus des 19. und 20. Jahrhunderts bis 1945
  • 4. 1949 – 1954 Zwischen Deutschem Reich und bündischem Europa
  • 4.1. Einleitung
  • 4.2. Die Entwicklung der Europäischen Integration
  • Der Europarat
  • Schuman-Plan und EGKS
  • Pleven-Plan, EVG und EPG
  • Die Westeuropäische Union (WEU) und die Westverträge
  • 4.3. Die Europapolitik der FDP
  • 4.3.1. Die Entwicklung der FDP
  • 4.3.2. Die europapolitischen Ziele und Initiativen der FDP
  • Zwischen „Deutschem Reich“ und „bündischem Europa“
  • Die Haltung der FDP zum Europarat
  • Die Haltung der FDP zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl
  • Die Haltung der FDP zur weiteren Europäischen Integration
  • Pleven oder Pfleiderer? – Die Haltung der FDP zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), zur Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) und zu den Westverträgen
  • 4.4. Zusammenfassung
  • 5. 1955 – 1960 Das Nein zu „Spaakistan“
  • 5.1. Einleitung
  • 5.2. Die Entwicklung der Europäischen Integration
  • Die Konferenzen von Messina 1955 und Venedig 1956
  • Die Römischen Verträge vom 25. März 1957
  • Die Gründung der EFTA
  • 5.3. Die Europapolitik der FDP
  • 5.3.1. Die Entwicklung der FDP
  • Die Politik des neuen FDP-Vorsitzenden Thomas Dehler
  • Die Liberalen in der Opposition
  • Die FDP unter der Führung von Reinhold Maier
  • Der Wechsel zu Erich Mende
  • 5.3.2. Die europapolitischen Ziele und Initiativen der FDP
  • Die Haltung der FDP zur Integration nach den Westverträgen
  • Die Haltung der FDP zur „Saarfrage“
  • „Erst Deutschland – Dann Europa“: Die Pläne in der FDP für alternative Europakonzeptionen
  • Die Haltung der FDP zu den Römischen Verträgen
  • Der Gegenentwurf der FDP zum „Kleineuropa“ der EWG
  • 5.4. Zusammenfassung
  • 6. 1961 – 1966 Klärung des weiteren europäischen Kurses: „Sehr begrenzt“
  • 6.1. Einleitung
  • 6.2. Die Entwicklung der europäischen Integration
  • Die Fouchet-Pläne
  • Der Elysée-Vertrag und Frankreichs Nein zum britischen EWG-Beitritt
  • Die Brüsseler Verträge vom 08.04.1965 und Frankreichs Politik des leeren Stuhls
  • 6.3. Die Europapolitik der FDP
  • 6.3.1. Die Entwicklung der FDP
  • Politische Neuorientierung zu Beginn der 60er Jahre
  • Versuch der Annäherung an die DDR
  • Die „Reformer“ melden sich zu Wort
  • 6.3.2. Die europapolitischen Ziele und Initiativen der FDP
  • Die Haltung der FDP zur Europapolitik Adenauers
  • Die Haltung der FDP zu den Fouchet-Plänen
  • Die Haltung der FDP zur Integration nach dem Ende der EPU
  • Die Haltung der FDP zum Elysée-Vertrag
  • Die Haltung der FDP zum Verhältnis Europäische Integration versus Deutsche Wiedervereinigung
  • Die Haltung der FDP zu den Brüsseler Verträgen 1965
  • Die Haltung der FDP zur Verfassungskrise der Europäischen Gemeinschaften
  • 6.4. Zusammenfassung
  • 7. 1966 – 1969 Entspannungspolitik als Integrationsfaktor Europas
  • 7.1. Einleitung
  • 7.2. Die Entwicklung der Europäischen Integration
  • Der Luxemburger Kompromiss von 1966
  • Der Harmel Bericht 1967
  • 7.3. Die Europapolitik der FDP
  • 7.3.1. Die Entwicklung der FDP
  • Die FDP in der Oppositionsrolle
  • Vorsichtige Neuorientierung
  • Die „Liberale Reformation“ von 1968
  • Von „Opas FDP“ zur F.D.P. 1969
  • 7.3.2. Die europapolitischen Ziele und Initiativen der FDP
  • Die Haltung der FDP zum Luxemburger Kompromiss
  • Die Haltung der FDP zur europäischen Integration in der Opposition
  • 7.4. Zusammenfassung
  • 8. 1969 – 1974 Ein Europa mit einer Stimme
  • 8.1. Einleitung
  • 8.2. Die Entwicklung der Europäischen Integration
  • Die Gipfelkonferenz von Den Haag 1969
  • Die Erweiterung der Gemeinschaft 1972
  • Der Werner Plan und die Gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion
  • Das Pariser Gipfeltreffen 1972 und die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ)
  • 8.3. Die Europapolitik der FDP
  • 8.3.1. Die Entwicklung der FDP
  • Zusammenschluss der europäischen Liberalen
  • Die F.D.P. in der neuen Koalition
  • Der Freiburger Parteitag 1971 und der neue Anspruch der F.D.P.
  • Die Endphase der Regierung Brandt/Scheel
  • 8.3.2. Die europapolitischen Ziele und Initiativen der FDP
  • Die Haltung der FDP zur Ostpolitik und den Ostverträgen
  • Die Haltung der FDP zu den Haager Beschlüssen
  • Die Haltung der FDP zur Erweiterung der Gemeinschaft
  • Die Haltung der FDP zur gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik
  • Die Haltung der FDP zur EPZ
  • 8.4. Zusammenfassung
  • 9. 1974 – 1980 Schritte zur „gemeinschaftlichen Ausübung von Souveränität“
  • 9.1. Einleitung
  • 9.2. Die Entwicklung der Europäischen Integration
  • Die Gründung des Europäischen Rates im Dezember 1974
  • Die Berichte zu Stand und Zukunft der Integration (Tindemans 1975, Kommissionsbericht 1975, die Drei Weisen 1979)
  • Das Lomé-Abkommen 1975
  • Die Direktwahl des Europäischen Parlaments und das europäische Währungssystem (EWS)
  • 9.3. Die Europapolitik der FDP
  • 9.3.1. Die Entwicklung der FDP
  • Die Abkehr von der Politik der „Freiburger Thesen“
  • 9.3.2. Die europapolitischen Ziele und Initiativen der FDP
  • Die Haltung der FDP zum Europäischen Rat
  • Die Haltung der FDP zur KSZE
  • Die Haltung der FDP zur Integration nach der Gründung des Europäischen Rates
  • Die Haltung der FDP zum EWS
  • Die Haltung der FDP zur ersten Europawahl 1979
  • 9.4. Zusammenfassung
  • 10. 1981 – 1989 Einheit im „Europa der Bürger“
  • 10.1. Einleitung
  • 10.2. Die Entwicklung der europäischen Integration
  • Die neue Sicherheitspolitik unter Präsident Reagan und die Reaktion der EG-Staaten
  • Das Spinelli-Projekt und die „Feierliche Deklaration zur Europäischen Union“ 1983
  • Der Verfassungsentwurf des EP und der Gipfel von Fontainebleau
  • Die Einheitliche Europäische Akte 1986
  • Auf dem Weg zur Europäischen Union
  • 10.3. Die Europapolitik der FDP
  • 10.3.1. Die Entwicklung der FDP
  • Nato-Doppelbeschluss und Koalitionswechsel
  • Zerreißprobe für die Liberalen
  • Der neue Kurs der Freien Demokraten
  • 10.3.2. Die europapolitischen Ziele und Initiativen der FDP
  • Die Haltung der FDP zur Genscher-Colombo-Initiative
  • Die Haltung der FDP zur Europäischen Integration nach dem Regierungswechsel
  • Die Haltung der FDP während der zweiten Europawahl
  • Die Haltung der FDP zur Einheitlichen Europäischen Akte
  • Das Genscher Memorandum
  • Die Haltung der FDP zu europäischer Integration und deutscher Einheit
  • 10.4. Zusammenfassung
  • 11. Schlussbetrachtung
  • Grundsätze: Das Unikum des „Liberalen Manifestes“ (1952)
  • Institutionen: Bevorzugung des Föderalismus „von unten“
  • Wirtschaft und Finanzen: Freihandelslehre als Urbekenntnis und als Basis für eine Wirtschafts- und Währungsunion
  • Agrarpolitik: Freier Markt und fairer Wettbewerb als stete und unerfüllte Forderung
  • Außen- und Sicherheitspolitik: Westintegration als Ausgangspunkt aller Überlegungen
  • Kultur und Bildung: Europäische Zivil- und Bildungsgesellschaft
  • Umweltpolitik: Notwendige supranationale Maßnahmen
  • Anlagen
  • Anlage I
  • Anlage II
  • Quellen- und Literaturverzeichnis
  • Quellen:
  • Unveröffentlichte Quellen
  • Veröffentlichte Quellen:
  • Literatur:
  • Zeitungen, Zeitschriften, Pressedienste:
  • Sach- und Personenregister
  • Reihenübersicht

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1. Einführung

1.1. Gegenstand der Untersuchung

Die Freie Demokratische Partei war in der Zeit zwischen 1949 und 1989 mit nur zwei Ausnahmen (1956 bis 1960 sowie 1966-1969) Regierungspartei in der Bundesrepublik Deutschland. Zudem verantwortete die FDP in allen Regierungen mit ihrer Beteiligung für die Europapolitik wichtige Politikressorts beziehungsweise Ministerien, seit 1969 das Auswärtige Amt. Damit ist die Freie Demokratische Partei einer der führenden politischen Kollektivakteure in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa im Untersuchungszeitraum gewesen. Ihre Vorstellungen von Europapolitik und Europäischer Integration waren ein wesentlicher und entscheidender Faktor zum Verständnis der Europapolitik der Bundesrepublik Deutschland von der Gründung bis zum Ende des Kalten Krieges 1989. Diese Untersuchung soll die Fragen beantworten, wie die Freie Demokratische Partei zwischen 1949 und 1989 Europäische Integration definierte, was sie unter „Europa“ verstand und wie sie ihre Ziele und ihre Europapolitik umsetzen konnte.

Programmatische Aussagen zur Europapolitik hatten im deutschen Liberalismus, vor allem Linksliberalismus eine Tradition, die zumindest bis in die Weimarer Zeit deutlich zurückzuverfolgen ist. Den liberalen „Europa“-Vorstellungen im deutschsprachigen Raum aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie aus der Zeit des deutschen Kaiserreiches, aus den Weimarer Jahren und den „Jahren der Besatzung“ (Theodor Eschenburg) bis zur Gründung der Bundesrepublik ist deshalb ein knapper Rückblick gewidmet worden.

Die Betrachtung der FDP ist just aufgrund der Tatsache besonders interessant, dass die Grundlagen und Ziele der Europäischen Integrationspolitik und der daraus entstehenden Europäischen Gemeinschaften urliberale Grundsätze und Überzeugungen widerspiegeln. Hiermit sind gemeint: Demokratie und Gewaltenteilung, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, Freihandel und fairer Wettbewerb. Besonders Liberale müssten sich also mit dem Ziel der Europäischen Integration identifizieren und Maßnahmen zu deren Fortschritt vorantreiben. Diese Untersuchung soll aufzeigen welche Haltung die Freie Demokratische Partei zur Politik der Europäischen Integration einnahm und warum sie diese unterstützte oder auch – zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten Aspekten – ablehnte. Es geht im Rahmen dieser Arbeit um die Entstehung und Entwicklung der programmatischen und der praktischen Europapolitik der Freien Demokraten, die erst in der Gesamtbetrachtung der genannten vierzig Jahre eine Rekonstruktion, Analyse und Beurteilung dessen zulässt, was „liberale Europapolitik“ ausmachte. Dabei ist auch danach zu fragen, in welchem Grade ← 19 | 20 → liberal die Europapolitik der FDP war, wie sehr sie also mit den Prinzipien des politischen Liberalismus insgesamt übereinstimmte, und ob sich in der Europapolitik der Freien Demokratischen Partei eine bestimmte oder mehrere Integrationstheorien als Leitmotive erkennen lassen.

Das bedeutet mit anderen Worten, dass die Untersuchung der Frage nachgeht: Was an der Europapolitik der Freien Demokratischen Partei war typisch „liberal“? Entsprach das Etikett dem, was es versprach? Welches Bild von Europa hatte diese Partei? Korrespondierte ihre europapolitische Argumentation einem bestimmten Integrationsmodell? Formulierte die Partei Alternativen zur jeweils aktuellen Europa- und Integrationspolitik? Oder hatte die FDP vielleicht gar kein klares europapolitisches Ziel, geschweige denn ein konturiertes Bild, eine handlungsleitende Vision von „Europa“? Versuchte sie nur, einen derartigen Eindruck in der Öffentlichkeit zu erzeugen?

Um diese Fragen beantworten zu können, sollen zunächst kurz die Grundlagen des politischen Liberalismus definiert werden, damit eine Messlatte zur Verfügung steht. Anschließend werden die wohl wichtigsten theoretischen Modelle der Integration in ihren Grundzügen dargestellt und sowohl Übereinstimmungen, als auch Unterschiede zu den Prämissen des politischen Liberalismus benannt.

Liberalismus ist in dem Sinne eine politische Ideologie, dass hier zum Zwecke der Geltendmachung, ja Durchsetzung bestimmter gesellschaftlicher Interessen ein im weitesten Sinne politisches Programm entstanden ist, das aus einem Menschenbild abgeleitet werden kann. Das Ziel des Liberalismus ist – darüber dürfte Übereinstimmung zu erzielen sein – die freie Entfaltung des Einzelnen und seiner Persönlichkeit, frei von unverhältnismäßig einengenden Vorschriften, was die Handlungen angeht, und ganz und gar frei von Zensur, was das Denken betrifft, inklusive des ‚lauten Denkens‘. Programmatische Grundlage dafür bilden die als universell und als unverletzlich geltend betrachteten Menschenrechte. Der Liberalismus geht davon aus, dass das Individuum dem Kollektiv in vieler Hinsicht überlegen sei, dem Kollektiv nur unter bestimmten, ausgewählten Aspekten untergeordnet werden dürfe.1 Das Interesse der Gesellschaft nach Fortschritt und Prosperität wird in der liberalen Theorie am besten durch das freie Spiel der Kräfte und den Wettbewerb um die effizienteste Lösung für anstehende Probleme erfüllt. Eine offene, pluralistische Gesellschaft, eine von den Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit getragene, adäquat organisierte Demokratie und eine freie Marktwirtschaft gelten deshalb als die effizientesten ← 20 | 21 → gesellschaftlichen Mechanismen, Irrtümer zu vermeiden und den Fortschritt zu sichern.2

Diese Form einer liberalen Gesellschaft wird im politischen Liberalismus oft als „Zivilgesellschaft“ bezeichnet, abgeleitet vom lateinischen Wort „civis“ für Bürger. Die freien Bürger einer Gemeinschaft verpflichten sich demnach („kontraktualisch“) selbst zur Organisation des Zusammenlebens nach eigenen Regeln, um das friedliche Zusammenleben überhaupt erst möglich zu machen und weder in Chaos noch in Totalitarismus abzugleiten. Das gleiche gilt für den Bereich der Wirtschaft und den Handelsaustausch: Auch hier kommt dem Staat mehr als eine Schiedsrichterrolle (nur genau bedingt eine Teilnehmerrolle zu), eine Moderatorenrolle, die ihn verpflichtet, ein Höchstmaß an Freiheit und fairen Wettbewerb zu ermöglichen.3 In die europäische Dimension übertragen, kann ein supranationaler Überstaat(sapparat), ein gesamteuropäischer Staat mit ausgedehnten Befugnissen theoretisch nicht Ziel liberaler Politik sein.4 Liberale Politik geht - wie schon angeführt - herkömmlicherweise immer vom Individuum, dem freien und selbst bestimmten Bürger aus. Eine Europapolitik ließe sich konsequenterweise nur dann als „liberal“ bezeichnen, wenn sie diesen Prämissen entspräche.

Für eine Gemeinschaft der Staaten auf europäischer Ebene reichte es den Prämissen des politischen Liberalismus entsprechend aus, wenn sich eine europäische Gemeinschaft der Bürger, dem Vorbild der Zivilgesellschaft folgend, freiwillig und in „Bottom-up“-Richtung verbindliche Regelungen auferlegt. Rein nationalstaatlich-administrativ legitimierte und kontrollierte Institutionen ← 21 | 22 → auf supranationaler Ebene sind mit dem Freiheitsprinzip des politischen Liberalismus nur schwer vereinbar.5

Bezüglich der verschiedenen Integrationstheorien stehen einige den liberalen Prinzipien näher, andere weniger. Dazu werden nachfolgend die wichtigsten Theorien kurz skizziert: der Föderalismus, der Funktionalismus, der Transaktionalismus, der Intergouvernementalismus und der Institutionalismus. Naturgemäß weisen sie Überschneidungsbereiche auf.

Föderalismus

Der Föderalismus als Integrationskonzept ist – so soll hier definiert werden – der Versuch, die individuellen Interessen der zu einem Verbund zusammengeschlossenen Regionen oder ganzen Staaten mit den Interessen des Bundes als Ganzes in Einklang zu bringen, wobei dieser Bund eben zu dem Zweck begründet worden ist, die Interessen seiner Mitglieder zu fördern. Ziel ist dabei die Vermeidung von Konflikten und die friedliche Lösung von Problemen. Die Staaten und die dazu gehörigen Gesellschaften sind einen solchen Verbund zuvor dann eingegangen, wenn sich dadurch ihre Interessen effizienter umsetzen lassen und wenn sich bestimmte Aufgaben, die zuvor unter der Souveränität der einzelnen Staaten standen, durch den Zusammenschluss unter einer Dachorganisation effizienter erfüllen lassen.6 Das Prinzip des Föderalismus verlangt juristisch-politisch die Abgabe bestimmter nationaler Souveränitäten an die Föderation. Die Föderation kann den einzelnen Gliedstaaten jedoch nicht – in „Top-down“-Richtung – ohne deren Einverständnis nationale Rechte entziehen. Zur Ausführung der Gemeinschaftsaufgaben kann die Föderation auch eigene Organe einrichten. Die einzelnen Staaten der Föderation können aufgrund verbindlicher Verträge die Aufgabenverteilung, Kompetenzen und Strukturen der Föderation verbindlich festlegen, zu diesem Zweck auf eigene Organe oder Institutionen verzichten. In der Aufteilung der Kompetenzen zwischen Zentralmacht und den einzelnen Regionen liegt für das Föderalismus-Prinzip die ← 22 | 23 → Grundlage für die Effizienz des politischen Handelns.7 Der Begriff des Föderalismus ist doppeldeutig: Wird die politische Willensbildung und Entscheidungsfindung „von unten nach oben“ verlangt oder umgekehrt? Nur die erstgenannte Version entspricht den Prinzipien des Liberalismus, wenn es zu Effizienzwecken gewiss auch ein Optimum an Zentralisierung zu erreichen gilt.

In der Theorie des europäischen Föderalismus nach dem Zweiten Weltkrieg galten und gelten ein Zwei-Kammer-Parlament, eine von diesem kontrollierte supranationale Exekutive sowie ein Gerichtshof zur Überwachung der Föderationsverträge als „typische“ Organe oder Institutionen der Föderation.8 Diese sollen unabhängig von den Interessen der nationalen Regierungen handeln. Als Voraussetzung dafür gilt die demokratische Wahl und Kontrolle durch die europäische Bevölkerung beziehungsweise deren Vertreter. Als Voraussetzung für dies wird schon seit längerem ein direkt gewähltes Parlament betrachtet, das seine Legitimation und seine Verantwortlichkeit von der europäischen Bevölkerung und nicht „nur“ von den nationalen Regierungen der Föderation herleitet.9 Ein weiteres Charakteristikum im Föderalismusprinzip der Europäischen Integration ist die prinzipielle Offenheit der Föderation für alle europäischen Staaten, welche ihrerseits liberalen Standards entsprechen.10

Funktionalismus

Das Integrationsmodell des Funktionalismus verfolgt zwei Ziele: zum einen die Vermeidung von Konflikten und Kriegen zwischen den Nationalstaaten, zum anderen die Maximierung der „allgemeinen Wohlfahrt“ für die Bevölkerung einer europäischen Staatengemeinschaft.11 Das Prinzip des Funktionalismus geht zunächst von einer bewusst rein technischen, gar – wie Skeptiker zuweilen formulieren – „technokratischen“ Organisation und Koordination von staatenübergreifenden Funktions- und Wirtschaftseinheiten aus. Primärziel ist eine möglichst effiziente Zusammenarbeit innerhalb der Wirtschaftseinheiten. Die gegenseitigen Abhängigkeiten und Verflechtungen der unterschiedlichen ← 23 | 24 → Wirtschaftssektoren sollen einen sukzessiven Zwang zur stufenweisen Erweiterung der gemeinsam koordinierten und organisierten Bereiche erwirken („Spillover“-Effekt).12 Durch diese Erweiterung können supranationale Institutionen, eingerichtet zur Verwaltung der gemeinsamen oder vereinigten Wirtschaftssektoren, im stufenweisen Gleichtakt mit der beschriebenen Erweiterung auch ihre Kompetenzen und unabhängigen Befugnisse erweitern. Diese Übertragung von zunächst wirtschaftspolitischer Entscheidungsmacht an supranationale Institutionen soll eine Befreiung der Entscheidungen von den bisherigen nationalstaatlichen Dogmen bewirken, die bisher vielen für die Gemeinschaft wirtschaftspolitisch vorteilhaften Entscheidungen im Wege standen. Das supranationale Funktionssystem läuft dann -irgendwann - sozusagen „störungsfrei“, frei von Interferenzen durch die Interessen nationalstaatlicher Regierungen und vor allem von Schritten konkreter Einflussnahme. Diese supranationale Entscheidungsfreiheit soll damit die „allgemeine Wohlfahrt“ der Bevölkerung der Gemeinschaft erhöhen.13

Im sogenannten Neo-Funktionalismus, der nach dem Zweiten Weltkrieg konzipiert wurde, wird besonders die Notwendigkeit betont, den „Spill Over-Effekt“ von Anfang an politisch voranzutreiben und nicht auf dessen automatisches Eintreten durch die sektorale wirtschaftliche Integration zu hoffen. Bereits bei der ersten sektoralen Zusammenarbeit auf untergeordneter politischer Ebene solle sogleich eine supranationale Autorität mit dazugehöriger Bürokratie eingerichtet werden, um das Voranschreiten des Integrationsprozesses garantieren zu können.14

Transaktionalismus

Das Programm des Transaktionalismus stellt die Bedeutung gegenseitigen Austausches zwischen Ländern beziehungsweise Gesellschaften in den Mittelpunkt der Überlegungen und sieht darin den Antrieb für einen Zusammenschluss verschiedener Staaten zu einer Gemeinschaft. Eine möglichst hohe Anzahl an wirtschaftlichen und sozial-gesellschaftlichen Transaktionen (dazu gehören Waren- und Dienstleistungsaustausch wie beispielsweise auf dem Gebiet des Tourismus, ferner Zusammenarbeit in den Bereichen Bildung und Forschung, sowie Maßnahmen der Migrationspolitik vor dem Hintergrund von Migrationsbewegungen über staatliche Grenzen hinweg) fördere unter den am Austausch Beteiligten zunehmend das Gefühl der Zusammengehörigkeit und der gegenseitigen Abhängigkeit(en). Aus diesem Bewusstsein der Zusammengehörigkeit ← 24 | 25 → entstehe sodann das Bedürfnis nach allseitigem Schutz sämtlicher im Spiele befindlicher Interessen und Besitzstände sowie nach einer geregelten Ordnung der Verhältnisse der Gesellschaften und Staaten untereinander.15 Das sei die Basis für die supranationale politische Zusammenarbeit und Integration. Diese Entwicklung könne politisch vorangetrieben werden, indem sich bereits in den ersten Stadien der engeren Zusammenarbeit und des zunehmenden Austausches die Nationalstaaten bewusst zu einer Sicherheitsgemeinschaft zusammenschlössen. Diese Gemeinschaft könne, sofern politisch gewollt, auch supranationale Institutionen einrichten, von einer bloßen Sicherheitsgemeinschaft zu einer Entwicklungsgemeinschaft werden und so die supranationale Koordination von verschiedenen Politikfeldern sicherstellen.16 Für den politischen Liberalismus kann hier freilich ein Spannungsfeld zum grundlegenden Demokratiegebot entstehen. Das Errichten einer Gemeinschaft und womöglich auch supranationaler Institutionen zur Koordination gemeinsamer Politik müsste, so kann im Sinne des liberalen Programms zu Bedenken gegeben werden, stets demokratisch durch die Bevölkerung der beteiligten Staaten legitimiert sein.

Intergouvernementalismus

Intergouvernementalismus geht von der Prämisse aus, dass nationale Regierungen ihre Politik stets nach eigenem Machtstreben und eigener Vorteilssuche ausrichten. Integrationsschritte sind dabei immer dann möglich, wenn eine Konvergenz der Präferenzen der Nationen oder ihrer Regierungen auftritt.17 Mit seiner Grundthese steht das Modell des Intergouvernementalismus dem liberalen Prinzip der pragmatischen Problemlösung ohne verbindliche supranationale Vorschriften und dem Prinzip des jeweiligen Kosten-Nutzen-Abgleichs nationaler Interessen bei politischen Entscheidungen als Gemeinschaft oder als einzelner Staat nahe. Dieser jeweils fallbezogene Kooperationsprozess der einzelnen Nationalstaaten muss allerdings für alle Beteiligten formal vorteilhaft organisiert werden, was verbindliche Verfahrensregeln der Zusammenarbeit nötig macht und supranationale Institutionen zur Organisation der gemeinsamen Verfahren – je nach Standpunkt – ermöglichen oder erfordern kann.

Speziell zur Erklärung von Integrationsprozessen hat sich in der politikwissenschaftlichen Theorie der Liberale Intergouvernementalismus als Teilgebiet etabliert, auch als Gegengewicht zum weiter oben angesprochenen Neofunktionalismus.18 ← 25 | 26 → Der Liberale Intergouvernementalismus unterteilt die Integration in drei Ebenen. Die erste Stufe bildet dabei der Wettstreit sozial-politischer Akteure (Parteien, Gewerkschaften, weitere Interessengruppen) um die zunächst nationale Präferenz- und Interessenausrichtung. Die zweite Stufe spielt sich demnach auf Ebene der Regierungen (intergouvernemental) ab, welche versuchen, ihre nationalen Positionen im Wege von Verhandlungen und Interessenausgleich weitestgehend durchzusetzen und gleichzeitig die Zusammenarbeit zu sichern oder auch weiter zu verstärken bzw. zu vertiefen. In einer dritten Stufe kann es dann zu einer Herausbildung und Etablierung supranationaler Institutionen kommen. Im Unterschied zum Institutionalismus ist deren Aufgabe nicht das Vorantreiben der Integration und die Ausweitung supranationaler Entscheidungen auf immer mehr Politikbereiche, sondern die Institutionen sollen dazu dienen, den Prozess der Verhandlungen und Beschlussfassungen und eventuell auch die Exekution effizienter zu machen.

Institutionalismus

Die Theorie des Institutionalismus macht dagegen die Existenz supranationaler Entscheidungsorgane einer Gemeinschaft ausgesprochen zur Voraussetzung, um überhaupt gemeinsame Politik administrieren und ausführen zu können. Erst mit Hilfe überstaatlicher Institutionen und Strukturen ließen sich die Ziele einer Gemeinschaft erreichen.19 Dazu brauchten die Institutionen freie Beschluss- und Exekutivkompetenz, die sie von den nationalen Regierungen übertragen bekommen müssten. Der immanente Zwang zur Schaffung von Institutionen in diesem Integrationsmodell, macht es mit dem politischen Liberalismus theoretisch schwerer vereinbar. Eine Problematik des Institutionalismus besteht darin, dass sich das Effizienz- und Demokratiegebot im Rahmen einer europäischen Zusammenarbeit gegenseitig behindern können, und zwar je größer der Kreis der beteiligten Staaten wird. Spätestens an diesem Punkt bestünde dann der ← 26 | 27 → Zwang einer gemeinsamen Verfassung, die Aufgaben und Kompetenzen der supranationalen und nationalstaatlichen Organe festlegen muss.20

Mit der Analyse und Beantwortung der weiter oben genannten Fragestellungen soll diese Untersuchung einen Beitrag zur Erforschung sowohl der Geschichte der Europäischen Integration als auch der bundesdeutschen Außenpolitik bis 1989 sowie zur Geschichte der Freien Demokratischen Partei und parteipolitisch organisierter liberaler Politik in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg leisten. Darüber hinaus soll die Untersuchung die Analyse und die Diskussion der unterschiedlichen politischen Konzepte innerhalb der deutschen und europäischen Parteienlandschaft befördern, indem sie die Europapolitik der FDP nicht nur von ihren Zielen und Vorstellungen her darstellt, sondern auch deren Umsetzung analysiert.

Die Studie bezieht sich zu einem Teil auf die Programme der FDP zur Europapolitik, da die auf den Parteitagen beschlossenen Programme formal die Mehrheitsmeinung der Freien Demokraten auf diesem Gebiet wiedergeben. Damit können die Programme auch für den Wissenschaftler als repräsentativ für die FDP gelten, sofern er Minderheitenpositionen im Auge behält. In den Programmen werden ebenso die Grundvorstellungen der Freien Demokratischen Partei zu Aufbau und Organisation eines integrierten Europas und das Verständnis eines geeinten Europas deutlich formuliert. Die Arbeit soll zu einem anderen Teil aber auch das Zustandekommen dieser auf der Erscheinungsebene unmittelbar auszumachenden politischen Ziele untersuchen, indem sie deren Entstehung und Entwicklung darstellt, ausgehend von einzelnen Persönlichkeiten oder auch von Arbeitskreisen oder Kommissionen der Partei. Dadurch ist diese Untersuchung die erste historische und zusammenhängende Analyse der Entwicklung der europapolitischen Programme der Freien Demokratische Partei für die ersten vierzig Jahre der Bundesrepublik.

Des Weiteren sind die Umsetzung und Durchsetzung der in den Programmen genannten Konzepte ein wichtiger Gegenstand der Untersuchung. Gelang es den FDP-Politikern, ihre Vorstellungen in der Bundespolitik und innerhalb der Europäischen Gemeinschaften umzusetzen? Konnten einzelne liberale Politiker ihre Vorstellungen und Pläne zur Europapolitik überhaupt innerhalb der eigenen Partei zur Mehrheitsmeinung machen und warum?

Der Fokus der Analyse und Bewertung der praktischen Europapolitik der Freien Demokratischen Partei konzentriert sich auf den Vergleich von (beispielsweise in Programmen oder in Reden) formulierten Zielen mit den jeweiligen Ergebnissen und Beschlussfassungen der Bundesregierung, des Ministerrates oder des Europäischen Rates ab 1974. Waren Beschlüsse auf europäischer Ebene im Sinne der Ziele der FDP, stimmten die Liberalen zu, ihre Ziele waren erreicht. Waren Vorhaben oder Beschlüsse auf europäischer Ebene den Zielen der Freien ← 27 | 28 → Demokratischen Partei entgegengesetzt, stimmte „die Partei“ als ganze, als mehr oder minder weitgehend geschlossene Gesamtheit, nicht zu. Wurden solcherart Beschlüsse trotzdem gefasst und umgesetzt, hatte die FDP ihre Ziele nicht erreicht. In beiden Fällen ist eine klare Beantwortung der Fragestellung grundsätzlich möglich, in wissenschaftlich befriedigendem, den gehobenen Journalismus übertreffenden Maße freilich erst nach einiger Detailanalyse.

Zur Beantwortung der Fragen befasst sich diese Arbeit auch mit dem Einfluss einzelner (Führungs-)Persönlichkeiten der Freien Demokratischen Partei auf Konzeption und Umsetzung der Europapolitik. Innerhalb der gesamten vierzig Jahre zwischen der Gründung der Bundesrepublik und der Wiedervereinigung von BRD und DDR versuchten besonders in den fünfziger und sechziger Jahren einzelne Politiker teils gegensätzliche europapolitische Konzepte in der FDP durchzusetzen und kämpften um die Meinungsführerschaft. Diese Arbeit soll eine Antwort darauf geben, warum sich einige Vorstellungen und Pläne durchsetzen konnten und andere scheiterten. Lutz Nickel hat in seiner Arbeit über „Dehler – Maier – Mende“ solche Prozesse anhand der drei genannten FDP-Vorsitzenden detailliert beschrieben und analysiert indem er neben genauen Persönlichkeitsanalysen auch die Stimmungen und Strömungen innerhalb der FDP und der westdeutschen Gesellschaft sowie der Wählerschaft der Partei zum Objekt nimmt21.

Als Eckdaten für die Untersuchung bieten sich im Kern die Jahre 1949 und 1989 an. Im Jahr 1949 trat die FDP zum ersten Mal mit programmatischen Aussagen zu einer Bundestagswahl in der gerade gegründeten Bundesrepublik Deutschland an. Die Gründung der BRD und der DDR und die damit vollzogene deutsche Teilung 1949 sind auch die Basis für die folgende Europa- und Außen- und Deutschlandpolitik der FDP gewesen. Die Wiedervereinigung Deutschlands war für die FDP seit 1949 das oberste politische Ziel in der Außen- und Europapolitik. Die Europapolitik der FDP und die „deutsche Frage“ lassen sich kaum voneinander trennen.

Waren in den 1950er und 1960er Jahren Deutschland- und Europapolitik für die Freien Demokraten teils gegensätzlich ausgerichtet, nahm die FDP ab dem Ende der sechziger Jahre eine andere Sichtweise ein. Deutsche Frage und europäische Integration gehörten für die Freien Demokraten weiterhin zusammen, die Politik der europäischen Integration wurde aber nun eher unabhängig von der Frage der deutschen Wiedervereinigung konzipiert. Grund dafür war ein erweitertes oder „reformiertes“ Verständnis von Europapolitik, das sich nicht mehr nur auf die Politik der Westintegration bezog, sondern die Politik der Entspannung und des Dialogs mit den osteuropäischen Staaten als gleichberechtigten, gewiss konkurrierenden, aber nicht entgegengesetzten Teil der Europapolitik ansah. ← 28 | 29 →

Mit dem Fall der Berliner Mauer, dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Ende des Kalten Krieges 1989 war eine Epoche in der europapolitischen Entwicklung auch innerhalb der FDP beendet. Die Frage des Zusammenhangs von deutscher Frage und europäischer Integration konnte von der FDP zwar schon seit Ende der sechziger Jahre weitgehend beantwortet werden, mit den Veränderungen in Europa ab Mitte der achtziger Jahre mussten die programmatischen Gedankenmodelle aber nun in der Realität angewandt werden. Die Entwicklungen, Veränderungen, Kursschwankungen und eventuelle Brüche oder Neuerungen in der Europapolitik der FDP sollen darum für den Zeitraum von 1949 bis 1989 untersucht werden.

Hierbei muss das ‚Parteileben‘ insgesamt ins Blickfeld genommen werden. Eine Partei formuliert nicht nur programmatische Aussagen und stellt sich mit ihnen zustimmungsheischend vor die Öffentlichkeit. Sie nimmt stets mehrere Rollen zugleich ein, wie mit besonderer Deutlichkeit Winfried Steffani modellartig gezeigt hat.

Steffani definiert vier Felder der Parteienanalyse: 1. Parteien als Ausdruck sozialer Kräfte, 2. Parteien als Systemträger, 3. Parteien als Mittel der politischen Willensbildung und 4. Parteien als Interessengruppen, auch in eigener Sache. Parteien sind danach immer Ausdruck sozialer Kräfte und des gesellschaftlichen Wandels. Besonders in „hochindustrialisierten Dienstleistungsgesellschaften bemühen sich die (Volks-)Parteien um die Integration mehrerer Schichten und Bevölkerungsgruppen“22. Für die FDP bedeutete dies beispielsweise in den 1950er und 1960er Jahren den Versuch, die liberal gesinnten, an Prinzipien des Liberalismus interessierten Kräfte in der Bundesrepublik bei sich zu bündeln und zugleich eine möglichst scharfe Profilierung und Wertorientierung in der Tradition liberaler Parteien vor 1933 zu erreichen. In dieser Arbeit wird für diese Dimension der Parteienanalyse die Frage gestellt: Wen wollte die FDP in der Zeit zwischen 1949 und 1989 ansprechen und wen wollte sie vertreten?

Im parlamentarischen System, so Steffani zum zweiten Feld der Parteienanalyse, sähen sich die Parteien „einer besonderen Systemverpflichtung gegenüber: Sie müssen für die Regierungsfähigkeit des Systems Sorgte tragen“. Parteien müssten Koalitionen eingehen „um Macht auszuüben und das System stabil zu halten und für Mehrheiten Disziplin waren können“ und so die Rolle des Systemträgers zu erfüllen.23 Diese Rolle und diese Aufgabe einer Partei soll auch in dieser Arbeit beachtet werden, nämlich dann, wenn die FDP als Regierungs- und Oppositionspartei analysiert wird.

Parteien wirkten drittens, so Steffani, an der politischen Willensbildung in einem Gemeinwesen mit, seien also demokratisches Organ zur Durchsetzung einiger ← 29 | 30 → ausgesuchter Willensbestandteile der von ihr vertretenen Bevölkerungsgruppen. Parteien seien ebenso verantwortlich für die Identifikation der Bürger mit ihren staatlichen Repräsentationsorganen. Sie seien aber auch Instrument der Staatsführung in Top-down-Richtung, gewissermaßen Transmissionsriemen.24 In unserem Zusammenhang muss hier danach gefragt werden, zu welchem Zweck und für welche Teile der Bevölkerung die FDP als Partei im Untersuchungszeitraum die Rolle des Instruments der Machtausübung übernommen hat, ob und wann sie aber auch zur Popularisierung bestimmter Strategien und Taktiken von Regierungen eingesetzt worden sei, die FDP-Minister einschlossen.

Parteien sind nach Steffanis vierten Analysefeld im doppelten Sinne als „Interessengruppen“ zu verstehen. Zum einen als Gruppen, die an ihrem politischen Überleben, Erfolg und Ansehen interessiert sind. Zum anderen als „Vehikel“ für die in ihnen oder durch sie Tätigen. Hierin liegen „äußerst wichtige Sachverhalte und Problemfelder vorfindbarer Parteienrealität“.25 In diesem Bereich der Parteienanalyse stellt sich also die Frage nach den handelnden Personen und Gruppen in der FDP und deren Ziele und Interessen. Wer hatte die Macht in der Partei und welche Interessen verfolgten die jeweils Mächtigen? Wann standen europapolitische „Inhalte“, Programmpunkte, mit ‚macht‘- oder personalpolitischem Kalkül in Einklang oder nicht? Wann wurde die Programmatik nach solchen Aspekten ausgerichtet? Welche Gruppen und Personen in der Partei vertraten die Interessen welcher Wähler- und Bevölkerungsgruppen und warum? Bei der Untersuchung dieser Fragen wird ein besonderes Augenmerk darauf liegen, ob eine Änderung der Interessengruppe innerhalb und relevanter Interessengruppen außerhalb der FDP auch Änderungen für die Europapolitik der Partei bedeutete.

Bei der Analyse der Europapolitik der FDP müssen die verschiedenen Ebenen des Handelns und Agierens der Partei stets mit berücksichtigt werden. Hier kann – gewiss vereinfachend – ein Dreietagenmodell dienlich sein, in „Bottom-up-Richtung: die Gesellschaft – die „politische Bühne“, der „Ring“, in dem politische Akteure (Gruppen und Gruppierungen aller Art) ihre Kräfte messen, – Staat(sapparat); Überschneidungsbereiche dürfen nicht ganz aus dem Auge verloren werden. Um auf einer der beiden möglichen Seiten anzufangen, kann zunächst der Aktionsbereich des Staatsapparates betrachtet werden, inwieweit die Partei also (von der „politischen Bühne“ her) in der Lage war, sich und ihre Ziele innerhalb der Regierung oder anderen zentralen Verfassungsorganen durchzusetzen. Des weiteren gerät der Aktions-, ja Kampfbereich des politischen Systems in der Bundesrepublik ins Blickfeld, in dem sich die FDP profilieren und behaupten musste, und schließlich das „soziale Gemeinwesen“ also ← 30 | 31 → die Bevölkerung, mit der die FDP im Dialog und im Werben um Zustimmung korrespondierte und aus welcher heraus sich das Führungspersonal der Partei auch rekrutierte. Im Laufe der Arbeit wird vor diesem Hintergrund immer wieder gefragt, welche Rolle die FDP in bestimmten Situationen auf einer bestimmten „Etage“ hinsichtlich ihrer Europapolitik vorzüglich eingenommen habe.

Das Steffani-Modell lässt sich für alle mit der Parteienforschung zusammenhängenden Fragen nutzen, wenn es entsprechend dem Ziel der Untersuchung modifiziert wird26. In der Substanz bleibt das Modell dabei erhalten. Auch für die Erforschung der Programmatik einer Partei kann hier Erkenntnisgewinn erzielt werden. Zunächst können wir die vier Analysesektoren, die wir uns der Einfachheit halber horizontal, nebeneinander angeordnet vorstellen (wenn sie ihrer jeweiligen Bedeutung in ausgewählten Zusammenhängen gemäß auch vielfältig hierarchisierbar sind), mit den drei Ebenen vertikal unterlegen, auf denen politische Aktivitäten sich modellhaft abspielen. Hier werden erstens die staatliche Ebene, zweitens die Ebene der politischen „Arena“ oder auch „Bühne“ unterschieden, wo die nichtstaatlichen, halbstaatlichen Gruppierungen aufeinandertreffen (Parteien, Verbände), schließlich die gesellschaftliche Basisebene der Bevölkerung, die alle politisch vollberechtigten Staatsangehörigen einschließt.

Parteien können in diesem Sinne als soziale Systeme verstanden werden. Systeme kennzeichnen sich durch Struktur, Funktion und Funktionieren sowie durch ihr Verhalten (gegenüber Herausforderungen). Alle drei Aspekte sind für die Parteienforschung insgesamt, für die Rekonstruktion, Analyse und Bewertung ihrer programmatischen Entwicklung im besonderen, von Bedeutung. Hier soll aber der Aspekt „Funktion/Funktionieren“ (Funktionsweise) als zentral herausgegriffen werden, die beiden anderen Aspekte dahinter zurücktreten - nicht zuletzt deswegen, weil hier vor allem eine historische, keine politologische Arbeit vorgelegt wird. Historie kommt freilich ohne sozialwissenschaftliche Modellbildung nicht aus.

Die „Funktion“ beschreibt einen Sollzustand der „Arbeitsweise“ des betreffenden Systems, „Funktionieren“ den demgegenüber mehr oder minder defizitären Istzustand. Der Aspekt „Funktion - Funktionieren“ kann auf den definierten Aktionsbereich „Programmatik“ zugespitzt werden. Dies wird im folgenden graphisch und tabellarisch skizziert. Wir gehen die Steffani’schen Analysebereiche der Reihe nach durch und leiten aus diesen Skizzen einen Katalog von Fragen ab, der in unserer Arbeit über die Europa-Programmatik der FDP der Nachkriegszeit teils implizit, teils explizit behandelt werden wird. ← 31 | 32 →

Analysebereich 1.)

Illustration
Analysebereich 1.)
Parteien als Gruppierung politischer Kräfte
und Träger programmatischer Forderungen
Tätigkeitsebene Funktion
Tätigkeitsbeschreibung - modellhaft - eher vorschreibend-apologetisch(a):
Parteien als gemeinnützige Tendenz-Vereinigungen
Funktionieren
Tätigkeitsbeschreibung - modellhaft - eher bechreibend-kritisch (k):
Parteien als politische Unternehmen
1.1 – Staat 1.1a
Parteien bündeln und entwickeln politische Kräfte und programmatische Forderungen und lassen sie dann in die staatliche Willensbildung und Machtausübung einfließen
1.1k
Parteien entern den Staat(sapparat), um ihn für ihre Personen und Programme zu instrumentalisieren ← 32 | 33 →
1.2 - politische Arena 1.2a
Parteien stellen ihre Kräfte und Forderungen im Wettbewerb gegeneinander und ringen um Dominanz - direkt hier auf dieser mittleren Ebene, indirekt auf den beiden Ebenen darunter und darüber
1.2k
Parteien bietzen ihre Kräfte und Programme auf, um teils echte, teils Schau-Kämpfe zu veranstalten, bilden - wie Wirtschaftsunternehmen - Konzerne und Kartelle
1.3 - Bevölkerung (Inkl. Demos) 1.3a
Parteien beziehen Kräfte und Forderungen aus der Bevölkerung und transferieren sie in Bottom-up-Richtung
1.3k
Parteien ‚verkaufen‘ ihre Personen und Programme gegenüber Teilen der Bevölkerung (mit mehr oder weniger ‚Verbraucherfreundlichkeit) und erwerben deren Zustimmung

Erkenntnisleitende Fragestellungen in diesem Analysebereich sind:

Warum, mit welcher Intention, auf welche Weise hat die FDP europapolitische Akteure auf sich aufmerksam gemacht, an sich herangezogen, an ihrer Organisation mitgewirkt und teils allein, teils mit diesen um sich gescharten Akteuren europapolitische Programme entwickelt und in die politischen Auseinandersetzungen eingebracht? Gerade auch unter diesem ersten Aspekt des Analyserasters, worin ausdrücklich „programmatische Forderungen“ genannt werden, gilt es wesentlich, die beiden prinzipiell möglichen Richtungen der politischen Willensbildung in einer Gesellschaft zu berücksichtigen, die „Bottom-up-Richtung“ und die „Top-down-Richtung“. Wir gehen hier die drei Ebenen der politischen Willensbildung in „Bottom-up-Richtung“ durch:

1.3 Welche Kräfte wurden gruppiert, wessen im weitesten Sinne programmatische Vorstellungen von einem befriedeten Europa trug die FDP mit, transportierte sie in die staatliche Sphäre hinein?

1.2 Mit welchen konkurrierenden Konzeptionen setzte sich die FDP auf der politischen „Bühne“ auseinander? Mit welchen Forderungen versuchte sie hier, politische „Punkte“ zu machen, zumindest keine Punkte zu verlieren?

1.1 Auf welche staatlichen Organe und Entscheidungsträger versuchte die FDP einzuwirken, welche einschlägigen Positionen wollte sie selbst besetzen, wo gelang ihr das?

Stets gilt die Frage, welche der drei Ebenen wohl die wichtigste für die FDP dargestellt hat. War es ihr vor allem um die Meinungsbildung an der gesellschaftlichen ← 33 | 34 → Basis zu tun und um den Transport dort vorfindlicher Konzepte? Legte sie den Hauptakzent auf die Auseinandersetzung mit dem parteipolitisch organisierten Gegner in der „Arena“, auf der „Bühne“? Oder war sie eher staatspolitisch motiviert, nämlich darauf aus, die staatlichen Organe europapolitisch zu füttern, zu versorgen, sich selbst, die FDP auf dieser staatlichen Ebene präsent zu halten? 

Analysebereich 2.)

Illustration
Analysebereich 2.)
Parteien als Vermittler demokratischer Legitimation
Tätigkeitsebene Funktion
Tätigkeitsbeschreibung - modellhaft - - eher vorschreibend-apologetisch (a):
Parteien als gemeinnützige Tendenz-Vereinigungen
Funktionieren
Tätigkeitsbeschreibung - modellhaft - eher bechreibend-kritisch (k):
Parteien als politische Unternehmen
2.1 – Staat 2.1a
Parteien stärken den Staatsapparat durch demokratische Legitimation
2.1k
Parteien stärken durch den Staatsapparat sich selbst, die sie diesen Staat weitgehend besetzt halten ← 34 | 35 →
2.2 - politische Arena 2.2a
Parteien wetteifern miteinander darum, wie sie die Basislegitimation für das politische System (der Meinungsbildung) und für den Staat fruchtbar machen
2.2k
Parteien schaffen durch ihre teils echten, teils vorgeblichen Auseinandersetzungen den Eindruck ständigen demokratischen Wettbewerbs, dessen Gewinner durch das Verfahren legitimiert seien
2.3 - Bevölkerung (inkl. Demos) 2.3a
Parteien transportieren die an der Basis errungene Legitimation nach oben hin und lassen die politische Arena mit ihren Spielregeln und den Staat davon profitieren, binden sie aber auch daran
2.3k
Parteien legitimieren den Staat und die politische Arena gegenüber der Bevölkerung, nicht zuletzt durch den Hinweis, daß die Bevölkerung zur Partizipation eingeladen sei

Erkenntnisleitende Fragestellungen in diesem Analysebereich sind:

Die grundsätzliche Frage lautet hier, wer wem wofür bei wem zu Legitimation verhelfen wolle? Es sind Legitimierer und Legitimierte zu unterscheiden, ferner die Akteure, die den Legitimierungsprozess in Gang bringen, moderieren, beeinflussen, als beendet betrachten, schließlich „die Sache selbst“, also hier der jeweilige europapolitische Programmpunkt.

Wurden europapolitische Programme von der FDP konzipiert und vertreten, um

2.3 der Bevölkerung in Deutschland, aber auch im angrenzenden Europa bei den jeweiligen Staaten (Staatsapparaten) zu mehr Gewicht zu verhelfen, zu mehr Partizipation, mehr Gehör? Ging es um ein „Europa der Bürger“?

2.2 der FDP auf der politischen „Bühne“ zu mehr Standing zu verhelfen, indem vorhandene europapolitische Potentiale genutzt oder solche Potentiale neu aufgebaut wurden?

2.1. staatlichen und überstaatlichen Institutionen ein Mehr an Legitimation gegenüber der Bevölkerung zu verschaffen? ← 35 | 36 →

Details

Seiten
618
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653036633
ISBN (ePUB)
9783653988512
ISBN (MOBI)
9783653988505
ISBN (Hardcover)
9783631648018
DOI
10.3726/978-3-653-03663-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Juli)
Schlagworte
Liberalismus Kalter Krieg Deutsche Teilung Freie Demokratische Partei Europäische Integration
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 618 S., 1 s/w Abb.

Biographische Angaben

Andreas Moring (Autor:in)

Andreas Moring studierte Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft und Geschichte in Hamburg. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen historischen Arbeit waren Europäische Integrationsgeschichte und Geschichte des Liberalismus. Andreas Moring ist Unternehmer, Publizist und Lehrbeauftragter.

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Titel: Liberale Europapolitik 1949–1989
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