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Die Rezeption von Religion in romantischer und moderner Literatur

Alfred de Vigny – Gérard de Nerval

von Jonas von Moritz (Autor:in)
©2014 Dissertation 353 Seiten

Zusammenfassung

Die Werke Alfred de Vignys und Gérard de Nervals gelten nicht als religiöse Literatur. Dennoch rezipieren diese beiden französischen Autoren des 19. Jahrhunderts religiöse Formen und Inhalte, die sie ihrer theologischen Bedeutung entledigen, um ihnen eine rein ästhetische Signifikanz zu verleihen. Im Kontext der Säkularisierungsthese beleuchtet diese Arbeit diese Transformierungsprozesse. Anhand der Verschiedenheit der Rezeption von Religion in den untersuchten Werken der beiden Autoren lässt sich die Notwendigkeit einer Unterscheidung von Romantik und Moderne aufzeigen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagungen
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 2. Funktionalisierung des Christentums und klerikale Selbstbehauptung im Frankreich des 19. Jahrhunderts
  • 2.1 Die Eingliederung der katholischen Kirche in den französischen Staat in der Revolution und im napoleonischen Kaiserreich
  • 2.2 Christlicher Traditionalismus und konservative Ideologie
  • 2.3 Liberale Theologie und sozialrevolutionäre Programmatik
  • 2.4 Integrismus als Form klerikaler Selbstbehauptung
  • 2.5 Ausblick
  • 3. Rezeptionen religiöser Formen und Inhalte in französischen Kunsttheorien des 19. Jahrhunderts
  • 3.1 Ästhetische Apologie des Dogmas und ästhetischer Sentimentalismus
  • 3.2 Gegenüberstellungen von dogmatischer und ästhetischer Symbolik
  • 3.3 Die Vorstellung von Prophetie und das romantische Literaturverständnis
  • 3.4 Das Konzept der weiblichen Alterität
  • 4. Die französischen Romantiker und das Konzept der Prophetie
  • 4.1 Pierre-Simon Ballanche: Der Dichter als Prophet der Menschheitsreligion
  • 4.2 Victor Hugo: Dichter und Prophet im Dienst für die Fortschrittsreligion
  • 4.2.1 Dichtung als Prophetie für die Fortschrittsreligion
  • 4.2.2 Weibliche Figuren als Mittlerinnen
  • 5. Die französische Moderne: Dichtung und das Konzept der weiblichen Alterität
  • 5.1 Karikatur prophetischer Figuren und Rezeption weiblicher Alteritätsfiguren
  • 5.1.1 Ablehung des romantisch-prophetischen Dichtungsverständnis
  • 5.1.2 Moderne Poetologie und weibliche Alteritätsfiguren
  • 5.2 Stéphane Mallarmé: Selbstreferentielle Dichtung und geheimnisvolle weibliche Alterität
  • 5.2.1 Erfüllung prophetischer Verheißung als poetologisches Thema
  • 5.2.2 Der Trimuph des Weiblichen über das Prophetische: Hérodiade
  • 5.2.3 Die Heilige Cäcilia und die Heilige des Gedichtes Sainte
  • 5.3 Zwischenfazit
  • 6. Alfred de Vigny – kritische Auseinandersetzung mit dem Prophetenkonzept
  • 6.1 Der strafende Gott und die philosophische Verzweiflung
  • 6.2 Moïse – Der Prophet als gesellschaftlicher Außenseiter
  • 6.3 Éloa, ou la Sœur des Anges – Der Ausbruch aus der Mittlerrolle
  • 6.3.1 Éloa als leidender Mittlerfigur
  • 6.3.2 Der Satan als narzistischer Verführer Éloas
  • 6.3.3 Zusammenfassung und Ausblick
  • 6.4 Le Mont des Oliviers – Abgesang des romantisch-prophetischen Dichtungsverständnisses
  • 6.4.1 Jesus – eine romantisch-prophetische Mittlerfigur
  • 6.4.2 Biblisch-dogmatische Tradition versus philanthropische Brüderlichkeit
  • 6.4.3 Rationalistische Skepsis
  • 6.4.4 Schweigende Dichtung
  • 6.4.5 Zusammenfassung
  • 6.5. Daphné – Die tote Transzendenz
  • 6.5.1 Die Primitivität der Masse und das intellektuelle Individuum
  • 6.5.2 Kaiser Julian als Verkörperung der esoterisch-elitären Daphné-Gemeinschaft
  • 6.5.3 Die Unvermittelbarkeit der Wahrheit
  • 6.5.4 Zusammenfassung und Ausblick
  • 7. Gérard de Nerval – Literatur als neues Leben
  • 7.1 Künstlerische Identität und weibliche Alteritätsfiguren
  • 7.2 Les Chimères – Moderne Dichtung und Konzepte der Alterität
  • 7.2.1 Le Christ aux Oliviers – Ironisierung des romantisch-prophetischen Dichtungsverständnisses und Herausbildung einer modernen Poetologie
  • 7.2.1.1 Ironisierung des narrativen romantischen Stils
  • 7.2.1.2 Ironisierung der prophetischen Jesusfigur
  • 7.2.1.3 Die Suche nach einer modernen Dichtung
  • 7.2.2 Antéros – mythischer Opponent der göttlichen Liebesordnung
  • 7.2.3 El Desdichado – Konzepte der Wiedergeburt und der weiblichen Alterität
  • 7.2.3.1 Religiöse Motive der Auferstehung und Wiedergeburt
  • 7.2.3.2 Die Identität des lyrischen Ichs und das Konzept der weiblichen Alterität
  • 7.2.4 Dichtung und das Konzept weiblicher Alterität: Horus, Delfica, Myrtho, Artémis
  • 7.2.5 Zusammenfassung
  • 7.3 Sylvie. Souvenirs du Valois – Defizitäre Realität und Epiphanien der Alterität
  • 7.3.1 Die Prekarität des Ich-Erzählers
  • 7.3.2 Die Handlungsebene der Vergangenheit und die Vorstellung einer heiligen Zeit
  • 7.3.3 Die Rolle der Schauspielerin und das Konzept der weiblichen Alterität
  • 7.3.4 Zusammenfassung
  • 7.4 Aurélia ou le Rêve et la Vie – Traumexistenz als neues Leben
  • 7.4.1 Traumexistenz und Krankheit des Ich-Erzählers
  • 7.4.2 Aurélia – Figur absoluter Alterität in der Wahrnehmung des Ich-Erzählers
  • 7.4.3 Die Traumwelt als Alteritätsraum
  • 7.4.4 Die Traumexistenz als Leben in einer Literaturwelt
  • 7.4.5 Schlussfolgerungen
  • 8. Conclusio
  • 9. Literaturverzeichnis
  • 9.1 Primärliteratur zu Vigny
  • 9.2 Primärliteratur zu Nerval
  • 9.3 Weitere Primärliteratur
  • 9.4 Sekundärliteratur

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1. Einleitung

Die Werke der französischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts Alfred de Vigny und Gérard de Nerval gelten nicht als religiöse Literatur, dennoch beziehen sie sich in Form und Inhalt häufig auf religiöse Traditionen. Beide Autoren sind, wenngleich sie katholisch getauft worden sind, zeit ihres Lebens keine bekennenden Christen, sondern stehen in einem kritisch-distanzierten Verhältnis zum institutionellen Christentum. Die Untersuchung der Rezeption von Religion in den Werken Vignys und Nervals steht im allgemeinen Kontext der Erforschung des Verhältnisses zwischen Religion und Literatur.

Die wesentliche Gemeinsamkeit des religiösen und des literarischen Wirklichkeitszuganges gründet darin, dass sowohl Religion als auch Literatur auszeichnet, sinnstiftende Beziehungen zum Unsichtbaren herzustellen, was bis in die Gegenwart hinein zu Formen der Symbiose, aber auch zu Spannungen zwischen klerikalem und künstlerischem Selbstbewusstsein geführt hat. Als kulturgeschichtliche Beispiele eines sich stetig wandelnden Verhältnisses zwischen Religion und Literatur im Laufe verschiedener Epochen sind folgende Erscheinungen zu nennen: die griechische Tragödie, die ursprünglich ausschließlich im Rahmen von kultischen Feiern aufgeführt wurde; die Mysterienspiele, welche zur Illustration des christlichen Heilsgeschehens die dramatische Gattung im Mittelalter dominierten; der Einfluss biblischer Motive und christlicher Legenden auf die allegorische Tradition; der bis in die Gegenwart fortdauernde häufige Rückgriff auf Stoffe, Themen und Motive, die der Bibel (aber auch, vor allem seit dem 19. Jahrhundert, den heiligen Büchern anderer Religionen), Heiligenlegenden oder kirchengeschichtlichen Ereignissen entnommen sind und deren Rezeption von einem affirmativen bis hin zu einem blasphemischen Verhältnis zur orthodoxen Lehre der institutionellen Religion reicht.

Das Christentum, das seit dem Ausgang der Antike im Abendland dominiert, bestimmt über lange Zeit die Grenzen, welche der Literatur (und mit ihr der Kunst im allgemeinen) zu ihrer Entfaltung vorgegeben sind. Die Kunst gilt daher für Jahrhunderte als „Medium einer Religion, die für die Artikulation ihrer Erfahrung des Mediums der Kunst bedarf.“1 Der mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin beschreibt das Verhältnis von Literatur und Theologie wie folgt:

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[P]oeta utitur metaphoris propter repraesentationem: repraesentatio enim naturaliter delectabilis est. Sed sacra doctrina utitur metaphoris propter necessitatem et utilitatem, ut dictum est.2

Der Aquinate konstatiert, dass Dichter („poeta“) Metaphern zu einem anderen Zweck verwenden als die Theologie („sacra doctrina“). Der Literatur dienen sie allein zur unterhaltenden Darstellung, die Theologie bedarf ihrer aus Notwendigkeit und Nützlichkeit. Den literarischen Genuss ordnet er der „sacra doctrina“ unter. „Nicht nur die Philosophie, auch die Kunst wird so zur ancilla theologiae.“3

Die Überwindung der christlichen Dominanz über die abendländische Kultur führt zur Befreiung der Literatur aus der Dienstbarkeit gegenüber der orthodoxen Theologie. Dennoch nimmt die Auseinandersetzung mit dem religiösen Erbe in der Literatur bis in die Gegenwart eine wichtige Rolle ein. Wenn auch keine institutionell-religiösen Vorgaben mehr Geltung haben, werden in der Literatur sowie in anderen Lebensbereichen religiöse Formen, Stoffe und Motive weiterhin rezipiert.

Als eine Erklärung für das Verhältnis der Moderne zur Religion gilt die Säkularisierungsthese,4 die in verschiedenen Wissenschaften entfaltet worden ist. Carl Schmitt behauptet in seiner Politischen Theologie, dass „[a ]lle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre […] säkularisierte theologische Begriffe“5 seien. Karl Löwith leitet in einer chronologisch rückwärts schreitenden geschichtsphilosophischen Analyse das in der Gegenwart vorherrschende linearteleologische Geschichtsverständnis aus der jüdisch-christlichen Eschatologie ← 12 | 13 → her.6 Auch in der Literatur werden Formen und Inhalte aus religiösen Kontexten aufgegriffen, die – aus ihrem traditionellen religiösen Zusammenhang gelöst – neue Signifikanzen erhalten.7 Es setzen Transformierungen von Glaubensinhalten ein.8 Der Verlust der traditionell-religiösen Transzendenz eröffnet der Literatur (und im weiteren Sinne der Kunst) die Möglichkeit, eigene Wege der Transzendierung zu finden.9

Die Annahme einer Säkularisierung in der Literatur, der wir folgen, stellt die Literaturwissenschaft vor die Herausforderung, Transformierungen religiöser und theologischer Vorstellungen in literarischen Werken genauer zu erforschen: Welche Figuren, Motive und Themen der religiösen Traditionen werden aufgegriffen und in welche Kontexte hinein werden sie „umkodiert“? Inwieweit finden Projektionen theologischer Lehren auf zeitgenössische Literatur statt? In welchem Zusammenhang stehen die Darstellung reigiöser Formen und Inhalte und poetologische Fragestellungen? Wie ist das Verhältnis von Säkularisierung und Ästhetisierung?

Die Formen und Inhalte der religiösen Traditionen, auf die sich Literatur bezieht, nehmen vielerlei Gestalt an. Zu ihnen gehören etwa Texte heiliger Schriften, Heiligenlegenden und deren kirchlich-dogmatische Rezeption, theologische Lehren der Vergangenheit sowie der Gegenwart, Gebete, Frömmigkeitsübungen, Riten, kirchenhistorische Ereignisse und religionspolitische Texte. Zur Erforschung der Transformation der Signifikanz von Elementen der religiösen Traditionen in der Literatur ist der Fokus breiter anzulegen, als es motivgeschichtliche Untersuchungen zu leisten vermögen. Die genannten Erscheinungsformen des religiösen Erbes sind – die Ebene von Motiven, Stoffen und Themen übersteigend – im Kontext der religiösen und theologischen Traditionen zu betrachten.

Säkularisierungsprozesse finden in der Literatur, wie Vietta10 und Stierle11 gezeigt haben, bereits im 12. und 13. Jahrhundert statt. Im allgemeinen, geschichtlichen Kontext setzt mit der Französischen Revolution von 1789 ein folgenreicher ← 13 | 14 → Säkularisierungsschub ein. Der Untergang des von der absolutistischen Monarchie und der katholischen Kirche geprägten Ancien Régime löst insbesondere in der ersten Hälfte des folgenden Jahrhunderts gänzlich neue Reflexionen über die politische, die soziale und die religiöse Ordnung aus.12 Das Frankreich des 19. Jahrhunderts kennzeichnen einerseits die vielfachen Umstürze politischer Herrschaftsformen, deren jeweilige Beziehungen zur katholischen Kirche sich sehr unterschiedlich gestalten,13 und andererseits die Entwicklung zahlreicher gesellschaftstheoretischer Konzepte. In vielen dieser Theorien spielt die Bewertung der Religion eine wichtige Rolle. Charles Fouriers Sozialutopien greifen auf christlichreligiöse Vorstellungen (Frieden, Gerechtigkeit, Beseitigung von sozialen Benachteiligungen) zurück,14 Claude-Henri de Saint-Simon bezeichnet sein gesellschaftstheoretisches Konzept sogar als Le Nouveau Christianisme. Auch der Positivismus ist für seinen Begründer Auguste Comte nicht nur eine Wissenschaftstheorie, sondern zugleich und vor allem auch eine Religion.15 So unterschiedlich die einzelnen Ansätze und Ziele dieser und anderer Theorien auch sind, gemein ist ihnen der mehr oder weniger offen formulierte Anspruch, eine neue Art Religion zu sein. Der Niedergang der privilegierten und dominierenden Stellung der katholischen Kirche während und in der Folge der Französischen Revolution schafft ein Klima, das ambitionierte Forderungen nach einer Ablösung des Christentums als bestimmende Ordnung stiftende Macht durch neue (pseudo-)religiöse Systeme begünstigt.

Unser Anliegen ist es, einen Beitrag zur Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Literatur im Frankreich des 19. Jahrhunderts zu leisten. In diesem Zeitraum, so unsere These, werden in literarischen Werken Formen und Inhalte aus religiösen Traditionen in der Literatur transformiert.

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Der Annahme Hans Blumenbergs folgend, ist Säkularisierung nicht als „Umsetzung authentischer theologischer Gehalte in ihre säkulare Selbstentfremdung, sondern [als, J.C.v.M.] Umbesetzung vakant gewordener Positionen von Antworten, die sich hinsichtlich der ihnen korrespondierenden Fragen nicht eliminieren ließen“16 zu verstehen. Uns stellt sich damit die Frage, ob sich Vakanzen im Bereich religiöser Inhalte und Formen für das Frankreich des 19. Jahrhunderts feststellen lassen. Wir werden darum eingangs versuchen, die Hauptlinien der französischen Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts aufzuarbeiten (Kapitel 2).

Um einen kulturgeschichtlichen Zugang für unsere philologischen Untersuchungen zu erhalten, stellt sich uns die Aufgabe, das Spannungsfeld zwischen Religion und Kunst/Literatur im Frankreich des 19. Jahrhunderts aus kunst- und literaturtheoretischer Perspektive zu betrachten. In welcher Weise wird der religiöse Diskurs in der Kunsttheorie rezipiert? Die französische Romantik, die etwa in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts fällt, ist in einer materialreichen Arbeit von Paul Bénichou als „Temps des prophètes“ bezeichnet worden.17 Wir werden den Zusammenhang zwischen romantischem Dichtungsverständnis und dem religiösen Konzept des Propheten beleuchten. In der Literatur des 19. Jahrhunderts nehmen Frauenfiguren eine zentrale Stellung ein, wie bereits die Titel bedeutender Romanwerke erahnen lassen.18 Die romanischen Literaturen behandeln seit dem Mittelalter verstärkt weibliche Figuren. Im 19. Jahrhundert setzt, so unsere These, eine Akzentverschiebung hinsichtlich der Funktion der Frauenfiguren ein. Während in romantischen Werken Frauen häufig eine Mittlerrolle einnehmen, stehen weibliche Figuren etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für das Absolute und Unerreichbare, das dem poetologischen Anliegen der Moderne Gestalt verleiht und das wir im Folgenden als Konzept weiblicher Alterität bezeichnen. (Kapitel 3).

Die Konzepte des Prophetischen und der weiblichen Alterität dienen uns als Unterscheidungskriterien zwischen Romantik und Moderne. In der jüngeren Forschung zeichnet sich eine Tendenz ab, die Unterschiede zwischen der Romantik19 ← 15 | 16 → und den sie ablösenden post-romantischen Strömungen (Moderne, Realismus, Parnasse, Symbolismus) zu nivellieren – sei es durch die Betonung „moderner“ Grundlagen in der Romantik,20 sei es durch die Ausdehnung des Romantikbegriffs auf Autoren, die zu dieser Epoche in einem distanzierten Verhältnis stehen.21 Mit unserer scharfen Unterscheidung knüpfen wir an den Modernebegriff Hugo Friedrichs22 an. Freilich bezieht sich Friedrich ausschließlich auf die Lyrik. Viele seiner Begriffe und Kategorien (Entpersönlichung, Form- und Stilbewusstsein, leere Idealität, Sprachmagie, Alleinsein mit der Sprache) lassen sich jedoch auch auf narrative Werke, die in unserer Arbeit zusätzlich herangezogen werden sollen, übertragen. Neben den lyrischen Werken Charles Baudelaires, Arthur Rimbauds und Stéphane Mallarmés, mit denen sich Friedrich befasst, lässt sich z.B. auch das Prosawerk Gustave Flauberts23 von der romantischen Literatur Pierre-Simon Ballanches, Benjamin Constants, Victor Hugos, Alphonse de Lamartines, Alfred de Mussets oder George Sands abgrenzen.

In den Werken Alfred de Vignys und Gérard de Nervals nehmen Propheten- und Frauenfiguren eine hervorragende Stellung ein. Anhand der Untersuchung ← 16 | 17 → dieser Figuren wird die Trennung zwischen romantischer (Vigny) und moderner (Nerval) Literatur erkennbar.

Da unseres Erachtens, die Beleuchtung der Rezeption von Religion nicht nur zur Unterscheidung zweier Autoren, sondern zweier Epochen führt, werden wir unserem Hauptteil jeweils zwei Abhandlungen zu Autoren, die in der Forschung als paradigmatisch für die Romantik (Ballanche und Hugo, Kapitel 4) bzw. die Moderne (Baudelaire und Mallarmé, Kapitel 5) gelten, voranstellen. Freilich können wir in diesen zu unseren Hauptautoren hinführenden Kapiteln nur einen allgemeinen Einblick in die jeweiligen Werke nehmen, um die Rezeption von Religion, vor allem anhand einer Untersuchung der Propheten- und der weiblichen Figuren vorzunehmen.

Im Zentrum unserer Arbeit steht die philologische Untersuchung der Rezeption von Religion in den Werken Alfred de Vignys und Gérard de Nervals.

Vigny (1797–1863) wird zur ersten romantischen Dichtergeneration Frankreichs (zusammen mit Hugo und Lamartine)24 gezählt, in der er aber eine Sonderstellung einnimmt: Seine Werke werden von seinen Zeitgenossen weitaus weniger gelesen als jene von Lamartine und Hugo. Im Gegensatz zu diesen betritt er auch nicht nach der Juli-Revolution von 1830 die aktive politische Bühne. Während vor allem Hugo seine Literatur in den Dienst des sozialen Fortschritts stellt und dafür die Verehrung der Massen genießt, verhält sich Vigny zunehmend indifferent gegenüber der politischen Situation seines Landes. Stattdessen beschäftigt er sich vorwiegend mit kunsttheoretischen und religiösen Fragestellungen und schafft eine für das breite Publikum schwer zugängliche Literatur.

Erich von Richthoven hat behauptet, dass sich im Vignyschen Werk „zum ersten Male ein Übergang von der romantischen zur symbolistischen Dichtung Frankreichs“25 vollziehe. Von Richthovens Ausgangspunkt ist die Ablösung der romantischen Gefühlsästhetik durch eine Symbolik des Schweigens, die er bei Vigny feststellt. So veranschauliche Vignys Dichtung „den Übergang von der poésie du cœur zur poésie absolue.26 Auch wenn von Richthovens Ausführungen auch heute noch als stimmig bewertet werden müssen, gilt es zu kritisieren, dass sie den Fokus zu sehr auf einzelne singuläre Eigenheiten der Vignyschen Dichtung richten und Wesentliches (lyrische Gattung, Thema, Beziehung zum gesellschaftlichen Nutzen) aus dem Blick verlieren.

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In der jüngeren Vigny-Forschung fällt die Dominanz der psychoanalytischen Methode auf. Vor allem das im Vignyschen Werk immer wiederkehrende Thema des Ausgeliefertseins einer marginalisierten Hauptfigur an eine zynische Gottheit ist wiederholt auf ödipale Komplexe des Autors zurückgeführt worden.27 Ältere philologische Arbeiten verfolgen fast ausschließlich positivistisch-motivgeschichtliche Ansätze.28

Nerval (1808–1855) kennzeichnet die Verachtung für die fortschrittsorientierte bürgerliche Gesellschaft. Während er in jungen Jahren noch begeistert soziale Ideale verfolgt, wendet er sich nach dem Misserfolg der Juli-Revolution von 1830 von jeglichem politischen Engagement ab. Als nervenkranker Bohemien führt er das Leben eines Ausgestoßenen, dessen Literatur lange Zeit verkannt und kaum gelesen wird. Erst die Surrealisten entdecken die Originalität des Nervalschen Werkes.

Forschungsgeschichtlich ist Karlheinz Stierles Buch Dunkelheit und Form in Gérard de Nervals „Chimères“29 hervorzuheben. Stierle weist in der Nervalschen Lyrik nicht nur die Überwindung der Gefühlsästhetik, sondern auch der Bezogenheit auf die Aussagedimension, die noch für die Romantik typisch sind, nach. Die Nervalsche Dichtung ähnele in ihrem Hermetismus dem Mallarméschen Stil. Wenn Friedrich Nerval noch unter der Überschrift „Französische Romantik“ erwähnt,30 so zählt Stierle den Autor zu den Modernen Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé. Dessen ungeachtet wird Nerval jedoch in literaturgeschichtlichen Abhandlungen, die die Innovation der modernen Literatur zu wenig zu berücksichtigen scheinen, bisweilen der Romantik zugeordnet.31 ← 18 | 19 → Unser Bestreben ist es, die sich von der Romantik abgrenzende Modernität Nervals aufzuzeigen.

Abgesehen von den Arbeiten Stierles32 ist in der deutschsprachigen Forschung wenig über Nerval publiziert worden. Einzelne Aufsätze thematisieren das Phänomen der Halluzination,33 die Darstellung des Orients34 sowie das Motiv der Insel Kythera in der Erzählung Sylvie in Auseinandersetzung mit dem Watteauschen Gemälde Pèlerinage à l’île de Cythère35.

Weitaus umfangreicher ist die französischsprachige Forschungsliteratur zum Nervalschen Werk: Jacques Geninasca liefert mit seiner Analyse structurale des Chimères de Nerval36 eine strukturalistische Studie zu Nervals lyrischem Hauptwerk, neigt aber dazu, in sophistischen Detailuntersuchungen die Perspektive auf das – von Stierle hervorgehobene – Moderne in Nervals Dichtung zu verlieren. Unter Berufung auf Derridas und Foucaults Verhältnisbestimmung von Literatur und Wahnsinn untersucht Shoshona Felman die Werke Nervals sowie fünf weiterer Autoren in ihrem Buch La Folie et la chose littéraire37.

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Neben diesen textimmanenten Arbeiten sind zahlreiche Studien vorgelegt worden, die das Nervalsche Werk unter den Perspektiven der Reise,38 des Wunsches,39 des Raumes,40 der Suche41 und der Zeitlichkeit42 untersuchen. Für Michel Brix43 gründet die Modernität Nervals auf einer Ablehnung der neoplatonischen Hauptströmung der Romantiker.44 Nerval vertrete damit eine romantische Moderne. Brix Einteilung in eine neoplatonistische und eine sich darüber hinwegsetzende moderne Romantik läuft allerdings an wesentlichen Kriterien zur Unterscheidung von Romantik und Moderne (persönliche bzw. entpersönlichte Literatur, Intention des Werkes, Existenz einer Gottheit) vorbei. Zu einem in ähnlicher Weise Konfusion stiftenden Ergebnis kommt Dagmar Wieser in ihrem Buch Nerval: Une poétique du deuil à l’âge romantique.45 Bei ihrer Akzentuierung des Trauermotives findet die modern-ästhetische Neuheit der Nervalschen Literatur zu wenig Beachtung. Dadurch wird – ähnlich wie bei Bénichou – der Aspekt der Enttäuschung über die Unerfülltheit romantischer Sehnsüchte zum wesentlichen Charakteristikum.

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Diese kurzen Schlaglichter46 auf die bisherige Forschung zu den Werken der beiden Autoren sollen einerseits verdeutlichen, wie umstritten ihre literaturgeschichtliche Einordnung (vor allem die Nervals) ist, und andererseits veranschaulichen, wie wenig zu ihnen gerade in den letzten Jahren unter dem Gesichtspunkt ihrer Stellung zur Religion gearbeitet worden ist. Unseres Erachtens sind aber gerade das Vignysche und das Nervalsche Werk insofern von zentraler Bedeutung für die französische Literatur des 19. Jahrhunderts, als sie Prototypen für die Romantik und die Moderne darstellen, weil sich an ihnen beispielhaft die Rezeption der für ihre jeweilige Epoche typischen religiösen Formen und Inhalte feststellen lässt. Aus diesem Grund erscheint uns eine detaillierte Untersuchung dieser beiden Autoren besonders fruchtbar.

Wir werden ob des enormen Umfanges der Gesamtwerke jeweils eine Auswahl an literarischen Texten vornehmen müssen, in denen die Rezeption der Propheten- und der weiblichen Figuren besonders deutlich wird. In unserem Vigny-Kapitel (Kapitel 6) beziehen wir uns auf die Gedichte Moïse und Éloa ou la Sœur des anges aus der frühen Schaffensperiode und Le Mont des Oliviers aus dem Spätwerk. Den Abschluss bildet die Untersuchung des Romans Daphné. Deuxième consultation. Das Nerval-Kapitel (Kapitel 7) berücksichtigt die heute meist gelesenen und von der bisherigen Forschung untersuchten späten Werke: die Gedichtsammlung Les Chimères sowie die Erzählungen Sylvie. Souvenirs du Valois und Aurélia ou le Rêve et la Vie.

Es ist offensichtlich, dass das abendländische Religionsverständnis hauptsächlich vom Christentum geformt worden ist und in Frankreich eine überwiegend katholische Prägung angenommen hat. Wir werden darum vor allem auf Grundlage der christlich-katholischen Tradition (hauptsächlich der Bibel) argumentieren.

1 Karlheinz Stierle, „Säkularisierung und Ästhetisierung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit“, in: Silvio Vietta; Herbert Uerlings (Hrsg.), Ästhetik – Religion – Säkularisierung. 2 Bde., München 2008, Band I Von der Renaissance zur Romantik, 55–74, hier: 55.

2 Summa theologica, pars I, quaestio 1, articulus 9. Zitiert nach: http://www.corpusthomisticum.org/sth1001.html. (Diese und alle weiteren Internetadressen haben wir am 13.10.2010 aufgerufen.)

3 Stierle, op. cit., 57.

4 Einen Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Säkularisierungsthese liefert Ulrich Ruh, „Bleibende Ambivalenz. Säkularisierung/Säkularisation als geistesgeschichtliche Interpretationsgeschichte“, in: Silvio Vietta; Herbert Uerlings (Hrsg.), op. cit., I, 25–36.

5 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München; Leipzig 1922, 37: „Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach, weil sie aus der Theologie auf die Staatslehre übertragen wurden, indem zum Beispiel der allmächtige Gott zum omnipotenten Gesetzgeber wurde, sondern auch in ihrer systematischen Struktur, deren Erkenntnis notwendig ist für eine soziologische Betrachtung dieser Begriffe. Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie. Erst in dem Bewußtsein einer solchen analogen Stellung läßt sich die Entwicklung erkennen, welche die staatsphilosophischen Ideen in den letzten Jahrhunderten genommen haben.“

6 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 41961 [Erstveröffentlichung 1949].

7 Siehe dazu: Silvio Vietta; Herbert Uerlings; Stephan Porombka (Hrsg.), Ästhetik – Religion – Säkularisierung, 2 Bde., München 2008.

Details

Seiten
353
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653040227
ISBN (ePUB)
9783653989908
ISBN (MOBI)
9783653989892
ISBN (Hardcover)
9783631649312
DOI
10.3726/978-3-653-04022-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Januar)
Schlagworte
Romantik Säkularisierung Moderne Politisierung des Christentums Prophetie Weiblische Alteritätsfiguren Rezeption der Jesusfigur
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2013. 353 S.

Biographische Angaben

Jonas von Moritz (Autor:in)

Jonas Christian von Moritz studierte Romanistik, katholische Theologie, Kommunikationswissenschaften und Erziehungswissenschaften in Münster und Tours.

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