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Innenansichten zur Wissenschaftsgeschichte

Vorläufige Bilanz eines Literaturwissenschaftlers

von Rainer Rosenberg (Autor:in)
©2014 Monographie XIV, 128 Seiten

Zusammenfassung

Ausgehend von der Skizzierung seines Lebenslaufs und der Auseinandersetzung mit den gängigen Identitätstheorien zieht Rosenberg die vorläufige Bilanz aus seinem Germanisten-Dasein. Als ein Literaturwissenschaftler hat er schon seit den 1980er Jahren zur Geschichte seiner Disziplin gearbeitet. Sein Augenmerk richtet sich nach den Tendenzen zu deren Neukonstituierung als Kulturwissenschaft nun auch auf ihre Hinwendung zu einer Geschichte der Wissensformen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort der Reihenherausgeber
  • Vorwort des Autors
  • Inhaltsverzeichnis
  • Zur Identitätsproblematik
  • Herkunft
  • Verwandtschaft
  • Identitätsbildung
  • Pläne und Zufälle
  • Krisen und Veränderungen
  • Rollen
  • Wissenschaftsgeschichte
  • Was wäre aus ihm geworden, wenn
  • Philologie – Kulturwissenschaft – Wissen(schaft)sforschung
  • Literatur und andere Interessen
  • Reisen
  • Alterserfahrungen
  • Probleme, die ihn immer noch beschäftigen
  • Schriftenverzeichnis 2012 (Auswahl)
  • I. Bücher und Aufsätze
  • II. Rezensionen
  • Reihenübersicht

← xiv | 1 → Zur Identitätsproblematik

Hier geht es also um das Selbstverständnis eines Menschen. Darum, wie er die Frage nach der eigenen Identität beantworten sollte. Er spricht von Identität – personaler Identität –, weil er von der Person, die in ihrer Jugend zu einem ersten Selbstverständnis gekommen ist und in späteren Jahren eine bestimmte Richtung eingeschlagen hat, immer noch etwas an sich zu haben meint – ungeachtet der Krisen, die dieses Selbstverständnis erschüttert haben und der Veränderungen, die es dadurch erfahren hat. Weil er meint, dass die erhalten gebliebenen Elemente von Kontinuität und Kohärenz seines Ich nicht nur in seiner Leiblichkeit und seinen Erinnerungen bestehen können. Das Attribut des Personalen ist ihm wichtig, denn anders als in der Individualpsychologie steht der Begriff im Sprachgebrauch der Kulturwissenschaften hauptsächlich für ein Gruppenphänomen – die kollektive Identität als ein auf übereinstimmender ethnischer, religiöser, nationaler oder politischer Grundlage sich entwickelndes zwischenmenschliches Zusammengehörigkeitsgefühl oder Gemeinschaftsbewusstsein. Wobei gleich hier anzumerken ist, dass das Gemeinschaftsbewusstsein nicht nur phylogenetisch als die erste Form menschlichen Selbstverständnisses gilt, sondern auch beim heutigen Menschen der Beginn der individuellen Selbstidentifikation zumeist in die Auseinandersetzung mit der Gruppenidentität verlegt wird, die er im Kindesalter von der familiären und erweiterten sozialen Umwelt übernommenen hat.2 Davon abgesehen bestehen Übergangszonen, in denen die Begriffsfelder sich überlappen. So hat auch das ausgebildete individuelle Selbstverständnis eine soziale Dimension: Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe bzw. ← 1 | 2 → des Ausschlusses, der gesellschaftlichen Isolation, wird zu einem prägenden Bestandteil desselben. Auch können Urteile, die die Umwelt über eine Person trifft, indem diese sie in ihre Selbstwahrnehmung übernimmt, zu Elementen ihrer Identitätsbildung werden. Und für die Entstehung einer kollektiven Identität ist ebenso wichtig wie das Zusammengehörigkeitsgefühl des betreffenden Personenkreises, dass dieser durch die Umwelt als Gruppe wahrgenommen wird. 3

R. spricht von Identität – im Wissen um die Veränderungen, die im Begriffsverständnis seit Adornos Negativer Dialektik eingetreten sind: Dass ‚Identität’ unter den Bedingungen der Arbeitsteilung für Adorno nicht das Produkt eines in freier Selbstbestimmung handelnden Subjekts sein konnte, sondern nur die Zwangsjacke, in der das Individuum seine ihm in seiner gesellschaftlichen Stellung zukommenden Rollen spielt.4 Und dass Theoretiker der Postmoderne ab Anfang der 1980er Jahre Adornos noch vom kulturkritischen Standpunkt dem Individuum gestellter Diagnose die Möglichkeit des Identitätswechsels als normale Gegebenheit entgegensetzten bzw. die Auflö-sung der Identitäten im Rollenspiel als Akt der Befreiung feierten.5 Oder dass ← 2 | 3 → von einem wissenschaftskritischen Standpunkt, wie ihn die Anhänger des Dekonstruktivismus vertraten, in allen Dingen auf die Herausarbeitung der Differenz gesetzt wurde, die jeglicher Fixierung von Aussagen über Identitätsbildungen den Boden entziehen sollte. Was die letztgenannte Denkrichtung anbetrifft, so wird einer, der im vorgerückten Alter den Drang verspürt, noch einmal der Frage nachzugehen, was für ein Mensch er ist und wie er zu diesem Menschen wurde, sich allerdings mit dem von den Dekonstruktionisten empfohlenen Urteilsaufschub nicht abfinden können. Er versucht diese Frage nichtsdestoweniger als Identitätsfrage anzugehen – in der Überzeugung, dass das auch noch möglich sein sollte, ohne die Illusion „eines sich selbst und seine Welt souverän konstituierenden Subjektes“6 aufrechterhalten zu wollen. Und er sieht diese Möglichkeit gegeben sowohl in der Normalisie-rung gespaltener, mobiler bzw. pluraler Identitäten als auch in den die Identitätstheorien ablösenden Rollentheorien, sofern diese keinen vollständigen Identitätswechsel oder Identitätsverlust mehr postulieren. Also nicht ausschließen, dass hinter den Rollen vielleicht noch ein, wenn auch rudimentärer, ‚Persönlichkeitskern’ zum Vorschein kommt. Versteht es sich doch von selbst, dass jemand, der die eigene Person zum Gegenstand seiner Reflexion machen will, diese ungern in den Rollen aufgehen lassen wird, die diese Person in ihrem Leben gespielt hat. Selbstverständlich weiß er, dass die Menschen heute nicht mehr damit rechnen können, mit dem, was sie einmal gelernt haben, am selben Ort und im selben Betrieb ihr ganzes Arbeitsleben zu bestreiten. Sie müssen ständig dazulernen, mobil sein, womöglich mehrfach den Beruf wechseln oder verschiedene Tätigkeiten nebeneinander ausüben, und das heißt auch: verschiedene Rollen spielen. Aber, hat er sich gefragt, geben sie damit jedes Mal ihr Selbst auf?7 Muss das Rollenspiel wirklich dazu führen, ← 3 | 4 → dass man nicht mehr weiß, wer man ist?8 Oder sind solche Behauptungen nicht doch eher nur eine Schlussfolgerung aus bestimmten Vorannahmen der Theoretiker der Postmoderne? Schließlich ist nicht davon abzusehen, dass die Vorstellung einer personalen Identität an sich schon verschiedene individuelle Identifikationsmöglichkeiten subsumiert, auf den Identifikationen der Person mit unterschiedlichen – kulturellen, nationalen, sozialen – Milieus aufbaut. Dabei können die nationalen und die kulturellen oder sozialen Identifikationen sich überschneiden, nahe beieinander oder auch weit auseinander liegen. Und die Identifikation mit dem einen oder anderen Milieu kann die personale Identität in unterschiedlichem Maße bestimmen.

So geht der Schreiber dieser Zeilen – mag der junge Mann, der hier und da in R.s Erinnerung auftaucht, ihm heute auch noch so fremd erscheinen – davon aus, dass immer noch er es ist, der sich verändert hat9, wenn er im Zuge seiner Selbstbefragung zunächst nach den Milieus forscht, mit denen er sich identifiziert. Im Hinblick auf seine wohl kosmopolitisch zu nennende nationale Identifikation lässt er keinen Zweifel daran aufkommen, dass ihn mit den ihm bekannten italienischen, US-amerikanischen oder japanischen Intellektuellen mehr verbindet als mit irgendeinem ungebildeten, uninteressierten ← 4 | 5 → und in seinen Vorurteilen befangenen Landsmann. Und damit wäre auch schon etwas über seine soziale Identifikation gesagt. Seine kulturelle Identität würde er gern als eine europäische bezeichnen, weil damit der Raum benannt wäre, den er als seinen geistigen Lebensraum empfindet und dessen nationalen Binnengrenzen er keine große Bedeutung zumisst. Er muss sich aber eingestehen, dass ihn der Anteil von Deutschen und Juden an der europäischen Kultur stärker affektiv berührt. Und dass er auf die Würdigung der kreativen Energien, die von den deutschen Juden ausgingen, besonderen Wert legt. Er besucht – nebenbei gesagt –alle jüdischen Friedhöfe, weiß natürlich auch, dass dieser Haltung etwas Nostalgisches anhaftet: die Trauer um die verlorene Utopie der deutsch-jüdischen Symbiose. Eine doppelte oder gespaltene nationale Identität also? Jedenfalls nicht die ‚normale’ deutsche. Wie kam sie zustande? ← 5 | 6 →

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2So sieht Jürgen Habermas die „durch Selbstidentifikation erzeugte und durchgehaltene symbolische Einheit der Person […] ihrerseits auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe [beruhen], auf der Möglichkeit einer Lokalisierung in der Welt dieser Gruppe. Eine die individuellen Lebensgeschichten übergreifende Identität der Gruppe ist deshalb Bedingung für die Identität des einzelnen. […] Diese konventionelle Identität zerbricht im allgemeinen während der Adoleszenzphase.“ – Vgl. Jürgen Habermas, Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?, in: Ders./ Dieter Henrich, Zwei Reden, Frankfurt/M. 1974, S. 27-29.

3Kollektive Identität nur als „eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen“ versteht im Anschluss an Jan Assmann (Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 132) Jürgen Straub, Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs, in: Aleida Assmann/Heidrun Friese (Hrsg.), Identitäten (Erinnerungen, Geschichte, Identität, III), Frankfurt a.M. 1998, S. 73-104.

Details

Seiten
XIV, 128
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653040128
ISBN (ePUB)
9783653989946
ISBN (MOBI)
9783653989939
ISBN (Hardcover)
9783631649299
DOI
10.3726/978-3-653-04012-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Februar)
Schlagworte
Geschichte der Wissensformen DDR-Wissenschaftsakademie Neukonstituierung als Kulturwissenschaft
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. XIV, 128 S.

Biographische Angaben

Rainer Rosenberg (Autor:in)

Rainer Rosenberg war Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Akademie der Wissenschaften der DDR und anschließend bis zu seiner Emeritierung Projektleiter am heutigen Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin.

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