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Deutsche und polnische Migrationserfahrungen

Vergangenheit und Gegenwart

von Dorota Praszalowicz (Band-Herausgeber:in) Anna Sosna-Schubert (Band-Herausgeber:in)
©2014 Sammelband 438 Seiten

Zusammenfassung

Der Band schildert Geschichte und Gegenwart der deutsch-polnischen Beziehungen aus der Perspektive der gemeinsamen Migrationserfahrungen. Im ersten Teil widmen sich die Beiträge der Beschreibung der unterschiedlichen Migrationsformen auf dem Alten Kontinent und in Übersee. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Koexistenz der deutschen und polnischen Migranten in den USA, Kanada, Australien und Kasachstan. Die Beiträge veranschaulichen das Weiterbestehen der Nachbarschaft an den neuen Niederlassungsorten und liefern Erklärungsmuster für bestimmte Migrationsstrategien. Der zweite Teil widmet sich der gegenwärtigen Migration der Polen nach Deutschland und ihrer Rückwanderungen. Diese Migrationsbewegungen werden unter wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aspekten betrachtet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Zur Einführung: Die verflochtenen Migrationswege von Deutschen und Polen
  • Literaturverzeichnis
  • Erster Teil: Migration und Nachbarschaft. Deutsche und Polen auf dem Alten Kontinent und in Übersee
  • Ein- und Auswanderung der Deutschen in Galizien mit besonderer Berücksichtigung der Auswanderungsbewegung unter den evangelischen Deutschen Anfang des 20. Jahrhunderts
  • Einwanderung nach Galizien
  • Wandel der politischen Lage in Galizien
  • Auswanderungsbewegungen unter den evangelischen Deutschen Anfang des 20. Jahrhunderts
  • Die Auswanderungsbewegung nach Posen im Spiegel des „Evangelischen Gemeindeblatts für Galizien und die Bukowina“
  • Literaturverzeichnis
  • Eine longue durée polnischer Ethnizität? Polen in Mitteldeutschland von 1880 bis zur Gegenwart
  • Literaturverzeichnis
  • Von der Sachsengängerei bis Uecker-Randow. Polnische Migranten im deutsch-polnischen Grenzgebiet
  • Literaturverzeichnis
  • The Borders of Integration. Polish Migrants in Germany and the United States, 1870-1924
  • Introduction
  • Migration and Citizenship Studies
  • Areas of Investigation
  • The Political, Social and Cultural Milieu
  • Ethnic Community Mobilization and Development
  • Findings and Conclusions
  • References
  • Deutsche und polnische Immigranten in den Vereinigten Staaten von Amerika – ausgewählte Beispiele wechselseitiger Beziehungen
  • Einleitung
  • Entwicklungen in den wechselseitigen Beziehungen
  • Gemeinsamer Anfang
  • Milwaukee, Wisconsin
  • Lower East Side
  • Der Erste Weltkrieg
  • Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis
  • Chicagos Nordwestseite. Deutsche Nachbarschaft und ethnischer Wandel von 1871 bis zum 1. Weltkrieg
  • Nachbarschaft als Untersuchungsgegenstand
  • Bevölkerungsstruktur
  • Institutionen, Vereine und Alltagskultur
  • Lokaler Bezug des Vereinswesens
  • Öffentlicher Raum und Geselligkeit
  • Alternative kulturelle Systeme
  • Veränderung und Auflösung
  • Literaturverzeichnis
  • Geschichte der polnischen und deutschen Einwanderung nach Kanada und die gegenseitigen Beziehungen von polnischen und deutschen Katholiken in den kanadischen Provinzen
  • Literaturverzeichnis
  • Nachbarn in der Heimat – Nachbarn in Übersee. Barossa Valley und Clare Valley in Südaustralien als Ansiedlungsorte von Deutschen und Polen aus den drei preußischen Provinzen Brandenburg – Schlesien – Posen im 19. Jahrhundert
  • Der zeitliche und räumliche Rahmen
  • Nationalität
  • Gründe für die Auswanderung
  • Die ersten Auswanderergruppen
  • Religion
  • Das Schulwesen
  • Sprache
  • Kultur
  • Kulinaria
  • Weinbau
  • Nationale Identität
  • Politisches Umfeld
  • Die Gegenwart
  • Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis
  • Deutsche Spätaussiedler und polnische Repatrianten – „Alte Nachbarn“ aus Kasachstan. Ein Beispiel der deutsch-polnischen Koexistenz in der Diaspora
  • Einleitung
  • Theoretischer Hintergrund
  • Deutsche und Polen in Ukrainisch-Wolhynien
  • Von der Autonomie zu den Deportationen
  • Sowjetische Nationalitätenpolitik und ethnische Zugehörigkeit
  • Deutsche und Polen in der kasachischen Verbannung – Solidarität und/oder Grenzziehung?
  • Gründung der deutsch-polnischen Siedlungen in Nordkasachstan
  • Gemeinsame Deportationserfahrung und interethnische Beziehungen
  • Die Nachkriegszeit: Ethnizität versus sowjetische Bürgerschaft
  • Wiederentdeckung des Ethnischen?
  • Die Rückwanderungen nach dem Zerfall der Sowjetunion
  • Umfang der Rückwanderung
  • Auswanderungsgründe und Kettenmigration über ethnische Grenzen hinweg
  • Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • Zweiter Teil: Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte der Arbeitswanderung. Strategien der polnischen Migranten in Deutschland
  • Transethnische Netzwerke. Eine Fallstudie am Beispiel der polnischen Schmuggler und der illegalen Einwanderer in Westberlin vor dem Fall des Eisernen Vorhangs
  • Theorie: Die transnationalen und die transethnischen Netzwerke
  • Empirische Grundlagen
  • Wirtschaftliche und soziale Lage
  • Ethnographie
  • Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • Persistence over Time and across Space. The Evolution and Sustainability of Seasonal Migration from Poland to Germany
  • Introduction
  • The onset and the building up of a tradition: a brief overview of seasonal migration from Poland to Germany prior to WWII
  • Seasonal migration from Poland to Germany at the turn of the 19th and 20th centuries (1890-1918)
  • The inter-war period (1918–1939)
  • WWII and its immediate aftermath
  • The power of “established” tradition: seasonal migration from Poland to Germany at the turn of the 20th and 21st centuries
  • Concluding reflections
  • References
  • Appendix maps
  • Die Lebenswelt der polnischen Saisonmigranten in Deutschland aus der Perspektive der teilnehmenden verdeckten Beobachtung
  • Einführung
  • Saisonale Arbeitswanderung
  • Mit den Augen des Migranten – der Alltag „na saksach“
  • Arbeit
  • Motivation
  • Formen der Kontrolle
  • Freizeitgestaltung
  • Beziehungen in und nach der Arbeit
  • Arbeitsorganisation und die Beziehungen zwischen den Arbeitnehmern
  • Hierarchie
  • Beziehungen und Kontakte zu Angehörigen in Polen
  • Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis
  • Emanzipatorische Dimension der Migrationserfahrung. Fallstudien von Polinnen im deutschen Haushaltssektor
  • Literaturverzeichnis
  • Migration von Polen nach Deutschland im Spiegel transnationaler Theorieansätze. Eine Fallstudie aus Leipzig
  • Einleitung
  • Die transnationale Perspektive in der Migrationsforschung
  • Polnische Migranten in Leipzig – eine Einführung in das Untersuchungsfeld
  • Transnationale Verhaltensweisen polnischer Migranten in Leipzig
  • Transnationale Mobilität
  • Sprache als Indikator für Transkulturalität
  • Multiple räumliche Bindungen als Zeichen für Transidentität
  • Veränderte Wahrnehmungsmuster
  • Zusammenfassung und Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • Die Ansiedlung der Polen im Landkreis Uecker-Randow als eine neue Form der Migration
  • Einleitung
  • Der Landkreis Uecker-Randow, Polen und die polnischen Bürger
  • Das politische und bürgerliche Engagement der Polen im Landkreis Uecker-Randow
  • Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis
  • Schwer fassbare Materie. Die Entstehung eines deutsch-polnischen Grenzgebiets
  • Einleitung
  • Zur Terminologie
  • Das deutsch-polnische Grenzgebiet in der Nachkriegszeit
  • Stettin in dem sich neu etablierenden Grenzgebiet
  • Rezeption des deutschen Kulturguts
  • Das Dorf als Heimat im sich herausbildenden deutsch-polnischen Grenzgebiet
  • Stettin als eine Stadt, die die Entstehung eines deutsch-polnischen Grenzgebiets beeinflusst
  • Literaturverzeichnis
  • Die Veränderungen der Emigration aus Oberschlesien in die Staaten Westeuropas. Von der Migration der schlesischen Deutschen bis zur Migration der Polen nach dem EU-Beitritt
  • Einführung
  • Das Problem der Differenzierung von schlesischer und polnischer Bevölkerung in der Sozialforschung zu Schlesien
  • Die Voraussetzungen für die dauerhafte Auswanderung der autochthonen Bevölkerung Oberschlesiens nach Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg
  • Der Verlauf und Charakter der Auswanderung aus Oberschlesien nach Deutschland in der Nachkriegszeit
  • Die Schlesier und die Nicht-Schlesier – unterschiedliche Migrationsmuster im Oppelner Land
  • Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis
  • Von Niederschlesien nach Deutschland und zurück. Ergebnisse aus dem Projekt „Richtung Niederschlesien“
  • Umfang und Richtung der Migration aus der Woiwodschaft Niederschlesien
  • Soziodemographische Merkmale der Migranten
  • Die Bilanz der Hin- und Rückfahrten
  • Migrationsstrategien
  • Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis
  • Remigrationsprozesse nach Polen seit 1989. Struktur, Veränderungen und politische Implikationen
  • Einleitung
  • (Re-)Migration von Hochqualifizierten. Theoretischer Hintergrund
  • Polnische Remigrationsprozesse
  • Remigration nach Polen 1989 bis 2002
  • Sozio-demographische Struktur der hochqualifizierten Remigranten
  • Motive für die Rückkehr nach Polen
  • Wahl des Zielortes in Polen
  • Positionierung der hochqualifizierten Remigranten auf dem polnischen Arbeitsmarkt
  • Einfluss hochqualifizierter Remigranten auf die wirtschaftliche Entwicklung
  • Remigrationsprozeese nach Polen nach 2004
  • Schlussfolgerungen
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Zur Einführung: Die verflochtenen Migrationswege von Deutschen und Polen

Dorota Praszałowicz

Jagiellonen-Universität Krakau

Anna Sosna-Schubert

Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), Universität Osnabrück

Für die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen spielen Probleme der Migration eine große Rolle. Der vorliegende Band enthält Beiträge zum Verlauf dieser Prozesse in verschiedenen Epochen und Regionen und schildert Schicksale unterschiedlicher Migrantengruppen. Die breite Streuung der Themen soll nicht darüber hinweg täuschen, dass sie alle dennoch einen engen Zusammenhang aufweisen. Zusammengestellt lassen sie uns erkennen, wie verflochten die Wanderungsbewegungen unterschiedlicher Gruppen miteinander waren. Dies wiederum öffnet uns die Augen für die Erkenntnis, dass Prozesse, die scheinbar nichts miteinander verbindet, doch gemeinsame Muster aufweisen. Die vorliegenden Beiträge schaffen eine Grundlage für erste Verallgemeinerungen und Erklärungsmuster. Allein die Betrachtung der Geschichte polnischer und deutscher Migranten führt zu dem Schluss, dass jede Migration nach einem bestimmten Muster verläuft, und dies betrifft sowohl die Migration innerhalb unserer Region als auch die Auswanderung in entfernte Weltteile, was als Tatsache in der Forschung bisher nicht hinreichend beachtet wurde.

Die gleich im ersten Satz dieses Vorworts enthaltene Feststellung wird wohl nicht von allen als offensichtlich akzeptiert. Die Migrationsbewegungen werden erst seit kurzem als einer der wichtigsten gesellschaftlichen Prozesse angesehen. Früher behandelte man sie eher als eine Rand-, wenn nicht gar Ausnahmeerscheinung. Heute steht zweifellos fest, dass Migrationen als durchaus normale Phänomene gewertet werden, die in nicht unbeträchtlichem Maße Richtung und Tempo gesellschaftlicher Wandlungsprozesse beeinflussen. Deshalb sind sie auch für die Gestaltung der deutsch-polnischen Beziehungen von großer Bedeutung. Es ist an der Zeit, die deutschen und die polnischen Migrationsbewegungen gemeinsam zu erforschen, sie gegenüberzustellen und in einem breiteren Kontext zu betrachten. Die Grundlage dafür, d.h. die vorliegenden Forschungsergebnisse, sind auf der deutschen und auf der polnischen Seite zahlreich und ← 9 | 10 → aussagekräftig genug vorhanden, um komparative Untersuchungen in Angriff zu nehmen. So mag es erstaunen, dass dies bisher nicht geschehen ist.

Der Grund dafür mag darin liegen, dass der traditionelle Ansatz bei der Untersuchung von Migrationsbewegungen oft den Interessen des eigenen Staates untergeordnet war. In der Forschung ging man dann entweder von der Perspektive des Herkunftslandes oder von der des Ziellandes aus. Der Fokus galt also der Region, die vom Auswanderungsfieber erfasst war oder den Schicksalen der Auswanderer im Zielland und deren Beziehungen mit der Bevölkerung vor Ort. Die Forscher richteten ihre Aufmerksamkeit vor allem auf diejenigen Merkmale, die für die Emigranten ihrer eigenen Nationalität charakteristisch waren, und sahen die Emigration als Folge einer jeweils besonderen, zumeist prekären, geschichtlichen Lage.

Dies ist ein ethnozentrischer Ansatz, denn die Aufmerksamkeit der Forscher bei ihren Projekten gilt ausschließlich Migranten einer, und zwar ihrer eigenen Nationalität. Polnische Forscher verfolgen dann nur die Migrantenschicksale der Polen, ohne die einher laufende (oft miteinander verwobene) Geschichte der deutschen, jüdischen, ukrainischen und litauischen Migranten zu beachten. Die allgemein bekannte Auswanderungswelle, Ostflucht genannt, war eine Bewegung, von der alle Nationalitäten, die die östlichen Provinzen Preußens, das deutsch-polnische Grenzland, bewohnten, erfasst waren. Zahlreiche deutsche zeitgenössische Politiker und Wissenschaftlicher, u.a. Max Weber, vertraten den Standpunkt, dass die deutsche Ostflucht Folge der Migration slawischer Landarbeiter gewesen sei, die die Löhne drückten.1 Die polnische Seite interpretierte die Ostflucht der Polen (denn auch sie waren von dieser Auswanderungswelle ergriffen worden) als Folge der preußischen Germanisierungspolitik. Beide Deutungen lassen völlig unbeachtet die Auswirkung der Modernisierungsprozesse, in deren Folge das wirtschaftliche und gesellschaftliche Umfeld in der Provinz weitgehenden Wandlungen unterlag, die dazu führten, dass die Einkommensquelle ganzer Bevölkerungsgruppen wegrationalisiert wurde und die Menschen sich gezwungen sahen, sich in der Fremde eine neue Arbeit zu suchen. Auch wenn in manchen Untersuchungen auf diesen Modernisierungsschub hingewiesen wird, kommt diese Problematik nur am Rande zur Sprache.

An diesem Beispiel wird eines klar: Richtet man den Blick allein auf eine Migrantengruppe, verliert man allgemeine Migrationsmuster aus dem Blickfeld, die für eine Zeitperiode charakteristisch sind. Darüber hinaus neigt man dann dazu, die zwischen den einzelnen Gruppen vorkommenden Spannungen in ihrer Bedeutung und Auswirkung überzubewerten. Die These, dass eine Gruppe die ← 10 | 11 → andere in die Emigration trieb, dass z. B. die Deutschen die Polen oder wiederum die Deutschen und die Polen die Juden zur Emigration veranlasst hätten, wird gern ohne Nachweis geglaubt. Will man aber der Tatsache gerecht werden, dass diese Gruppen oft zusammen in die Fremde zogen, muss man dann auch die Bewertung der gegenseitigen Relationen in der Emigration revidieren, weil sich zeigt, dass Zusammenarbeit und Erfahrungsaustausch den Migranten (überlebens)wichtiger (oder wenigsten gleich wichtig) waren als Pflege der Animositäten. Diese Feststellung findet sich bereits in einigen Beiträgen des vorliegenden Bandes im Rückblick auf die Geschichte, diese Erkenntnis wird allerdings ergänzt um ganz neue Migrationserfahrungen aus den Grenzgebieten. Diese Beispiele widerlegen somit jegliches Klischee von der deutsch-polnischen Feindschaft.

Die obigen Bemerkungen über die traditionelle, nationale Haltung,2 die oft in einer feindlichen Einstellung gegenüber den unmittelbaren Nachbarn gipfeln sollte, scheint in der heutigen Zeit, in der die deutsch-polnischen Beziehungen sich sehr freundschaftlich gestalten, vollkommen überflüssig zu sein. Doch so manche populistische Äußerung von Politikern, durch die böse Geister geweckt werden können, verpflichtet die Forscher dazu, stets wahrheitsgemäß darauf hinzuweisen, wie vielschichtig die Relationen zwischen den Migrantengruppen waren und sind. Dies ist umso wichtiger, als diese Erkenntnis gar nicht zum Allgemeingut gehört und sogar von Forschern, die schon einmal darauf gestoßen sind, wieder vernachlässigt wird. Im kollektiven Gedächtnis3 der Deutschen und der Polen prägen sich vor allem Konfliktsituationen ein. Auch heute neigt man bei der „erfundenen Tradition“4 dazu, vor allem Antagonismen hervorzuheben, indem man bevorzugt bekannte Schlachten nachstellt (beispielsweise Tannenberg 1410 oder Sabotageaktionen der Polnischen Heimatarmee im Zweiten Weltkrieg), statt auf Fälle langer und guter Zusammenarbeit zurückzugreifen. Es ist außerordentlich wichtig, die deutsch-polnischen Beziehungen in all ihren Facetten zu schildern und auch auf jene Aspekte hinzuweisen, die wenig oder gar nicht bekannt sind.

Wie schon eingangs erwähnt, gilt unser Interesse verschiedenen Zeitperioden, Regionen und Migrationsströmen. In dem vorliegenden Band finden sich Beiträge zu Migrationsbewegungen im Grenzland und solchen nach Übersee, um damit zwei extreme Eckpunkte zu setzen, zwischen denen sich das Untersuchungsfeld erstreckt. Mitberücksichtigt wurde die Niederlassung der deutschen Siedler im Osten und im Süden Europas und die Migrationswege der Polen nach ← 11 | 12 → Deutschland. In dem letzteren Fall wird der Schwerpunkt auf die Spezifik der Emigration aus den früher deutschen Gebieten gelegt, die nach dem Zweiten Weltkrieg Polen zugefallen sind. Verzichtet wurde auf die am besten erforschten Bereiche wie die Auswanderung der Polen in das Ruhrgebiet oder nach Berlin.

Einen ganz neuen Ansatz stellt der Versuch dar, die gemeinsame Geschichte der Deutschen und der Polen aus Wolhynien zu schildern. Zusammen wurden sie noch vor dem Zweiten Weltkrieg in die kasachischen Gebiete vertrieben und bildeten dort bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion eine neue deutschpolnische Diaspora. Um den Hintergrund dieser Prozesse zu beleuchten, wird an die Ansiedlung der Deutschen in Ost- und Südeuropa erinnert. Diese Problematik wurde weitestgehend in der wissenschaftlichen Reihe Deutsche Geschichte im Osten Europas aufgearbeitet. Durch unser Vorhaben arbeiten wir der Erscheinung eines nächsten Bandes dieser Reihe entgegen, der den Deutschen im österreichischen Galizien gewidmet sein wird.

Erwähnt wurde bereits, dass auch das gemeinsame Schicksal der deutschen und der polnischen Migranten in Übersee – in Australien, Kanada und den USA – also in Ländern, in denen Vertreter beider Nationen zusammen ankamen und nebeneinander gesiedelt haben, aufgezeigt wird.

Es werden die bereits erzielten Untersuchungsergebnisse gewürdigt und hiermit um neue Informationen zur Geschichte der Auswanderung der Polen nach Deutschland in bisher nicht erforschte Gebiete (Bitterfeld) ergänzt. Bei der Betrachtung der neuesten Migrationen kommen neue Inhalte zur Sprache, wie z.B. das mitunter halblegale Verhalten der Migranten, also Fragen, die bisher nicht aufgegriffen wurden.

In diesem Band liegen Beiträge vor, die einen Ertrag der in Krakau an der Polnischen Akademie der Gelehrsamkeit (Polska Akademia Umiejętności) vom 6.-7. Dezember 2010 veranstalteten deutsch-polnischen Tagung zum Thema Deutschpolnische Migrationserfahrungen. Vergangenheit und Gegenwart darstellen. An der Organisation dieser Tagung beteiligten sich die Kommission der Polnischen Akademie der Gelehrsamkeit zu Untersuchungen der polnischen Diaspora, das Komitee für Migrations- und Poloniaforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften, das Institut für Amerikanistik und polnische Diaspora der Jagiellonen-Universität sowie das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Die Tagung kam zustande dank der großzügigen Förderung seitens der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung, der Fritz Thyssen-Stiftung, der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und des Goethe-Instituts. Das Erscheinen des vorliegenden Bandes ← 12 | 13 → haben die Deutsch-Polnische Wissenschaftsstiftung, die Fritz Thyssen-Stiftung und die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit gefördert.

Mit dieser Tagung soll auch Professor Andrzej Brożeks (1933-1994) gedacht werden. Er war ein namhafter Kenner der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und ein Experte für die Geschichte der internationalen Migrationsbewegungen und ethnische Fragen.5 In seinen Arbeiten zur polnischen Emigration nach Übersee machte er als erster darauf aufmerksam, wie eng miteinander verwoben die Schicksale deutscher und polnischer Auswanderer sind.6 Er verfasste Arbeiten u.a. über die erste polnische Siedlung in den USA, die von Emigranten aus dem Oppelner Schlesien gegründet wurde. Diese Menschen wurden von Pater Leopold Moczygęba zur Auswanderung angeregt, der selbst ein Schlesier aus dem Dorf Płużnica war, der in den Franziskanerorden eintrat und zur Betreuung deutscher Siedler in Texas abgeordnet wurde. Seine Briefe aus Amerika gaben seinen Brüdern und einigen anderen Familien in Płużnica den Anstoß, nach Texas auszuwandern, wo sie 1854 die Siedlung Jungfrau Maria gründeten. Nachfahren dieser Siedler bekennen sich heute noch zum Polentum und sprechen einen schlesischen Dialekt aus dem 19. Jahrhundert Pater Leopold Moczygęba wird sowohl von den Deutschen als auch von den Polen als Held gefeiert, dabei hielt er sich einfach für einen Schlesier im deutschen Orden.7 Allein seine Geschichte zeigt, dass die Massenemigration der Polen nach Übersee von der deutschen Seite angestoßen wurde, und hat in diesem Sinne symbolischen Charakter.

Literaturverzeichnis

Baker, Thomas Lindsay: The First Polish-Americans: Silesian Settlements in Texas, Texas 1996.

Brożek, Andrzej: Ślązacy w Teksasie. Relacja o najstarszych osadach polskich w Ameryce, Warszawa 1972.

Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin 1966.

Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983.

Janion, Maria: Niesamowita słowiańszczyzna. Fantazmaty literatury, Kraków 2006.← 13 | 14 →

Walaszek, Adam: Erinnerungen an A. Brożek, in: Thomas Gladsky (Hg.), Ethnicity. Culture. City. Polish-Americans in the USA. Cultural Aspects of Urban Life, 1870-1950 in Comparative Perspective, Warszawa 1998.

Weber, Max: Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland 1892, in: Max Weber, Gesamtausgabe, Teil I, Bd. 3, Tübingen 1984, S. 495-592.

1 Max Weber, Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland 1892, in: Max Weber, Gesamtausgabe, Teil I, Bd. 3, Tübingen 1984, S. 495-592.

2 Maria Janion, Niesamowita słowiańszczyzna. Fantazmaty literatury, Kraków 2006.

3 Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin 1966.

4 Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983.

5 Adam Walaszek, Erinnerungen an A. Brożek, in: Thomas Gladsky (Hg.), Ethnicity, Culture, City. Polish-Americans in the USA. Cultural Aspects of Urban Life 1870-1950 in Comparative Perspective, Warszawa 1998.

6 Andrzej Brożek, Ślązacy w Teksasie. Relacja o najstarszych osadach polskich w Ameryce, Warszawa 1972.

7 Thomas Lindsay Baker, The First Polish-Americans. Silesian Settlements in Texas, Texas 1996; Brożek, Ślązacy w Teksasie.

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Erster Teil
Migration und Nachbarschaft.
Deutsche und Polen auf dem
Alten Kontinent und in Übersee

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Ein- und Auswanderung der Deutschen in Galizien mit besonderer Berücksichtigung der Auswanderungsbewegung unter den evangelischen Deutschen Anfang des 20. Jahrhunderts

Isabel Röskau-Rydel

Pädagogische Universität Krakau

Einwanderung nach Galizien

Nach der Annektierung der südpolnischen Gebiete durch Österreich im Jahre 1772 verfolgten Maria Theresia und Joseph II. in dem neuen Kronland Galizien und Lodomerien eine gezielte Ansiedlung von Unternehmern, Handwerkern und Bauern aus dem Südwesten Deutschlands, deren Bedingungen in den Ansiedlungspatenten von 1774 und 1781 festgelegt wurden. In dem am 1. Oktober 1774 von Maria Theresia ausgestellten Patent wurden zunächst nur katholische Kaufleute, Handwerker und Unternehmer im In- und Ausland zu einer Ansiedlung nach Galizien eingeladen. Evangelische Ansiedler erhielten dagegen zunächst nur eine eingeschränkte Niederlassungserlaubnis für vier galizische Städte, nämlich für Lemberg, Jaroslau (Jarosław), Zamość (das damals zu Galizien gehörte) und Zaleszczyki. Gemäß einem weiteren Patent vom 16. November 1774 durften sie sich dann auch in Kazimierz bei Krakau und in Brody niederlassen und erhielten darüber hinaus das Recht, Gottesdienste in privaten Gebetshäusern abzuhalten. Aber erst das am 17. September 1781 von Kaiser Joseph II. ausgestellte Ansiedlungspatent gewährte den evangelischen Ansiedlern umfassendere Begünstigungen sowie ein Niederlassungsrecht nicht nur in den galizischen Städten, sondern auch auf dem Lande. Im Toleranzpatent vom 10. November 1781 wurden dann schließlich auch noch die den Evangelischen Augsburgischer und Helvetischer Konfession sowie den nichtunierten Ruthenen am 13. Oktober 1781 gewährten zusätzlichen religiösen Freiheiten veröffentlicht.1

Nach entsprechenden Werbeaktionen österreichischer Agenten folgten seit 1782 zahlreiche Bauern sowie auch Handwerker und Gewerbetreibende aus Südwestdeutschland den Aufrufen zur Ansiedlung in Galizien. Die Mehrzahl der deutschen Kolonien entstanden in Ostgalizien in der Umgebung von Lemberg, ← 17 | 18 → Sambor, Drohobycz, Stryj, Dolina, Stanislau, Kolomea, zwischen Jaroslau und Rawa Ruska sowie zwischen Rawa Ruska und Brody. In Westgalizien kam es insbesondere in der Umgebung von Neu Sandez sowie zwischen Krakau und Tarnów, an der Mündung der Wisłoka in die Weichsel sowie am San an der Grenze zum Kreis Zamość zur Gründung deutscher Kolonien.2

Die deutschen Zuwanderer waren nicht immer zufrieden mit der Lage der ihnen zugewiesenen Kolonien. Die Ansiedlungsbehörden wiesen ihnen nämlich auch Grund und Boden in weit entlegenen Gegenden zu, in denen manchmal nur zwei bis drei Familien angesiedelt wurden. Aufgrund der Schwierigkeiten der ersten Ansiedlungsjahre gab es auch größere Fluktuationen bei den Ansiedlern. Manchen Ansiedlern wurden sogar die ihnen zugeteilten Höfe von den Behörden wieder weggenommen, wenn sie sich nicht als Bauern eigneten, zum anderen Teil zogen die Einwanderer bei Unzufriedenheit mit ihrer Lage weiter in die Bukowina oder nach Russland, wo sie sich bessere Ansiedlungsbedingungen erhofften. Im Laufe der Zeit wurden auch Veränderungen am Patent von 1781 vorgenommen, die 1787 in dem „Hauptnormale über das Ansiedlungswesen“ ihren Ausdruck fanden. So wurde nicht mehr allgemein eine zehnjährige Grundsteuerbefreiung zugesichert, sondern nur noch für Ödland, das erst kultivierbar gemacht werden musste. Für schon kultivierte Grundstücke wurde schließlich nur noch für ein Jahr die Grundsteuerbefreiung gewährt.3

Neben den evangelischen und katholischen Ansiedlern gab es auch noch 28 mennonitische Familien, die sich in zwei eigenen Kolonien (Einsiedel und Falkenstein in Ostgalizien) niederließen. In einem sog. Schutzprivileg vom 30. Juni 1789 befreite Kaiser Joseph II. die galizischen Mennoniten von der Militärpflicht und Eidesleistung, die diese aus religiösen Gründen ablehnten. Eine Ansiedlung weiterer mennonitischer Familien schloss er gleichzeitig aus.4 Trotz ihrer geringen Anzahl zählten die Gutshöfe der Mennoniten später zu den leistungsstärksten landwirtschaftlichen Betrieben in Galizien, da sie das erwirtschaftete Geld immer wieder in den Kauf von Grund und Boden investierten und dadurch ihre Anbauflächen im Verlauf des 19. Jahrhunderts weiter vergrößern konnten. ← 18 | 19 →

Zwischen 1782 und 1805 gelangten vornehmlich aus der Pfalz sowie aus Baden und Württemberg, also aus dem Südwesten Deutschlands, ca. 3.300 Familien nach Galizien, schätzungsweise insgesamt rund 15.000 Einwanderer. Von diesen Familien waren etwa 40% katholisch und 60% evangelisch (lutherisch und reformiert/helvetisch). Bis zur Einstellung des so genannten josephinischen Einrichtungswerks wurden etwa 130 Kolonien in Galizien gegründet.5 Die Anzahl der Deutschen in Galizien, unter denen sich neben den Kolonisten, Handwerker, Kaufleute, Beamte, Lehrer und Professoren befanden, blieb allgemein sehr gering und betrug zwischen 1772 und 1918 lediglich ein bis drei Prozent der Bevölkerung Galiziens.6

Wandel der politischen Lage in Galizien

Durch die Einführung autonomer Verwaltungsstrukturen in Galizien trat in den 1860er Jahren eine einschneidende Zäsur nicht nur für die deutsche Bevölkerung, sondern ebenfalls für die Ruthenen (Ukrainer) und die Juden, ein. Die politischen Zugeständnisse, die die österreichische Regierung nun den Polen machte, fanden schnell eine Umsetzung. 1867 wurde im Kronland Galizien die deutsche Unterrichtssprache durch das Polnische bzw. Ruthenische (Ukrainische) ersetzt, 1869 schließlich das Polnische anstelle des Deutschen zur Amtssprache in Galizien erklärt. Allerdings wurde das Deutsche als Amtssprache beim Verkehr mit den Zentralstellen und den Militärbehörden beibehalten.

Für die ansässige deutsche Bevölkerung, insbesondere für die katholischen und evangelischen Kolonisten, die aufgrund der Abgeschiedenheit der Kolonien häufig die deutsche Kultur und Sprache bewahren hatten können, hieß dies, dass sie nun auf staatliche Unterstützung in der Bildung, Kultur und Wirtschaft verzichten mussten. Zugleich konnten sie nun auch nicht mehr bei den Verwaltungsbehörden eine Wahrung ihrer Interessen erwarten.

Als die Kinder- und Enkelgenerationen der eingewanderten deutschen Kolonisten eigene Familien gründeten, war es für die Eltern und Großeltern aufgrund ihrer angespannten finanziellen Lage nicht immer möglich, neue Landwirtschaften für die nächste Generation zu erwerben. Häufig erlernten daher ← 19 | 20 → immer mehr Söhne und Enkelsöhne, für die der elterliche Hof kein Auskommen bot, ein Handwerk. Eine höhere Schulbildung konnten sich die wenigsten Familien leisten. Sie waren daher auf Stipendien von wohlhabenderen evangelischen Gemeindemitgliedern angewiesen, die den evangelischen Kolonistensöhnen den Besuch eines Gymnasiums und später einer Universität ermöglichten. Zahlreiche Nachkommen der deutschen Kolonisten fanden Ende des 19. Jahrhunderts auch Arbeit bei der Eisenbahn, der Post sowie im Hotel- und Gaststättengewerbe, wo die Kenntnis der deutschen Sprache eine Voraussetzung für eine Anstellung war. Die Mädchen wiederum erhielten meist Anstellungen als Haushaltsgehilfinnen oder Kindermädchen in den Städten. Seit den 1870er Jahren gab es in Galizien nur noch zwei deutschsprachige Gymnasien in Brody (bis 1913) und in Lemberg, wobei vornehmlich das II. Staatsgymnasium in Lemberg von den Kindern der deutschen Kolonisten besucht wurde. Im Anschluss an die Matura nahmen sie dann ein Studium entweder in Lemberg oder an einer deutschsprachigen Universität wie etwa in Czernowitz oder in Wien auf. Manche von ihnen studierten auch am 1867 gegründeten evangelischen Lehrerseminar in Bielitz in Österreichisch-Schlesien, um später als Lehrer eine Anstellung zu finden.

Aufgrund der zunehmenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme in Galizien, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch wiederholte Missernten und den daran anschließenden Cholera- oder Typhusepidemien verschärften, setzte seit den 1880er Jahren eine starke Wanderungs- und Migrationsbewegung unter den Polen, Ruthenen und Juden sowie auch unter den Deutschen in Galizien ein, die seit den 1880er Jahren vornehmlich nach Nordamerika und Kanada auswanderten.7 Schon in den 1860er Jahren hatte es vermehrt Auswanderungen von Galiziendeutschen in die Bukowina, nach Bessarabien, nach Russland, Kongresspolen und Wolhynien gegeben.8

Der Volkszählung von 1910 zufolge verlor Österreich durch die Auswanderung aus den verschiedenen Kronländern im Zeitraum von 1901-1910 insgesamt 683.403 Personen, was 2,61% der Gesamtbevölkerung Österreichs entsprach. Unter den Kronländern verzeichnete Galizien in dieser Zeit die größten Bevölkerungsverluste durch Auswanderung, nämlich 488.416 Personen bzw. 6,67% der Gesamtbevölkerung Galiziens.9 ← 20 | 21 →

Auswanderungsbewegungen unter den evangelischen Deutschen Anfang des 20. Jahrhunderts

Eine scheinbar vielversprechende Auswanderungsmöglichkeit in ein deutschsprachiges Gebiet bot sich für die evangelischen Deutschen in Galizien an, als seit 1903 verstärkt eine illegale Anwerbung in Galizien mit Billigung der preußischen Regierung erfolgte, um gezielt evangelische Deutsche für eine Neuansiedlung in den Provinzen Posen und Westpreußen zu gewinnen. Gerade die Möglichkeit, Land zu günstigen Bedingungen erwerben zu können, wie es in den Werbekampagnen versprochen wurde, veranlasste insbesondere jüngere Leute, die noch kein eigenes Land besaßen, zu einer Auswanderung.10 Der Geschäftsführer der 1903 in Berlin gegründeten „Centralstelle zur Beschaffung deutscher Ansiedler und Feldarbeiter“, Friedrich von Pilis, machte sich im Juli 1903 persönlich auf den Weg nach Galizien, um vor Ort die Lage zu erkunden und entsprechende Schritte einzuleiten. Interessanterweise nahm er zunächst keine Kontakte mit den deutschen Kolonisten auf, sondern wandte sich zunächst an polnische Bankiers und Großgrundbesitzer in Westgalizien. Einer seiner Gesprächspartner in dem auf der Strecke zwischen Łancut und Jaroslau (Jarosław) gelegenen Przeworsk war Wojciech Biegoński, der Direktor der „Bank Parcelacyjny“ (Parzellierungsbank), mit dem er über eine Auswanderung deutscher Kolonisten nach Preußen sprach. Anscheinend bekundete dieser Pilis gegenüber sein Interesse, gegebenenfalls die Bauernhöfe von auswanderungswilligen Deutschen aufzukaufen. Weitere Gespräche führte Pilis mit einem Vertreter des Grafen Roman Potocki, dessen Ländereien in Łancut an deutsche Kolonien grenzten. Erst nach diesen Gesprächen besuchte Pilis die in dieser Gegend gelegenen deutschen Kolonien Königsberg bei Żarczyńska Wola und Steinau bei Kamień. Im Anschluss daran reiste er weiter nach Ostgalizien über Gródek, in dessen Nähe er deutsche Kolonistendörfer besuchte, nach Lemberg. Seinen Berichten zufolge traf er insbesondere in Dornfeld bei Szczerzec auf eine große Zustimmung für die Auswanderung, jedoch angeblich hauptsächlich bei den älteren Dorfbewohnern. Eine noch größere Auswanderungsbereitschaft habe er in den in der Umgebung von Lemberg gelegenen Kolonistendörfern Reichenbach und Chrusno gefunden.11 In Lemberg führte Pilis dann Gespräche mit Ver-tretern ← 21 | 22 → von Kreditinstituten und mit einem polnischen Rechtsanwalt betreffend der An- bzw. Verkäufe von Kolonistenhöfen, und knüpfte darüber hinaus Kontakte mit Vertretern ruthenischer Verbände. Außerdem verstärkte er seine Propagandatätigkeit noch durch gezielte Kontakte mit polnischen Journalisten, denen er entsprechende Informationen über die preußische Ansiedlungskampagne lieferte und die diese dann in verschiedenen Lemberger Zeitungen verbreiteten, wie beispielsweise am 8. August 1903 im Dziennik Polski, Słowo Polskie sowie in der Gazeta Narodowa. Dabei wurde auf die Vorteile einer Auswanderung der Deutschen für die Polen hingewiesen, da diese sich angeblich „zu Ungunsten der Polen mit den Ruthenen“ zusammengeschlossen hätten.12

Pilis verhandelte nicht nur mit polnischen Vertretern über den Ankauf deutscher Kolonistenhöfe, sondern gleichzeitig auch mit Vertretern des Ruthenischen Nationalkomitees (Narodny Russky Komitet), die besonders an Informationen über einen bevorstehenden Verkauf von Kolonistenhöfen interessiert waren. Pilis zeigte sich sogar bereit, den interessierten Ruthenen ein Vorverkaufsrecht einzuräumen, aber nur, wenn sie auch denselben Preis bezahlen würden, wie die polnischen Interessenten.13 Anzumerken ist hier, dass in Ostgalizien die Anzahl der ruthenischen Bevölkerung sehr viel höher war als die der polnischen Bevölkerung, so dass die deutschen Kolonisten mehrheitlich ruthenische Bauern zu Nachbarn hatten. Es lag allerdings nicht im Interesse der Polen, dass durch einen etwaigen Verkauf die deutschen Bauernhöfe an Ruthenen gelangten. Daher unterstützten die polnischen Kreditinstitute den Ankauf der freiwerdenden Höfe, um dort „Masuren“ anzusiedeln, also Polen, die aus Westpreußen auswandern sollten, um sich in den aufgegebenen Höfen der Deutschen niederzulassen. Im Übrigen schien auch die galizische Statthalterei nicht besonders an einer Unterbindung dieser Aktivitäten interessiert gewesen zu sein. Jedenfalls erhielt der österreichische Generalkonsul in Berlin, Erwin Freiherr von Ferstel, der im Januar 1904 Lemberg um Auskunft gebeten hatte, keinerlei Informationen über die Tätigkeit Pilis’. Man vertröstete ihn damit, dass man erst bei den Bezirkshauptmannschaften nachfragen müsse.14 Diese Haltung der Statthalterei ist insofern verwunderlich, da sie zu jenem Zeitpunkt sicherlich schon von den Aktivitäten Pilis’ unterrichtet war, spätestens jedoch aus den Zeitungsartikeln vom 8. August 1903 und aus den danach folgenden Artikeln davon wissen musste.

Die Wiener Zentralregierung hatte schon drei Jahre zuvor angesichts der preußischen Agitation im Jahre 1900 ihrem damaligen Botschafter Ladislaus ← 22 | 23 → Graf Szögyényi-Marich in Berlin die Weisung erteilt, im Auswärtigen Amt sowie bei der preußischen Staatsregierung vorstellig zu werden, um ihre Entrüstung über die Auswanderungsagitation der Preußischen Ansiedlungskommission im österreichischen Staatsgebiet auszudrücken. Das Auswärtige Amt teilte ihm mit, dass die Ansiedlungskommission keinerlei Agitation in Galizien betreibe, und falls es zu derlei Aktivitäten gekommen sei, es sich um „Übergriffe von Agenten“ gehandelt habe. Die Ansiedlungskommission habe lediglich bei Anfragen Prospekte und Einladungsformulare an auswanderungswillige Personen nach Galizien geschickt.15 Dass die Werbekampagnen nach dieser Intervention nicht zum Erliegen kamen, zeigen die intensiven Bemühungen der evangelischen Pfarrer in Galizien, sich gegen diese Agitation zu wehren.

Details

Seiten
438
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653036022
ISBN (ePUB)
9783653988635
ISBN (MOBI)
9783653988628
ISBN (Hardcover)
9783631647882
DOI
10.3726/978-3-653-03602-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (März)
Schlagworte
Migration Rückwanderung Ethnizität Arbeitswanderung deutsch-polnisches Grenzgebiet polnische Minderheit Nachbarschaft
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 438 S., 8 farb. Abb.

Biographische Angaben

Dorota Praszalowicz (Band-Herausgeber:in) Anna Sosna-Schubert (Band-Herausgeber:in)

Dorota Praszałowicz ist Professorin für Soziologie und interethnische Beziehungen an der Jagiellonen-Universität Krakau. Anna Sosna-Schubert forscht am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück.

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Titel: Deutsche und polnische Migrationserfahrungen
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