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Gab es in Bremen im 19. Jahrhundert eine maritime Kultur?

Von kosmopolitischen Hanseaten und absonderlichen Seeleuten- Ein ethnohistorischer Beitrag zur Debatte über Küstengesellschaften

von Jan C. Oberg (Autor:in)
©2014 Dissertation 482 Seiten

Zusammenfassung

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte Bremen eine beispiellose seewirtschaftliche Blüte. Die Studie geht den kulturellen Folgen dieser Entwicklung nach und verbindet ethnologische Methoden mit historischer Recherche. Der Autor schildert die wirtschaftliche Bedeutung der Seefahrt, das Selbstverständnis und die Alltagspraxen des Bremer Bürgertums sowie das Verhältnis der Bremer zu in- und ausländischen Seeleuten. Er entdeckt soziale, kulturelle und räumliche Praxen der Distinktion und Exklusion und zeichnet den Prozess nach, in dem die kulturellen Stereotypen von hanseatischen Weltbürgern und absonderlichen Seeleuten entstanden. Das Konstrukt einer kultivierten Hansestadt mit einer vulgären Hafenkolonie ist bis heute Bestandteil des Bremer Selbstbildes. Die Idee der Küstengesellschaft nach Braudel dechiffriert Oberg am Beispiel des Nordseeraums als mental map und Produkt nationaler und global/lokaler Historiographien.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Gab es in Bremen im 19. Jahrhundert eine maritime Kultur?
  • Einleitung
  • Der theoretische Rahmen: Die Debatte über Küstengesellschaften
  • „Das Seefahrerflair ist bis heute lebendig…“ Forschungsfeld und Fragestellung
  • Bremen als Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Forschungen
  • Methodisches Vorgehen
  • Konkrete Arbeitsschritte
  • Gliederung der Arbeit
  • Hinweis zur Lektüre
  • I. „Alles, was nur ein Handelsartikel sein kann, wird hier ein- und ausgefahren.“
  • Bremer maritime Wirtschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
  • Dominanz von Binnenhandel und Binnenschifffahrt bis ins 18. Jahrhundert
  • Seeschifffahrt und transatlantischer Handel im 19. Jahrhunderts
  • Gründung Bremerhavens
  • Auswanderergeschäft
  • Handel und industrielle Produktion
  • Bevölkerungswachstum
  • Schiffsverkehr
  • Reederei
  • Schiffsbesatzungen
  • II. Kultivierte Hanseaten und unkultivierte Seeleute: „Maritime“ Kultur in Bremen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
  • II.1. Hanseatische Weltenbürger
  • Provinzialismus und Handelsgeist. Bremer Selbstverständnis und Fremdzuschreibungen um 1800
  • »Der Handel …diese wahre Mutter der Stadt« oder: ein »vorzügliches Beförderungsmittel für die gesammte Cultur«
  • Wie der „weltbürgerliche Sinn“ nach Bremen kam
  • Reichtum und Luxus als Marker neuer Bremer Weltoffenheit?
  • „Een beeten good un een beeten veel.“ Vom „Einklang mit der Welt“ beim Essen
  • Vom „Tausch fremder Moden gegen altväterliche Sitten“
  • Spuren des Kulturtransfer in der Alltagskultur des Bremer Bürgertums im 18. und 19. Jahrhundert
  • Niederländische Schule
  • Connection Francaise
  • Von der „geselligen Verbindung“ mit „andern… Völkern“: Bremen, England und Amerika im 19. Jahrhundert
  • Englische Aufklärung in Bremen
  • Bildungswesen
  • Clubleben
  • Englishness
  • „Hinaus in die Ferne“ – Lernen in England und Amerika als biographische Obligation
  • Transatlantische Netzwerke und Reiselust
  • War die hanseatische Gemeinschaft in Übersee nach außen abgeschlossen?
  • Anglomanie
  • „Der vermehrte Zufluß der Fremden“
  • Zusammenfassung: Kosmopolitische Hanseaten
  • Hanseatische Unterschicht – ein Paradox? oder: „De to’m Knust bakket ist, ward sin Leve keen Brood.“
  • II.2. Absonderliche Seeleute
  • Seeleute in Bremen und Bremerhaven
  • Maritimer Arbeitsmarkt
  • Ausländische Seeleute auf bremischem Staatsgebiet
  • Strategien der Rekrutierung
  • Die Produktion eines insularen sozialen Raums
  • „Ein Ort… aus lauter Wirthshäusern“: Gastwirtschaften und Seemannsherbergen
  • Ein Vergleich mit Bremen
  • „Skandalöses Gewerbe“ und „Schandgeschäft“: Prostitution und Bordellwirtschaften in der Hafenkolonie
  • Ein Vergleich mit Bremen
  • Martin Eichholz und Friedrich Freudenthal. Einzelne Bordellwirte und die Bremerhavener Obrigkeit
  • „Ein Ort, wo sich Gesindel aus aller Herren Länder zusammenfindet...“ und „Mutters heiliger Rasen“. Räumliche Distinktion in Bremen und Bremerhaven
  • Altstadt, Neustadt, Vorstadt
  • „Ein Ort mit Kapitänen…“
  • „Sommerfrische“ in „Kneipecke“ und „Lustgarten“
  • „…durch Schwäche und Nachgeben verliert man stets Terrain.“ Devianz, Justiz und Delinquenz in der Hafenkolonie
  • „…leichtsinnig und unbeholfen, ja oft hülf- und rathlos wie ein Kind.“ Das Bild des absonderlichen Seemanns
  • „Gleich und gleich gesellt sich gern…“? Menschen im Hafen, bürgerlicher Diskurs und „maritime Subkultur?“
  • Kultivierte Hansestadt und vulgäre Hafenkolonie Zusammenfassung
  • III. Küstengesellschaften
  • Maritime Raumgeschichte
  • Braudels raumgeschichtliches Konzept: Die Welt des Mittelmeers und andere „Küstengesellschaften“
  • Geographischer Determinismus, oder: Wie macht Geographie Kultur?
  • Das Meer: natürliche Determinante für kulturelle Mentalitäten?
  • Exkurs: Japan: Eine Küstengesellschaft im Pazifik?
  • Die Kulturen der Himmelsrichtungen
  • Bilder des Südens
  • Die verräumlichte Kultur – Kulturelle Verräumlichung
  • „The Making of coastal Societies“: Mental Maps und kognitive Karten
  • Die Ostsee und das Schwarze Meer: „Seascapes“ in „Mittelosteuropa“?
  • „…the making of an Indian Ocean Seascape”
  • Eine Kultur der Nordsee?
  • Urbane Handelsnetze und die Mobilität von Gütern und Menschen
  • „common cultural traits“ an der Nordseeküste: Literalität, Literatur, Theater, Musik, Malerei, Architektur
  • „Transferleistungen“ in Technologie, Militär und Polizei
  • Protestantismus
  • Familienformen
  • Ein Fazit: Die Nordsee als Quelle der Modernisierung
  • Okzidentalismus und die Nordsee als „Erinnerungsort“
  • Die Historisierung der Nordsee als „Verräumlichung“ der abendländischen Kultur
  • Schlussbetrachtung
  • Verzeichnis der verwendeten Archivquellen
  • Literatur- und Quellenverzeichnis
  • Abbildungsnachweis

Gab es in Bremen im 19. Jahrhundert eine maritime Kultur?

Einleitung

Bremer Kultur und Mentalität werden in der aktuellen Imageproduktion der Stadt gerne mit dem historischen Engagement der Bremer im Seehandel erklärt. „Bremens Geschichte ist die Geschichte seiner Häfen“, heißt es in einer Broschüre der Bremer Touristikzentrale (BTZ 1999: 32). „Handel bedingt Weltoffenheit“, erklärten Marketingfachleute in der Bremer Bewerbungsschrift für die europäische Kulturhauptstadt 2010 (BMG 2004: 133). „Was immer in der Hansestadt an der Weser vor sich geht, ist …Ausdruck ihrer Seehafen- und Seehandelsstellung“, lautet eine verbreitete Ansicht (Meyer 1986: 44). Maritime Tradition, Aufgeschlossenheit gegenüber Fremden und multikulturelle Realität gehören heute zur touristischen Imageproduktion vieler Hafen- und Handelsstädte, „offen für die Welt“ zeige sich auch Bremen (BTZ 1999a: 9).

Auch Historiker untersuchen seit geraumer Zeit Häfen und Küstenregionen als Zentren des Kulturaustauschs und einige Bestandteile des gängigen hafenstädtischen Marketingrepertoires stimmen in mancher Hinsicht mit dem kosmopolitischen Selbstverständnis stadtbürgerlicher Eliten im 19. Jahrhundert überein.

In der vorliegenden Arbeit wird dieser hypothetische Zusammenhang zwischen maritimer Wirtschaft, Seeschifffahrt, Handel und lokaler Kultur untersucht. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreichten der Bremer Seehandel und die Bremer Reederei eine bis dahin beispiellose Blüte. Welche Spuren hat dieser wirtschaftliche Wandel in kultureller Hinsicht hinterlassen?

Der theoretische Rahmen: Die Debatte über Küstengesellschaften

Seit einigen Jahren hat sich unter Sozialhistorikern und Schifffahrtsforschern eine rege Diskussion über sogenannte „Küstengesellschaften“ entwickelt (vgl. für viele Braudel 1949, Roding/Heerma van Voss 1996). Der Terminus enthält die Vermutung, Menschen, die zwischen Binnenland und Meer lebten, hätten soziale Formen ausgebildet, die sie von der Bevölkerung des Binnenlandes unterscheiden. Vor allem zwei Bedingungen der Lebenspraxis gelten den Vertretern des analytischen Konzepts „Küstengesellschaft“ als Ursache für solche Besonderheiten: Zum einen gehen sie davon aus, dass über lange historische Epochen die soziale Nähe zu Bewohnern der anderen Küsten des Meeres größer war als zu den Bewohnern des jeweiligen Binnenlandes. Die Reisen von Kaufleuten und Seeleuten, aber auch Kriege und Wanderungen hätten einen vergleichsweise engen kulturellen Austausch ← 11 | 12 → bewirkt, gegenseitige Angleichung begünstigt und zu kulturellen Verflechtungen geführt. Zum zweiten wird unterstellt, die Gefahren des Meeres hätten den Anstoß gegeben, um Strukturen gegenseitiger Verpflichtung auszubilden, wie es sie in dieser Form im Binnenland nicht gegeben habe. Weniger ausgeprägt, aber doch häufig anzutreffen, ist auch die Vermutung, Küstenbewohner machten Grenzerfahrungen, weil sie in besonderer Weise mit den Gewalten der Natur konfrontiert seien.

Ausgelöst wurde die wissenschaftliche Konjunktur zur Erforschung von Küstengesellschaften durch Fernand Braudels These einer Kultur des Mittelmeerraumes (zuerst 1949). Braudels Anregung wurde insbesondere von Wirtschafts-, Sozial- und Kulturhistorikern aufgenommen, die sich mit der Nordsee befassen. Als Belege für soziale und kulturelle Nähe gelten ihnen sprachliche Verwandtschaften, weitgehend übereinstimmende Familienformen, gleichartige religiöse Entwicklungen, die Ähnlichkeit architektonischer Stile, gleichartige Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, ja sogar ähnliche politische Formen bis hin zur Ausbildung von Sozialstaaten. Der Stand der Forschung ist in einem von Juliette Roding und Lex Heerma van Voss (1997) herausgegebenen Sammelband zusammengefasst, der Beiträge von nahezu allen an dieser Debatte beteiligten WissenschaftlerInnen enthält. Zurückhaltender wird eine entsprechende These für die Ostsee vertreten (vgl. Fritze/Müller-Mertens/Schildhauer 1986, Rudolph 1982, Kirby 1990 u.a.). Eine besonders rege Diskussion wird derzeit auch über den Kulturraum des Indischen Ozeans geführt. Diese ist allerdings insofern anders gelagert, als hier die Rolle der Hafenorte für die Etablierung der europäischen Kolonialherrschaft eine zentrale Rolle spielten (vgl. Mc Pherson 1993 u.a.).

Sowohl Braudel als auch die aktuellen Vertreter des kurz skizzierten analytischen Konzeptes betonen, es handle sich nicht um die Unterstellung einer „natürlich“ gegebenen Einheit, vielmehr werde die einheitliche Kultur durch die unterschiedlichen Formen der Kommunikation gebildet. Dennoch hebt Braudel das einheitliche Klima des Mittelmeerraumes als Faktor von zentraler Bedeutung für die Geschichte und Entfaltung mediterraner Kultur hervor. Kritiker sehen darin eine Überbewertung von geographischen Gegebenheiten, eine Kritik, die auch von Seefahrtsforschern geäußert wurde. So hat C.R. Boxer bereits 1969 festgestellt, selbst zur Hochzeit des portugiesischen Reiches könne für Portugal keineswegs von einer Seefahrergesellschaft die Rede sein, und auch Paul C. van Royen (1997: 4) stellt in seiner Zusammenfassung der Ergebnisse einer groß angelegten internationalen Untersuchung über den maritimen Arbeitsmarkt fest, dass geographische Bedingungen nicht automatisch Seefahrt als Broterwerb nahe legten.

Die These der Küstengesellschaften wird zwar vielfach eher auf ländliche Gebiete bezogen, doch muss sie, so sie denn Bestand haben soll, auch für Städte gelten. Explizit für stark urbanisierte Küstenregionen wurde das Kon ← 12 | 13 → zept des „Nordseeraums“ entwickelt (vgl. Roding/Heerma van Voss 1996, darin besonders Knottnerus 1996, der die urbanen Zentren als Kernregionen des Nordseeraumes identifiziert). Neben diesen Beiträgen von Sozial- und Schifffahrtshistorikern existieren mittlerweile auch Arbeiten von Ethnologen und historischen Anthropologen zum Thema Küste. Besonders Küstenstädte werden zunehmend als Zentren des Kulturaustausches und Forschungsgegenstand entdeckt. So untersuchte der Kulturhistoriker und europäische Ethnologe Wolfgang Rudolph (1980) Seehäfen als Kommunikationsplätze und Medien der Vermittlung. In der Ethnologie befassten sich bis vor einigen Jahren nur wenige Studien mit dem Meer und seiner kulturellen, ökonomischen und demographischen Bedeutung. Der Fokus dieser Untersuchungen von maritime anthropologists war meist auf kleinere Fischergemeinschaften gerichtet.1 Die Mehrzahl der EthnologInnen interessierte sich jedoch eher für rurale Inlandsregionen. Gerade in Monographien mediterraner Städte, die oft von Braudels Konzept angeregt waren, wurden Häfen nur selten erwähnt und auch für die Menschen, die das Meer befahren, für Seeleute, Hafenarbeiter und die Bewohner der Hafenviertel, interessierten sich nur wenige Forscher (vgl. Haller 2001). Inzwischen haben jedoch vor allem Stadtethnologen damit begonnen, Hafenstädte als Orte des Transits von Geld, materiellen Gütern und Menschen, Ideen und Bedeutungen, aber auch als Projektionsflächen der Phantasie zu untersuchen (z.B. Driessen 1995, Haller 2000). Diese Entdeckung der Hafenstadt durch Wissenschaftler aller Couleur, die anhaltende Konjunktur des Konzepts der Küstengesellschaft, persönliches Interesse sowie ein Stipendium der Universität Bremen haben die Durchführung dieser Untersuchung angeregt. ← 13 | 14 →

„Das Seefahrerflair ist bis heute lebendig…“2 Forschungsfeld und Fragestellung

Die vorliegende Arbeit untersucht die These vom besonderen Charakter von „Küstengesellschaften“ am Beispiel der Stadt Bremen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Angewandt auf das konkrete Forschungsfeld Bremen wird nachgeforscht, ob und wie sich Seefahrt und Handelskontakte, der Austausch mit Seeleuten und anderen Fremden in der Bremer Gesellschaft und Alltagskultur niedergeschlagen haben, und ob diese eine Entwicklung zu einer kulturellen Vielfalt, einer „maritimen“ Kultur angestoßen haben. Repräsentiert das hanseatische Bremen die städtische Variante einer Küstengesellschaft?

Zum einen wurde untersucht, in welchem Ausmaß die städtische Ökonomie durch Seefahrt bestimmt wurde. Zum anderen wurde Praxen des interkulturellen Austauschs in ihren Kontexten, ihren Schauplätzen und den daran Beteiligten in der städtischen Gesellschaft nachgespürt. Wer hatte welche Kontakte mit Fremdheit und Fremden, z.B. mit ausländischen oder auslandserfahrenen Seeleuten, Kaufleuten, Aus- und Zuwanderern? Wo und in welchem Kontext kam es zu solchen Begegnungen? Und: Haben die transnationalen ökonomischen Verflechtungen einen Niederschlag in lokalen kulturellen Entwicklungen gefunden?

Es geht in dieser Untersuchung also um Qualität und Quantität des transkulturellen Austausches in einer Hafenstadt in einer historischen Epoche, die in Bremen durch wachsende internationale Verflechtungen auf wirtschaftlicher Ebene gekennzeichnet war. Hieraus ergibt sich ein Ansatzpunkt zur Auseinandersetzung mit aktuellen Globalisierungstheorien. Eine mutmaßliche Parallele zu gegenwärtigen Prozessen der Globalisierung ist auch in die Eigenwerbung der Stadt eingeflossen: „Lange vor dem Zeitalter des globalen Marktes und weltumspannender Kommunikationsnetze reisten die Bremer Kaufleute durch die Welt. Sie waren erfahren im Umgang mit fremden Kulturen. Solche Weltgewandtheit schlug sich auch in Toleranz und Offenheit im Innern nieder“, spekulierten die Autoren der Bremer Bewerbung für die europäische Kulturhauptstadt 2010 (BMG 2004: 109). Tatsächlich war Seefahrt lange Zeit das wichtigste Mittel, um internationale Kommunikation zu ermöglichen. Es war - und ist - das zentrale Transportmittel zur Durchführung des internationalen Warenverkehrs. Bis zur zunehmenden räumlichen Trennung von Reederei und Hafen sowie zur grundlegenden Veränderung traditioneller Hafenfunktionen durch technische Entwicklungen in den letzten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts ← 14 | 15 → waren Hafenstädte - soweit sie Heimathäfen für Schiffe waren, die in der überseeischen Seefahrt eingesetzt wurden - Knotenpunkte von Globalisierungsprozessen. Die Untersuchung zielt darauf ab, der kulturellen Verarbeitung dieser Situation nachzuspüren.

Wenn trotz beträchtlich ansteigender Auswärtigenzahlen in Bremen nur wenige Hinweise auf Kontakte mit diesen Auswärtigen oder auf Einflüsse dieser Kulturkontakte in der bremischen Alltagskultur des 19. Jahrhunderts (außer in bestimmten, stark abgegrenzten sozialen Schichten) zu ermitteln wären, läge die Relevanz dieses Ergebnisses für die Analyse aktueller Entwicklungen auf der Hand. Es würde nahe legen, dass das Ausmaß der ökonomischen Verflechtung (Globalisierung), ja selbst der transnationalen Arbeitsmigration nicht ohne weiteres als Indiz für kulturelle Verflechtungen genommen werden darf. Von hier aus ergeben sich unmittelbare Anknüpfungspunkte zu aktuellen Konzepten der „global cities“ sowie zu den kulturanthropologischen Analysen der Herausbildung neuer Netzwerke (vgl. Sassen 1991, Hannerz 1980, 1992, 1995, 1996, Bhabha 1996, Appadurai 1991). Nur selten werden Kulturen in kulturwissenschaftlichen Forschungen heute noch als isolierte, in sich homogene und an einen festen Ort gebundene Einheiten verstanden. Mit der Erkenntnis, dass „die Fremde“ bzw. fremde Menschen, das angestammte Gebiet der Kulturanthropologie, zunehmend auch im eigenen Land zu finden waren, entdeckten Ethnologen die multiethnischen urbanen Zentren der USA bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Forschungsfeld (vgl. u.a. Kokot/Bommer 1991, Bräunlein/Lauser 1995). Aktuelle stadtethnologische Untersuchungen begreifen urbane Zentren als Knotenpunkte transnationaler Netzwerke, die weit über das städtische Territorium hinausweisen (vgl. Hannerz 1980, 1992, Kokot 2000: 3ff.). Hafenstädte, die gerne als "Resultate unmittelbarer Begegnungen der Menschen im Hafen" definiert werden (Rudolph 1980: 5), könnten diesem Bild der Multiethnizität theoretisch also in besonderem Maße entsprechen. Es ist aber die Frage, in welchem Umfang unmittelbare Begegnungen, transkulturelle Kontakte und kulturelle Verflechtungen Teil der Realität dieser Hafenstädte waren.

Der zeitliche Rahmen der Untersuchung konzentriert sich auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bzw. auf die Phase des wirtschaftlichen Umbruchs in der Schifffahrt. In den deutschen seefahrenden Staaten erfolgte dieser in den letzten Jahrzehnten des 18. und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts.3 In Bremen ist diese Phase mit der transatlantischen Aus ← 15 | 16 → weitung des Bremer Handels und dem Einstieg Bremer Kaufmannsreeder in das Auswanderergeschäft verbunden. Der Zeitraum umfasst die Epoche nach der Französischen Revolution, in der sich in Bremen aufgeklärtes Gedankengut verbreitete. Er enthält auch die relativ kurze Episode der Französischen Besatzung (1811–1814) und deren Konsequenzen für die wirtschaftliche und kulturelle Praxis der Bewohner der Hansestadt. Inbegriffen ist ferner die Epoche der Restauration, deren Leitgedanken Politik und Alltag in Bremen nach 1815 geprägt und die legislative und die exekutive Praxis im Umgang mit Fremden bestimmt haben.

Es galt zunächst zu ermitteln, ob in diesem Zeitraum die wirtschaftlichen Voraussetzungen zur Herausbildung „maritimer Kultur“ gegeben waren, d.h. welche Bedeutung Seefahrt und Seehandel in der städtischen Ökonomie hatten. Daran anknüpfend wurde danach gefragt, ob und wie sich die Auslandsverbindungen der Kaufmannsreeder und die Erfahrungen von Seeleuten im Ausland im Alltagsleben der Stadt niedergeschlagen haben. (Bekannt ist beispielsweise, dass in der bremischen Oberschicht im 18. Jahrhundert gern niederländisch gesprochen wurde, im 19. Jahrhundert wurden dagegen Englischkenntnisse selbstverständlich.) Im dritten und vierten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts war Bremen bzw. Bremerhaven führend im Auswanderergeschäft, die bremische Schifffahrt stand an erster Stelle der deutschen seefahrenden Staaten und die Zahl auswärtiger Seeleute, die sich zeitweise auf Bremer Staatsgebiet aufhielten, war beträchtlich gestiegen. Gleichzeitig hielten sich viele Seeleute nun sehr viel häufiger und sehr viel länger als zuvor in außereuropäischen Hafenstädten auf. Quellen über die Verarbeitung ihrer Erfahrungen und einen eventuellen Niederschlag in lokalen Praxen des Alltagslebens sind jedoch spärlich. Seit dem weitgehenden Ende der saisonalen Begrenzung von Seefahrt sonderte sich das Leben von Seeleuten insgesamt eher vom alltäglichen Leben an Land ab. Von jetzt an waren viele Seeleute wochen- und monatelang von ihren Heimatorten fern. Diese Entwicklung stand mit dem Übergang zur transatlantischen Seefahrt und mit der Nutzung von Schiffen zur so genannten Tramp-Schifffahrt in Zusammenhang (vgl. Gerstenberger/Welke 1996). Derartige Fahrten, auf denen in überseeischen Häfen Anschlussfrachten gesucht wurden, konnten oft jahrelang dauern. Selbst wenn ein Schiff dann schließlich in den Heimathafen zurückfuhr, reichte die Zeit vor der nächsten Ausfahrt oft nicht für ← 16 | 17 → eine Heimfahrt auswärtiger Seeleute aus. Seemannsheime und alle Einrichtungen, die darauf abzielten, Seeleuten möglichst schnell möglichst viel Geld aus den Taschen zu ziehen, entwickelten sich. Seit dieser Zeit hielten sich also zunehmend fremde Seeleute in den Häfen auf. Es ist aber fraglich, wer - außer Gastwirten, Heuer-Baasen, Ausrüstern und Dirnen - mit ihnen in Kontakt kam. Es ist genauso denkbar, dass die Verschränkung lokaler Alltagspraxis mit fremden Bräuchen, Wertvorstellungen, Glaubenspraktiken und Rechtskulturen mit der Anwesenheit einer wachsenden Zahl auswärtiger und ausländischer Seeleute in einer Hafenstadt eher abgenommen hat. Zu Beginn der Untersuchung wurde daher die Hypothese formuliert, dass wirtschaftliche Verflechtung nicht automatisch zu kultureller Verflechtung oder Interkulturalität auf allen Ebenen der kulturellen Praxis und Gesellschaft führen muss.

Hat sich womöglich schon früher die Weltläufigkeit in allererster Linie in Gewohnheiten des Essens und des Trinkens niedergeschlagen? Ist das „Keukenragout“ eine Verarbeitung der ostasiatischen Seereisen, ganz ähnlich wie die für Norddeutschland außergewöhnliche Weinkennerschaft ein Resultat der früheren regelmäßigen Reisen bremischer Schiffe nach Bordeaux war? ← 17 | 18 → Und sind beide gewissermaßen Vorläufer von Paprika und Döner, die in jeweils unterschiedlichen Phasen der Nachkriegszeit durch „Gastarbeiter“ sowie Migranten in die „deutsche“ Küche integriert wurden?

Reduziert sich also die kulturelle Vielfalt der Hafenstadt Bremen auf eine Vielfalt der Waren-, Handels- und Esskultur? Zumindest war es diese kaufmännisch kolonialisierte Fremdheit (Fremdheit als Kolonialware), die in späteren Jahren in Selbstpräsentationen wie der Bremer „Handels- und Kolonialausstellung“ von 1890 ausgestellt wurde.4 Gezeigt wurden dort überseeische Produkte wie Tabak, Baumwolle, Petroleum, Kaffee, Reis, Schellack, Jute etc., Informationen über „länder- und völkerkundliche Eigenarten“ der Herkunftsländer aber auch leibhaftige Vertreter dieser fernen Kulturen. Menschen aus Übersee, Inder, Japaner und Burmesen sollten die exotische Szenerie beleben (vgl. Lüderwaldt 1995: 36 ff.). Die fremde Kultur wurde als Völkerschau in einer Handelssaustellung präsentiert. Dies verdeutlicht, unter welchen Voraussetzungen im Bremer Überseehandel wirtschaftliche Verflechtungen zu kulturellen Verschränkungen geführt haben könnten: Fremdheit wurde möglicherweise dann gesellschaftsfähig, sobald sie sich rentabel zeigte - als Ware bzw. als Bestandteil einer bürgerlichen Waren-, Handels- und Genusskultur. Dies würde die These stützen, dass das Ausmaß der ökonomischen Beziehungen nicht ohne weiteres als Indiz für kulturelle Verflechtungen genommen werden kann. Die Nutzbarkeit der fremden Kultur als Handels- und Konsumgut, so eine Hypothese, könnte in diesem Fall den Grad ihrer »Diffusion« in das lokale Alltagsleben bestimmt haben.

Bremen als Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Forschungen

Mit Wirtschaft und Geschichte der Stadt Bremen und der Mentalität ihrer Bürger haben sich lokale Historiker bereits in dem hier behandelten Forschungszeitraum befasst.5 Viele ältere und lokalhistorische Arbeiten sahen in Bremen eine konsequente Entwicklung von der glanzvollen Hanseblüte bis zur Welthandelsmetropole des 20. Jahrhunderts umgesetzt.6 Auch heute sind viele „Bremensien“, wie Monographien zur Stadtgeschichte und Wirtschaftsgeschichte in Bremen genannt werden, als Erfolgsgeschichten ← 18 | 19 → kaufmännischen Wagemuts abgefasst. Oft stellen diese Arbeiten das erfolgreiche Mühen der hanseatischen Bürger um ihre Unabhängigkeit, ihre freiheitliche Verfassung und ihren wirtschaftlichen Unternehmergeist in den Mittelpunkt.7

Das Bremer Bürgertum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben zuletzt ausführlich Andreas Schulz (2002) und, fokussiert auf Herrschaftsstrukturen und Eliten, Nicola Wurthmann (2009) untersucht. Wurthmann rekonstruierte die Herrschaftspraxis zwischen 1813 und 1848 in der politischen Lebenswelt historischer Akteure mit dem Anspruch, die Funktionsweise von Herrschaft innerhalb elitärer Strukturen, Personen und Institutionen zu ergründen (ebd.: 460). Die Historikerin entdeckte in Bremen eine „Mischform zwischen der bewusst bewahrten Honoratiorenherrschaft und einer beginnenden bürokratischen Herrschaft“ (ebd.: 467). Die Reformbereitschaft der politischen Führungsschichten und Eliten habe jedoch an der „Partizipation der Gesamtheit der Bürger an der Herrschaft“ ihre Grenzen gefunden (ebd.: 466).

Andreas Schulz groß angelegte Forschung über das Bremer Bürgertum entstand in den 1990er Jahren und erschien 2002, als die Stadtgeschichtsforschung für die Übergangsphase um 1800 von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft eine Konjunktur erlebte. Die meisten dieser Forschungen beschäftigten sich mit der Entstehung des modernen Bürgertums auf einem von zwei Pfaden, welche die Bürgertumsforschung seitdem beschritten hat. Die Richtungen wurden dabei von den konkurrierenden Schulen des Bielefelder Sonderforschungsbereichs unter Hans-Ulrich Wehler beziehungsweise von dem Frankfurter Forschungsprojekt um Lothar Gall vorgegeben.8 Dem Bielefelder Ansatz liegt die Überlegung zugrunde, dass das Bürgertum in den Städten des 19. Jahrhunderts „keineswegs“ eine „homogene Sozialformation“ bildete, sondern ein „heterogenes Konglomerat von Besitz- und Erwerbsklassen“ (Schmuhl 998: 8). Angesichts dieser sozialen Heterogenität bürgerlicher Sozialgruppen sei bürgerliche Gemeinsamkeit eher in einem Ensemble übereinstimmender Werthaltungen und sozialer Praktiken, in einem spezifisch bürgerlichen Lebensstil“ zu suchen (Hein 1998: 3). Dieser Lebensstil wurde von Rainer Lepsius und Jürgen Kocka unter dem Begriff „Bürgerlichkeit“ zusammengefasst (vgl. Kocka 1995).

Lothar Gall, zu dessen Schülern Andreas Schulz zählt, näherte sich dem Bürgertum dagegen methodisch über die Analyse der städtischen Strukturen an. Galls favorisiertes Konzept der Bürgertumsforschung betont die „allmähliche Herausbildung des modernen Bürgertums aus dem Stadtbürgertum der ← 19 | 20 → traditional-ständischen Gesellschaft“ und erkennt die gemeinschaftsformende Kohäsionskraft in der „konkreten sozialen und politischen Interaktion der Bürger im städtischen Rahmen“ (Hein 1998: 3). Zu einem Konsens zwischen den beiden Konzepten kam es auf theoretischer Ebene bis heute nicht. In der Forschungspraxis haben sich jedoch zahlreiche Überschneidungen ergeben und viele Unterschiede verwischt. Da diese Arbeit einen anderen Ansatz verfolgt, werden inhaltliche und theoretische Anleihen bei beiden Konzepten gemacht, ohne eine der Schulen zu favorisieren.

Andreas Schulz, dessen Untersuchung über Bremen als Habilschrift im Rahmen des Frankfurter Forschungsprojektes entstand, untersucht ausführlich Bremer Bürger und Eliten und deren Verhältnis im langen Zeitraum zwischen 1750 und 1880. Zwar habe sich in dieser Zeit nicht die „Vision einer kulturellen und sozialen Homogenisierung des Bürgertums erfüllt“ (ebd.: 710), das Verhältnis der beiden Gruppen habe sich in diesem Zeitraum jedoch stark verändert von der ständischen Gesellschaft hin zum bürgerlichen Kapitalismus und Liberalismus. Trotz aller Umgestaltungen konstant geblieben sei jedoch der „primäre kulturelle Referenzraum“ (Schulz 2005: 3) der Bürger: die Stadt Bremen als Fixpunkt gemeinsamer Wertorientierungen, Versuchslabor für politische Ordnungsmodelle und Ort des „Ausgleichs gesellschaftlicher Interessensgegensätze“ (Schulz 2002: 704). Wie unterschiedliche Interessen z.B. am Ausbau der Seewirtschaft, an der Entfaltung bürgerlich-kultureller Ideale oder an der Entwicklung von Herrschaftsregimen im Untersuchungszeitraum in Bremen in Einklang gebracht wurden, ist ein Thema dieser Arbeit geworden.

In seiner 2005 erschienenen Geschichte der „Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert“ verwendet Schulz das Konzept der „Lebenswelt“, das darauf abhebt, Erfahrungs- und Handlungsräume sozialer Akteure nicht als objektive Realität, sondern als „wahrgenommene Umwelt“ zu beschreiben (Schulz 2005). In seinem Bremenband hält Schulz allerdings explizit an der Vorstellung von Bürgertum als einer „sozialhistorisch-empirisch identifizierbaren sozialen Realität“ fest (Schulz 2002: 12). Diese vollziehe sich in einem eingrenzbaren, jedoch veränderlichen Rahmen, der Stadt. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts habe sich dort eine spezifisch bürgerliche Alltagskultur ausgeprägt, die nach Schulz als intensiver „Kommunikationsprozess über gemeinsame Werte und Zukunftsprojekte“ und als „Austausch über Kultur und Bildung, über Kunst und Wissenschaft, über Politik und Gesellschaft“ zu verstehen sei (ebd.: 10).

Die meisten älteren und neueren bremengeschichtlichen Arbeiten betonen, wie auch Schulz, die Bedeutung von Seefahrt und Handel für die Bremer Gesellschaft und die bürgerliche Kultur. Andere befassen sich explizit mit Seehandel und Schifffahrt in Bremen oder der Entwicklung der Bremer Häfen. Vor dem Hintergrund der Küstengesellschaftsdebatte wurde Bremen ← 20 | 21 → bislang jedoch nicht untersucht. Auch eine Arbeit, die sich explizit dafür interessiert, wie sich der Einfluss des Seehandels und der Schifffahrt in einer bestimmten Epoche in der sozialen und kulturellen Praxis niedergeschlagen hat, wurde über Bremen bisher nicht geschrieben.

Methodisches Vorgehen

Theoretisch und methodisch wird in dieser Arbeit nicht unmittelbar an die Arbeiten der Küstentheoretiker angeknüpft. Es war nicht mein Ziel, die These der Küstengesellschaft am Beispiel Bremens zu verifizieren oder zu falsifizieren, auch wenn es nicht schwer fallen würde, Beweise für die eine oder andere Position im alten Bremen zu finden, je nachdem ob für oder gegen die Existenz einer Kultur der Nordsee und anderer maritimer Kulturen argumentiert werden soll. Um nicht selbstreferentiell zu verfahren, was mitunter der Fall ist, wenn vorhandene theoretische Konzepte (oder die Kritik daran) durch das Auffahren neuer Daten gestützt werden sollen, habe ich mich dem Feld, d.h. den historischen Quellen und der Bibliothek der „Bremensien“, mit einer ethnologischen Herangehensweise genähert. Der historische Anthropologe Wolfgang Reinhard (2004: 10) hat dieses Vorgehen den „ethnographischen Blick auf die Geschichte“ genannt. Das Paradigma der historischen Anthropologie, auf das dabei zurückgegriffen wurde, bezieht sich unter anderem auf Michel Foucault, der „die Ethnologie unserer eigenen Gesellschaft gefordert und als Historiker zu verwirklichen versucht“ hatte (ebd.).

Die historische Anthropologie, die als Fachdisziplin erst noch im Werden ist, vereint heterogene Forschungsinteressen und Methoden. Insgesamt wird sie jedoch durch die Rezeption ethnologischer Forschungen, die Aufnahme von Forschungsergebnissen und Methoden aus der Volkskunde und der Empirischen Kulturwissenschaft getragen. Historische Anthropologen interessieren sich besonders für die Praxis der historischen Akteure sowie für die Ungleichzeitigkeiten und Brüchen darin (Lüdke 1998). Historisch-anthropologische Arbeiten lassen sich zwar nicht auf ein klar definiertes Methodenspektrum festlegen, gemeinsam ist den meisten Studien historischer Anthropologen jedoch ihr Anliegen, die Vielfalt der Erscheinungen und Pluralität der Perspektiven bei der Erforschung historischer kultureller und sozialer Praxen zu beachten und zu differenzieren. Oft wird dies durch die Betonung des Einzelmenschen, des historischen Akteurs erzielt, weshalb Alf Lüdtke die Mikrogeschichte zum Programm der historischen Anthropologie erhoben hat (ebd.). Meist sind es kleine, überschaubare Räume, die zur Untersuchung ausgewählt werden, um möglichst viele Lebensbezüge, Unterschiedlichkeiten und Widersprüche in ihnen erfassen zu können. Für die „dichte Beschreibung“ dieser geschichtlichen Phänomene hat die historische Anthropologie das gleichnamige Konzept des Ethnologen Clifford Geertz für ← 21 | 22 → sich entdeckt, das neben Pierre Bourdieus Habituskonzept zu einer wichtigen Grundlage historisch-anthropologischen Arbeitens geworden ist. Lüdtke bescheinigt der historischen Anthropologie eine erklärte Distanz zu allen großflächigen Theorieentwürfen. Besonders solche Konzepte, die normativ aufgeladene, modernisierungstheoretische Grundzüge in sich tragen, kaschieren nach Lüdtke die Gestaltung der Geschichte durch die “historischen Akteure”. Geschichte vollziehe sich seiner Ansicht nach nicht in vorgegebenen Strukturen, sondern werde gestaltet durch die Praxis der geschichtlichen Akteure, die sich solche Strukturen aneignen oder sich ihnen versperren (ebd.).9 Seit 1993 erscheint die Zeitschrift Historische Anthropologie als Forum für die geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung und Diskussion aktueller Themen nach diesem Modell. Rituale, symbolische Handlungen und diskursive Strategien werden in diesem Forum ebenso thematisiert wie die spezifischen Erfahrungen, Selbstbilder und Praktiken historischer Akteure und Akteurinnen. Ihre Verhaltens- und Handlungsweisen, Interpretationen und Imaginationen werden in deren jeweiligen historisch-sozialen Zusammenhängen untersucht.10

Dem entspricht im Großen und Ganzen auch meine Vorgehensweise in dieser Untersuchung. So stand zu Beginn der Forschung eine ausgiebige „explorative“ Phase, in der ich, der holistischen Auffassung der Ethnologie folgend (Fischer 1998: 79f.), Daten aus allen Gesellschaftsbereichen gesammelt habe, die Hinweise auf Seefahrt und Handel und den Umgang mit „fremden“ Menschen und Kulturen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Bremen lieferten.11 Ich ließ mich dabei von dem Prinzip der Offenheit gegenüber dem Forschungsgegenstand und seinen Erfordernissen leiten. Meine Theorie sollte gegenstandsbegründet entstehen und so dirigierten die vorgefundenen Bremer Quellen mein weiteres Vorgehen und die Untersuchungsfokusse, die sich herauskristallisierten. Diese Phase war sehr arbeitsintensiv und mein wenig spezifisches Forschungsinteresse trug mir auch Skepsis von Vertretern der etablierten Geschichtswissenschaften ein. Aus der Masse des Materials stachen nach und nach thematische Stränge und immer wiederkehrende Schemata hervor. So entstand mit der Zeit ein sehr vielschichtiges und heterogenes Bild der „maritimen“ Stadt, das sich deutlich unterschied von den im Konzept der Küstengesellschaft präferierten Mustern, die von der Idee der kulturellen und sozialen Homogenität getragen ← 22 | 23 → werden. Diesem Vorgehen folgt auch meine Darstellung. In den folgenden Kapiteln werden zunächst die Ergebnisse meiner Bremer Untersuchung nachgezeichnet. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Küstengesellschaftstheorien, der Theorieteil dieser Untersuchung, folgt erst danach in Auseinandersetzung mit den Bremer Daten.

Der von mir gewählte Zugang zum Forschungsgegenstand gestattete sowohl statistische Erhebungen von Matrosen- und Schiffsbewegungen in Bremer Häfen und die Lektüre und Auswertung von Archivquellen, als auch ein intensives Studium anderer schriftlicher Quellen. Außerdem verstellte er nicht die Möglichkeit, die Bilder und Repräsentationen „maritimer“ Kultur in die Untersuchung mit aufzunehmen, die historisch für das Forschungsfeld von Bedeutung waren und sind.

Historische und aktuelle Repräsentationen, die einen Zusammenhang von Seefahrt und Kultur betonen, wurden in küstengesellschaftlichen Studien bislang nur wenig (für den Indischen Ozean bei Deutsch/Reinwald 2002) oder gar nicht (für die Nordsee) beachtet. Das „maritime“ Bremen, das Bild einer Stadt mit einer genuinen Verbindung zum Meer und zur Seefahrt, war jedoch seit jeher auch eine diskursive Größe. Schon um 1800 war im Bremer Bürgertum die Idee einer Wechselbeziehung zwischen Kultur und Seehandel verbreitet, die in späteren Jahrzehnten immer wieder aufgenommen wurde. Heute wirbt Bremen mit einem Geschichtsbild, das die Beständigkeit hanseatischer Traditionen, „bürgerschaftlicher Verantwortung“ und einer „weltoffenen Kultur der Toleranz“ und „Liberalität“ betont (BMG 2004: 109).12

Maritime Kultur ist »in« in Bremen. Vor diesem Hintergrund die essentielle Frage zu stellen, ob es eine maritime Kultur, wie sie hier vorausgesetzt ← 23 | 24 → wird, überhaupt gab, mag ein wenig häretisch klingen. Die Fragestellung ist jedoch hochaktuell, beleuchtet sie doch den historischen Hintergrund, auf den sich aktuelle Werbeslogans und lokale Sanierungskonzepte beziehen. Während die Kontakte mit Fremden und interkulturelle Verflechtungen in der Bremer Alltagskultur des 19. Jahrhunderts de facto nicht überall so eindeutig auszumachen sind, wie es auf den ersten Blick scheint, und man oft eher Hinweise auf komplexe Differenzierungs- und Ausgrenzungsmechanismen entdeckt, begegnet man allenthalben solchen Repräsentationen des „Maritimen“. Die symbolische Bedeutung der Verbindung der Stadt zum Meer, besonders aber zum Seehandel kam schon im 19. Jahrhundert in dominanten Erzählnarrativen, im Selbstbild und in der kulturellen Praxis des Bremer Bürgertums zum Ausdruck. Daher habe ich diese Selbstbilder und Diskurse der Menschen in die Untersuchung mit einbezogen. Ihre Identifikationen und ihre Bemühungen zur Verortung und Charakterisierung der eigenen Kultur und Mentalität sind Bausteine des dynamischen Prozesses, in dem diese Kultur erst entsteht. Aus diesem Grund habe ich mich auch mit dem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gängigen kulturellen Verständnis von Seefahrt und Handel befasst. Dem Platz dieser Repräsentation in der Alltagskultur des Bremer Bürgertums widme ich ebenso Aufmerksamkeit wie dem konkreten Ort, den Seefahrer und Seehandel im Alltagsleben in Bremen einnahmen bzw. den Räumen, die ihnen zugewiesen wurden.

Diskurse, symbolische, kulturelle und soziale Praxis sind also gleichermaßen gefragt und die Quellen, in denen diese Diskurse und Praxen explizit werden, machen einen guten Teil des Datenmaterials dieser Untersuchung aus.

Die Einbeziehung solcher kulturellen Repräsentationen (vgl. Hall 1994) ist eine sinnvolle Ergänzung zu den Möglichkeiten kulturhistorischer Quellenforschung. Sie entspricht neueren Forderungen von Kulturwissenschaftlern, Regional- und Geschichtswissenschaftlern, den Konstruktcharakter, die Kontextualität und Situiertheit lokaler Kultur in Forschungen zu berücksichtigen (vgl. Hall 1994, Marcus 1995, Hobsbawm 1983, Reulecke 1997: 29ff.).

Details

Seiten
482
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653040920
ISBN (ePUB)
9783653989441
ISBN (MOBI)
9783653989434
ISBN (Hardcover)
9783631649589
DOI
10.3726/978-3-653-04092-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (August)
Schlagworte
Matrosen Kaufleute Bürgertum Hafenstädte
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 482 S., 8 farb. Abb., 135 s/w Abb.

Biographische Angaben

Jan C. Oberg (Autor:in)

Jan C. Oberg ist Kulturwissenschaftler und Ethnologe. Seine Forschungsschwerpunkte sind maritime Kultur- und Sozialgeschichte, Anthropologie des Monströsen und Kindheitsforschung. Er ist Mitglied des Bremer Instituts für Kulturforschung (bik) und derzeit als Lektor im Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft an der Universität Bremen tätig.

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Titel: Gab es in Bremen im 19. Jahrhundert eine maritime Kultur?
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