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Die strafprozessuale Hauptverhandlung zwischen inquisitorischem und adversatorischem Modell

Eine rechtsvergleichende Analyse am Beispiel des deutschen und des zentralasiatischen Strafprozessrechts

von Friedrich-Christian Schroeder (Band-Herausgeber:in) Manuchehr Kudratov (Band-Herausgeber:in)
©2014 Sammelband 231 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Band enthält die Beiträge und Diskussionspapiere, die im Rahmen des Forschungsprojekts Die Entwicklung des Strafprozesses in den Staaten Zentralasiens auf den Konferenzen in Almaty/Kasachstan im Jahr 2011 und Regensburg im Jahr 2012 gehalten wurden. Dargestellt werden darin die Ergebnisse des Forschungsprojekts, das von der Volkswagen Stiftung finanziert und vom Institut für Ostrecht München/Regensburg durchgeführt wird. Ziel des Forschungsprojekts ist eine systematische Erforschung und rechtliche Analyse der Entwicklung des Strafprozesses in den Staaten Zentralasiens vor dem Hintergrund der Reform der Strafjustiz und der Transformation des Strafprozesses vom inquisitorischen zum adversatorischen Verfahren. Der Band richtet sich an alle, die sich für die Rechtsentwicklung in den Ländern Zentralasiens und für die Rechtsvergleichung im Strafprozessrecht interessieren. Er knüpft an den Band «Das strafprozessuale Vorverfahren in Zentralasien zwischen inquisitorischem und adversatorischem Modell» (2012) an.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Grundlagen
  • Adversatorische und inquisitorische Verfahrensmodelle: Ein kritischer Vergleich mit Strukturalternativen
  • I. Grundtypen des Strafverfahrens
  • 1. Das adversatorische Strafverfahren
  • 2. Das inquisitorische Verfahrensmodell
  • 3. Konvergenzen zwischen adversatorischen und inquisitorischen Modellen
  • II. Kritischer Vergleich
  • 1. Rolle der Prozessbeteiligten
  • 2. Verfahrenseffizienz
  • 3. Wahrheitsermittlung
  • III. Strukturreformen
  • 1. Leitlinie: „Akkusatorisch-instruktorische“ Gewaltenteilung
  • 2. Leitlinie: „Kontradiktorisch-instruktorische“ Wahrheitserforschung
  • 3. Leitlinie: „Zeugen des Gerichts“ (und nicht der Parteien)
  • IV. Schlussbemerkung
  • Adversatorische und inquisitorische Elemente im gegenwärtigen Strafprozess der zentralasiatischen Staaten
  • Die Erforschung der materiellen Wahrheit im Strafprozess
  • I. Was ist Wahrheit?
  • II. Materielle, prozessuale oder formelle Wahrheit?
  • III. Methoden der Wahrheitserforschung im Strafverfahren
  • IV. Wahrheit als Ziel des Strafverfahrens?
  • Einfluss der gerichtlichen Kontrolle auf ein Strafprozessmodell
  • I. Begriff der „gerichtlichen Kontrolle“: Auf der Suche nach einer terminologischen Rekonstruktion
  • II. Geopolitische Perspektiven des Einflusses der gerichtlichen Kontrolle auf ein Strafprozessmodell
  • III. Konzeptuelle Perspektiven des Einflusses der gerichtlichen Kontrolle auf ein Strafprozessmodell
  • IV. Technische Perspektiven des Einflusses der gerichtlichen Kontrolle auf ein Strafprozessmodell
  • Hauptverfahren
  • Adversatorisches Hauptverfahren?
  • Information über das Vorverfahren und die Befugnisse des Richters in der Hauptverhandlung aus deutscher Sicht
  • I. Überblick über die historische Entwicklung
  • II. Das heutige deutsche Modell und die Mängel des Schwurgerichtsverfahrens
  • III. Vorzüge und Mängel des deutschen Modells
  • IV. Partielle Reformen der Hauptverhandlung?
  • V. Notwendige Reformen des Ermittlungsverfahrens
  • VI. Schlussbemerkung
  • Befugnisse des Gerichts bei der Anklagerücknahme durch den Staatsanwalt oder bei einer Anklageänderung
  • I. Das Institut der Anklagerücknahme: Wo liegt der theoretische Fehler?
  • 1. Das existenzielle Problem der Adversarität im Strafprozess
  • 2. Wege zur Überwindung des „existenziellen Problems der Adversarität“
  • a) Politische Legitimierung des Staatsanwalts durch die Gesellschaft (amerikanische Version)
  • b) Rechtliche Legitimierung des Staatsanwalts durch die Gesellschaft
  • c) Russisch-sowjetische theoretische Deformation und ihre Folgen
  • d) Die jüngsten russischen Versuche, die Legitimität der staatsanwaltschaftlichen Anklagetätigkeit wiederherzustellen
  • II. Das Institut der Anklageänderung und der Umfang der gerichtlichen Selbstständigkeit bei der rechtlichen Würdigung einer Straftat
  • Die Rechte des Angeklagten bei der Beweisaufnahme
  • Die Verständigung im deutschen Strafverfahren
  • I. Einleitung
  • II. Die Regelung zur Verständigung im Strafverfahren -§ 257c StPO
  • 1. Gegenstand der Verständigung
  • 2. Belehrungspflichten
  • 3. Transparenzpflichten
  • 4. Weitere flankierende Vorschriften
  • 5. Zwischenergebnis
  • III. Hintergründe der Neuregelung
  • IV. Drei Thesen zur Systemwidrigkeit von sog. Verständigungen
  • Zu 1. Verständigungen im Strafprozess gefährden die Wahrheitsfindung.
  • Zu These 2: Verständigungen im Strafprozess gefährden die Gerechtigkeit.
  • Zur 3. These: Verständigungen im Strafprozess können Verträge zu Lasten Dritter sein.
  • V. Ein Blick in andere Länder
  • VI. Die Praxis der Absprachen nach der Einführung des § 257c StPO
  • VII. Zusammenfassung
  • Gerichtsverhandlung aufgrund des Geständnisses des Beschuldigten am Beispiel zentralasiatischer Staaten
  • Laienbeteiligung und adversarisches Verfahrensmodell A match made in Heaven?
  • I. Einleitung
  • II. Übersicht einiger Laienmodelle
  • III. Tatsachen- oder Rechtsfragen?
  • IV. Modellverträglichkeit, Sinn und Konsequenzen der Laienbeteiligung
  • V. Laienrichter, Berufsrichter und Informationszugang
  • VI. Rolle und Selbstverständnis der Berufsrichter
  • VII. Schlussfolgerung
  • Rechtsmittelverfahren
  • Adversatorische Elemente des Revisionsverfahrens aus deutscher Sicht
  • I. Inquisitorische und Adversatorische Elemente im deutschen Strafprozess
  • II. Grundsätzliches zur Revision
  • III. Die Einlegung der Revision
  • 1. Revisionsführer
  • a) Voraussetzungen
  • b) Staatsanwaltschaft
  • c) Privatkläger
  • d) Nebenkläger
  • 2. Verzicht
  • 3. Bindung des Revisionsgerichts an die gestellten Anträge
  • 4. Zwischenfazit
  • IV. „Vorzeitige“ Beendigung des Revisionsverfahrens
  • 1. Zurücknahme
  • 2. Grenzen der Zurücknahme
  • 3. Grenzen der Zustimmungsbedürftigkeit
  • V. Fazit
  • Adversatorischer Charakter des Kassationsverfahrens
  • I. Gegenstand der Überprüfung bei der Kassation
  • II. Der Wirkungsbereich der Kassationsinstanz
  • III. Freiheit der Beanstandung und die Gleichheit der Rechte
  • IV. Teilnahme der Parteien an der Gerichtsverhandlung in der Kassationsinstanz
  • Auswirkungen besonderer Prozessprinzipien
  • Die Fürsorgepflicht des Richters zwischen inquisitorischem und adversatorischem Modell
  • I. Einleitung
  • II. Rolle des Richters im inquisitorischen und adversatorischem System
  • III. Fürsorgepflicht im deutschen Recht
  • a. Wahrheitsfindung
  • b. Heilung von Verfahrensmängeln
  • c. Beschleunigungsgebot
  • d. Hinweispflicht
  • IV. Fürsorgepflicht im englischen Recht
  • V. Zusammenfassung
  • Inquisitorischer und adversatorischer Prozess und das Fair-Trial-Prinzip
  • I. Adversatorisches und inquisitorisches Prozessmodell
  • II. Historische Annäherung der Modelle: Der deutsche reformierte Prozess
  • III. Moderne Annäherung der Modelle: Faires, die Menschenrechte achtendes Verfahren
  • 1. Opferschutz
  • 2. Unschuldsvermutung
  • 3. Konfrontationsrecht
  • 4. Beweisverbote
  • 5. Fürsorgepflicht
  • IV. Verbleibende Unterschiede
  • V. Prozessmodell und Staatsverständnis
  • VI. Fazit
  • Autorenverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Grundlagen

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Adversatorische und inquisitorische Verfahrensmodelle: Ein kritischer Vergleich mit Strukturalternativen

Albin Eser

I. Grundtypen des Strafverfahrens

Oberflächlich betrachtet gibt es wohl kaum zwei Rechtsordnungen, in denen das Strafverfahren völlig gleich wäre, weist doch jedes Land der Welt in der prozessualen Gestaltung seines Strafrechts gewisse nationale Besonderheiten auf. Versucht man jedoch auf die jeweilige Grundstruktur des Strafprozesses vorzudringen und sieht man dabei von möglichen nationalen Unterschieden einmal ab, so lässt sich die rechtliche Ausgestaltung des Strafverfahrens im Wesentlichen auf zwei unterschiedliche Modelle zurückführen: auf der einen Seite das als echter Parteienprozess organisierte adversatorische Strafverfahrensmodell, wie es ursprünglich vor allem im angloamerikanischen Rechtskreis anzutreffen war, und auf der anderen Seite das inquisitorische Strafverfahrensmodell, wie es als Grundtypus ursprünglich nahezu allen kontinental-europäischen Strafverfahrensordnungen zugrunde liegt.1

Zu diesen beiden Grundtypen des Strafprozesses ist in jüngerer Zeit ein drittes Verfahrensmodell hinzugekommen, das sich als konsensuales Verfahren bezeichnen lässt.2 Ob es sich dabei allerdings um einen völlig eigenständigen Typus handelt, ist fraglich; denn möglicherweise geht es bei dem diesem neuartigen Verfahrensmodell zugrunde liegenden Konsensprinzip lediglich um ein Leitmotiv für die Ausgestaltung der Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten im Strafprozess. Soweit jedoch auf diesem konsensualen Wege insbesondere verfahrensbeendende Absprachen (plea bargaining oder sonstige Verfahrensdeals) ermöglicht werden sollen, bleibt sogleich kritisch anzumerken, dass in solche Abreden oft gerade die eigentlichen Hauptkontrahenten einer Straftat, nämlich der Täter und das Opfer, nicht einbezogen sind. ← 11 | 12 →

Lässt man diese konsensualen Neuartigkeiten einmal außer Acht, so stehen sich als klassische Prozesstypen das „adversatorische“ und das „inquisitorische“ Verfahrensmodell gegenüber. Auch wenn diese kaum noch in jeweiliger Reinkultur auftreten, weil es zahlreiche Übergänge und Mischformen zwischen beiden Modellen gibt, sollte man sich zunächst einmal deren Grundformen vor Augen führen.

1. Das adversatorische Strafverfahren

Kennzeichnend für dieses als Parteiprozess ausgestalteten Verfahrenstypus ist die Zuständigkeit – und damit auch die Verantwortlichkeit -der grundsätzlich einander gegenüber stehenden Parteien: der (in der Regel staatliche) Ankläger und der (den Angeklagten vertretende) Verteidiger (während der Angeklagte und das Opfer in der Regel selbst kaum in Erscheinung treten). Diese miteinander streitenden Parteien sind es, die die jeweils relevanten Tatsachen zu ermitteln, die zu deren Nachweis erforderlichen Beweismittel ausfindig zu machen und diese letztendlich dem Gericht zu präsentieren haben, während diesem selbst während der Beweisaufnahme lediglich eine verfahrensleitende Funktion zukommt. Die Aufklärung des Sachverhalts ist somit Sache der Parteien.

Zudem findet der adversatorische Charakter dieses Verfahrenstypus auch in der Art und Weise Ausdruck, wie die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung geführt wird: Anklage und Verteidigung benennen jeweils ihre Beweismittel, befragen zunächst die von ihnen benannten Zeugen und Sachverständigen, die anschließend jeweils einem Kreuzverhör unterzogen werden, um die Zuverlässigkeit ihrer Aussagen beurteilen zu können. Dabei unterliegen die Art der Befragung von Zeugen wie auch die Präsentation von sonstigen Beweismitteln (wie etwa die Anhörung von Sachverständigen oder die Vorlegung von Dokumenten) meistens bestimmte Verfahrensregeln, deren erfolgreiche Anwendung oft besondere Sachkunde voraussetzt.

Demgegenüber beschränkt sich die Aufgabe des Gerichts im wesentlichen darauf, die Zulässigkeit und Beweiskraft von Beweismitteln, wie insbesondere hinsichtlich der Glaubwürdigkeit von Zeugen und der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen, zu beurteilen. Dabei spielt es für die strukturprägenden Elemente des adversatorischen Verfahrens grundsätzlich auch keine Rolle, ob die Entscheidung über die Schuldfrage Berufsrichtern, einem Laiengremium (jury) oder einer Kombination aus beidem anvertraut ist. In der Regel hat das für die Entscheidung in der Hauptverhandlung zuständige Gericht keine, jedenfalls keine umfassende Kenntnis des bereits in den Stadien vor der Hauptverhandlung von den Parteien ermittelten Verfahrensstoffs.3 ← 12 | 13 →

2. Das inquisitorische Verfahrensmodell4

Bei diesem Modell liegen die Zuständigkeit und Verantwortung für die Einbringung und Aufklärung der für die Entscheidung wesentlichen Beweise grundsätzlich in der Hand des erkennenden Gerichts. Dieses hat von Amts wegen, d.h. von sich aus, den relevanten Tatsachenstoff zu erheben, und zwar ohne dabei auf entsprechende Beweisinitiativen der Verfahrensbeteiligten angewiesen oder durch diese bei der Sachverhaltsaufklärung begrenzt zu sein. Dies schließt jedoch nicht aus, dass die Parteien ihrerseits Beweisanträge stellen und Beweismittel benennen können. Soweit das Gericht die Vernehmung von Zeugen für zulässig und erforderlich hält, hat es grundsätzlich auch für deren Ladung zur Hauptverhandlung zu sorgen, ebenso für die Präsenz sonstiger benötigter Beweismittel. In der Hauptverhandlung sind dann die Beweise nach den für das jeweilige Beweismittel (etwa Zeugenbeweis, Urkundenbeweis oder Augenscheinseinnahme) geltenden Vorschriften zu erheben.

Die von Amts wegen vorzunehmende und als Pflicht des Gerichts ausgestaltete Sachverhaltsaufklärung wirkt sich auch auf die Art und Weise der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung aus. So kennt das inquisitorische Verfahren keine formale Unterscheidung von Belastungs- und Entlastungszeugen. Dementsprechend existiert keine nach den Parteien getrennte Beweiserhebung wie (etwa zwischen „prosecution case“ und „defensive case“)5. Das Gericht führt vorrangig und eigenständig die Beweiserhebung durch, und zwar in der Weise, dass zunächst das Gericht beispielsweise die Zeugen befragt. Den anderen Verfahrensbeteiligten bleibt dabei lediglich die Möglichkeit, ergänzende Befragungen durchzuführen. Dieser Verfahrensablauf und die mit ihm verbundene Rollenverteilung gilt wiederum unabhängig davon, ob das zur Entscheidung berufene Gericht ausschließlich aus Berufsrichtern besteht oder die Entscheidung der Schuldfrage einem Laiengremium anvertraut ist (so etwa bei den Geschworenengerichten in Österreich) und lediglich die Beweisaufnahme durch die Berufsrichter geführt wird. ← 13 | 14 →

3. Konvergenzen zwischen adversatorischen und inquisitorischen Modellen

Idealtypisch ist für sogenannte inquisitorische Verfahrensmodelle charakteristisch, dass dem Gericht die Verantwortung für die gerechte -nämlich die dem materiellen Strafrecht entsprechende - Entscheidung über die dem Angeklagten vorgeworfene Tat obliegt. Damit liegt die Verantwortung sowohl für die Beibringung des entscheidungsrelevanten Prozessstoffs als auch die Entscheidung über die Schuld-und die Straffrage einheitlich beim erkennenden Gericht. Demgegenüber ist im adversatorischen Verfahrensmodell die Verantwortung zwischen der Beibringung des Prozessstoffes und der Entscheidung darüber gespalten: Während die Einbringung des Beweisstoffes in den Prozess den Parteien obliegt, bleibt dem Gericht lediglich darüber zu entscheiden, ohne aber bei seinem Verdikt wesentlichen Einfluss auf die Gewinnung des zugrundeliegenden Tatsachenmaterials nehmen zu können.

Keines der beiden Modelle ist allerdings in den Strafverfahrensordnungen der Nationalstaaten - und erst recht nicht in den strafverfahrensrechtlichen Regeln der internationalen Strafgerichtshöfe (ICC, ICTY, ICTR) - in einer reinen Form verwirklicht. Stets finden sich rechtliche Gestaltungen, die dem Ideal des gewählten Ausgangstypus nicht entsprechen, sondern quasi aus dem konkurrierenden Verfahrensmodell importiert sind.

So lässt sich beispielsweise die seit 2009 in der deutschen Strafprozessordnung gesetzlich zugelassene Möglichkeit einer Verständigung der Verfahrensbeteiligten im Strafverfahren (§ 257c StPO) nicht ohne Weiteres mit dem durch die Amtsaufklärungspflicht geprägten deutschen Strafprozess vereinbaren. Denn dabei geht es nicht nur um formale Rollenverteilung zwischen den Prozessbeteiligten, wie sie sich scheinbar leicht verändern ließe. Vielmehr geht es bei der Aufklärungspflicht um ein fundamentales Erfordernis wahrhaftiger Feststellung - oder auch Verneinung -von Unrecht und Schuld. Dieses Schuldprinzip gebietet eine der Einzeltatschuld des Täters entsprechende gerechte Entscheidung über die Schuld- und die Straffrage. Eine solche gerechte Entscheidung wiederum verlangt als notwendige Bedingung die Aufklärung des wahren Sachverhaltes, auf den die Verurteilung des Angeklagten gestützt werden kann.6 Dem ← 14 | 15 → vermag eine zur Urteilsabsprache führende Verständigung der Parteien selbst dann nicht zu genügen, wenn das Gericht daran beteiligt ist, dieses dabei aber auf seine volle Aufklärungspflicht verzichtet hat. Letztlich erweist sich somit die Verfahrensabsprache im deutschen Strafverfahren als eine aus einem anderen, nämlich dem adversatorischen Verfahrenstypus übernommenes Rechtsinstitut.

Umgekehrt enthalten die Verfahrensordnungen solcher Staaten, denen ein im Grundsatz adversatorisches Modell zugrunde liegt, Elemente, die an sich dem konkurrierenden inquisitorischen Verfahrensmodell entstammen. So räumen sowohl das englische Strafverfahrensrecht als auch die Strafrechtsordnungen der Bundesstaaten der USA dem Gericht bzw. dem Richter das Recht ein, in Bezug auf die von den Parteien präsentierten Beweismitteln ergänzende Beweiserhebungen vorzunehmen. In einem „reinen“ adversatorischen Verfahren wäre für ein solches Recht kein Raum, weil es dort idealtypisch allein Sache der Parteien ist, diejenigen Tatsachen darzulegen und zu beweisen, für die sie die Darlegungs- und Beweislast tragen.

Schon an diesen wenigen Beispielen ist zu erkennen, dass in der Rechtswirklichkeit weder ein rein adversatorisches Strafverfahren noch ein rein inquisitorisches Strafverfahren existiert und sich die verschiedenen nationalen und internationalen Strafverfahrensordnungen im Grunde lediglich danach unterscheiden lassen, ob und inwieweit ihnen der eine oder der andere Idealtypus als Ausgangsmodell zugrunde liegt. Deshalb ist auch in terminologischer Hinsicht mit der Kennzeichnung als „adversatorisch“ oder „inquisitorisch“ Vorsicht geboten. So ließe sich einerseits der adversatorische Grundtypus im Falle steigender richterliche Einwirkungsmöglichkeiten vielleicht sachgerechter - und weniger Assoziationen aggressiver „Feindlichkeit“ erweckend -als „kontradiktorisch“ bezeichnen. Andererseits könnte man die an grausame Folter erinnernde „inquisitorische“ Vergangenheit dadurch hinter sich lassen, dass man den durch die richterliche Aufklärungspflicht geprägten Verfahrenstypus als „instruktorisch“ benennt; das wäre auch deshalb sachgerechter, weil von der Personenidentität von Ankläger und Richter, wie sie für die geschichtlich vorbelastete „Inquisition“ typisch war, durch die Herausbildung einer eigenen Staatsanwaltschaft für den davon unabhängigen Richter lediglich die Pflicht zur eigenen Instruktion über die von ihm zu beurteilenden Tatsachen übrig geblieben ist.7 ← 15 | 16 →

II. Kritischer Vergleich

Nach diesem theoretischen Überblick über die beiden Grundmodelle und mögliche Konvergenzen von Strafverfahrensordnungen erscheint es angebracht, von einigen praktischen Erfahrungen und Problemen zu berichten, denen ich in meiner Eigenschaft als Richter am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag begegnet bin und die vielleicht von Interesse sein könnten, wenn es um Strafprozessreformen geht. Auch wenn sich dabei für die internationale Strafgerichtsbarkeit andere Probleme als für nationale Strafverfahrensordnungen stellen mögen, denke ich, dass prozessuale Mängel, die auf internationaler Ebene auftreten können8, auch auf nationaler Ebene Beachtung finden sollten.

Zu den nachfolgenden Beobachtungen ist vorauszuschicken, dass es sich bei der vornehmlich durch Richterrecht entwickelten Verfahrenspraxis des ICTY um ein Mischsystem handelt. Auch wenn darin gewisse inquisitorische Elemente kontinentaleuropäischer Tradition zu finden sind, ist das ICTY-Verfahren doch im Wesentlichen durch die adversatorische Grundstruktur des angloamerikanischen Common Law geprägt, was im Übrigen - wenngleich mit gewissen Abstufungen - auch für das ICC-Verfahren festzustellen ist. Nun könnte man zwar durch eine Verbindung von Elementen verschiedener Verfahrensmodelle Schwächen des einen durch Stärken des anderen zu kompensieren versuchen. Das kann aber auch misslingen, und zwar sogar dahingehend, dass die Schwächen des einen Modells durch Schwächen des anderen noch vergrößert werden. Umso wichtiger ist es, sich mögliche Mängel des einen oder anderen Systems bewusst zu sein, um sie künftig vermeiden zu können.

Es versteht sich, dass das in diesem Rahmen nur selektiv, aber immerhin anhand von drei weichenstellenden Kernpunkten demonstriert werden kann, und zwar im Hinblick auf die Rolle der Prozessbeteiligten (1), die Verfahrenseffizienz (2) sowie die Art und den Umfang der Wahrheitserforschung (3).

1. Rolle der Prozessbeteiligten

Wie bereits angedeutet, wird das adversatorische Verfahren als grundsätzlich „party driven“ in Gestalt von Ankläger und Verteidiger geradezu augenfällig von den Parteien beherrscht: Diese sind es, die die Beweise ermitteln und präsentieren sowie die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen ← 16 | 17 → durchführen, wobei ihnen auch grundsätzlich überlassen bleibt, welchen Beweisstoff sie einbringen – oder wohlweislich vorenthalten – wollen. Demgegenüber hat der Richter lediglich als „Schiedsrichter“ zwischen den Parteien zu fungieren. Dabei wird er in der Regel nur insoweit intervenieren, als es – wie einmal von ICTY-Richter Patrick L. Robinson plastisch formuliert - die „Waage der Gerechtigkeit zwischen beiden Seiten gleichzuhalten“ gilt.9 Dementsprechend geht es dabei in erster Linie um die Sicherung formaler Fairness und weniger um die Ermittlung materialer Wahrheit.

Demgegenüber wird das inquisitorisch-instruktorische Strafverfahren kontinental-europäischer Tradition vom Vorsitzenden Richter dominiert: Dieser hat nicht nur über den Umfang der Beweisaufnahme zu entscheiden, vielmehr liegt in der Regel auch die Vernehmung des Angeklagten sowie die von Zeugen und Sachverständigen in seiner Hand. Auch wenn dabei das Beweisantrags- und Fragerecht der Parteien nicht ausgeschlossen, ja diesen so-gar auf ihren übereinstimmenden Antrag das Kreuzverhör zu überlassen ist, kommt in der kontinental-europäischen Hauptverhandlung dem Richter zweifellos die verhandlungsbeherrschende Rolle zu.

Vergleicht man diese Rollenunterschiede aus dem Blickwinkel von weniger oder mehr autoritär, bürgernäher oder obrigkeitsstaatlicher, verfahrensdynamischer oder ordnungsstatischer oder durch welche sonstige weltanschaulich-politische Brille auch immer, so bietet das adversatorische Modell auf den ersten Blick zweifellos das sympathischere Erscheinungsbild. Auch erscheint bei einem Richter, der noch keine Aktenkenntnis hat, da er erst in der Hauptverhandlung mittels der Parteien vom Beweismaterial Kenntnis erhält, die Unvoreingenommenheit besser gewährleistet als bei einem Richter, der sich – und sei es auch nur zum Zweck einer prozessökonomischen Verhandlungsleitung – bereits mit Ermittlungsakten und beiderseitigen Beweisanträgen vertraut gemacht hat. Dies ist sicherlich eine nicht zu leugnende Schwachstelle dieses Systems, auch wenn das bei entsprechender Professionalität der Richter keineswegs zum Verlust seiner Unbefangenheit zu führen braucht. Andererseits bleibt aber zu überlegen, ob nicht ihrerseits auch die adversatorische Rollenverteilung mit Nachteilen erkauft ist, die sich durch eine gewisse Verschiebung in instruktorische Richtung im Sinne allseitiger(er) Gerechtigkeit vermeiden ließen. Das betrifft sowohl die Rolle des Richters als auch die des Angeklagten und des Opfers. Dazu müssen hier einige skizzenhafte Bemerkungen genügen.

Details

Seiten
231
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653041194
ISBN (ePUB)
9783653989380
ISBN (MOBI)
9783653989373
ISBN (Hardcover)
9783631649619
DOI
10.3726/978-3-653-04119-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Mai)
Schlagworte
Zentralasien Reform der Strafjustiz adversatorisches Verfahren Strafprozessrecht Entwicklung des Strafprozesses
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 231 S., 1 Tab.

Biographische Angaben

Friedrich-Christian Schroeder (Band-Herausgeber:in) Manuchehr Kudratov (Band-Herausgeber:in)

Friedrich-Christian Schroeder ist Emeritus des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Ostrecht der Universität Regensburg und wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Ostrecht München. Manuchehr Kudratov ist Koordinator des Forschungsprojekts Die Entwicklung des Strafprozesses in den Staaten Zentralasiens am Institut für Ostrecht München.

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