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Erzähler – Text – Leser in Ovids "Metamorphosen"

von Henning Horstmann (Autor:in)
©2014 Dissertation X, 342 Seiten

Zusammenfassung

Wer erzählt die Metamorphosen? Gibt es nur einen Erzähler? Muss man überhaupt zwischen Autor und Erzähler trennen? Und ist die Haltung des Erzählers nun distanziert-ironisch oder fromm-naiv? Die vorliegende Arbeit liefert mittels aktueller narratologischer und rezeptionsästhetischer Analyseverfahren eine Typologie der primären Erzählerfigur von Ovids Epos. Zudem zeigt sie anhand detaillierter Textinterpretationen, wie inkonsistent Ovid seinen Erzähler konstruiert hat. Im Ergebnis wird die Neuartigkeit von Ovids Erzählanlage gegenüber tradierten Formen epischen Erzählens deutlich: Seine Erzählerfigur ist schillernder und präsenter, zudem oftmals keineswegs allwissend und objektiv – und vor allem fehlt ihr vielfach die eigentlich zukommende Zuverlässigkeit und Autorität.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort und Dank
  • Inhalt
  • Einleitung und Methodik
  • 1. Ovid und die Erzählforschung
  • 2. Zielsetzung der Arbeit
  • 3. Der Primärerzähler der Metamorphosen in der Forschung
  • 3.1 Joseph B. Solodow: „The World of Ovid’s Metamorphoses“ (1988)
  • 3.2 Fritz Graf: „Ovide, les Métamorphoses et la véracité du mythe“ (1988) / „Die Götter, die Menschen und der Erzähler“ (1994)
  • 3.3 Niklas Holzberg: „Ovid. Dichter und Werk“ (1997)
  • 3.4 Stephen M. Wheeler: „A Discourse of Wonders. Audience and Performance in Ovid’s Metamorphoses“ (1999)
  • 3.5 Anastasios Nikolopoulos: „Ovidius Polytropos. Metanarrative in Ovid’s Metamorphoses“ (2004)
  • 3.6 Bernd Effe: „Epische Objektivität und subjektives Erzählen. „Auktoriale“ Narrativik von Homer bis zum römischen Epos der Flavierzeit“ (2004)
  • 3.7 Fazit: Fehlender Konsens?
  • 4. Ansatz der vorliegenden Arbeit
  • 5. Literaturtheoretische Konzepte und Begrifflichkeiten
  • 6. Vorgehensweise und Methodik
  • 7. Ovids Vorgänger: Episches Erzählen bei Homer, Apollonios und Vergil
  • 8. Grundlegende Erwartungen an episches Erzählen
  • A. Formale Merkmale von Erzähler und Erzählillusion: Kommunikation zwischen Erzähler, Adressat und Rezipient
  • 1. Erzähleridentität und Erzählperspektive
  • 1.1 Ein (realer) Autor als (fiktiver) Erzähler?
  • 1.2 Erzählperspektive und Fokalisierung
  • 1.3 Erlebte Rede
  • 2. Ein objektiver und allwissender Erzähler?
  • 2.1 Sichten und Ordnen
  • 2.1.1 Urteile und Wertungen
  • 2.1.2 Skepsis und Unsicherheit
  • 2.2 Der Erzähler als Experte
  • 2.2.1 Generalisierung und Moralisierung
  • 2.2.2 Vergleiche und Analogien
  • 2.2.3 Erläuternde und überdeutliche Kommentare
  • 2.3 Dialogführung
  • 2.3.1 Emotionale Appelle
  • 2.3.2 ‚Leserapostrophen‘
  • B. Erzählhaltungen in den Metamorphosen: Der Erzähler und sein Stoff
  • 1. Haltung 1: Respektvolle Achtung
  • 1.1 Bacchus in Theben (met. 4,16–25): Der hingerissene Erzähler
  • 1.2 Iphis (met. 9,666–797): Respektvolle Ehrerbietung
  • 1.3 Midas (met. 11,85–145): Harmonie zwischen Göttern und Menschen
  • 1.4 Hercules’ Tod (met. 9,134–272): Verehrung eines Heroen
  • 1.5 Erzählerfiguren der ‚römischen‘ Geschichte (13.–15. Buch): Ein vates am Werk
  • 1.6 Zwischenfazit: Respektvolle Achtung
  • 2. Haltung 2: Mitgefühl und Emotionalität
  • 2.1 Ceyx und Alcyone (met. 11,410–748): Zuneigung und Anteilnahme
  • 2.2 Hecuba und ihre Kinder (met. 13,399–575): Von außen beobachtetes Unglück
  • 2.3 Callisto (met. 2,401–532): Eintreten für eine unglücklich Leidende
  • 2.4 Byblis (met. 9,450–665): Der unentschiedene Erzähler
  • 2.5 Meleagers Schwestern (met. 8,526–546): Ein sonderbarer emotionaler Ausbruch
  • 2.6 Zwischenfazit: Mitgefühl und Emotionalität
  • 3. Haltung 3: Objektivität und Zurückhaltung
  • 3.1 Scylla (met. 13,730–14,74): Der Erzähler als desillusionierter Chronist?
  • 3.2 Kurzepisoden mit Häufung von Autoritätsverweisen (fertur, dicunt etc.)
  • 3.3 Perseus und Medusa (met. 4,765–803): Warum indirekte Rede?
  • 3.4 Kosmogonie (met. 1,5–88): Ein aufgeklärter Erzähler
  • 3.5 Zwischenfazit: Objektivität und Zurückhaltung
  • 4. Haltung 4: Naivität und Schlichtheit
  • 4.1 Apollo und Python (met. 1,438–451): Ein heldenhafter Gott?
  • 4.2 Midas und der Wettkampf zwischen Pan und Apollo (met. 11,146–193): Unplausibles Erzählen und Bewerten
  • 4.3 Deucalion und Pyrrha (met. 1,313–415): Geteilte Naivität
  • 4.4 Perseus (met. 4,604–5,58): (K)ein großer Held
  • 4.5 Die Calydonische Eberjagd (met. 8,260–444): Destruktion des Heldenideals
  • 4.6 Zwischenfazit: Naivität und Schlichtheit
  • 5. Haltung 5: Kritik und Verurteilung
  • 5.1 Narcissus (met. 3,339–510): Impulsivität des Erzählers
  • 5.2 Arachne (met. 6,1–145): Implizite Götterkritik trotz problematischer Heldin
  • 5.3 Actaeon (met. 3,135–255): Systematisch-reflektierte Götterkritik
  • 5.4 Tereus, Procne und Philomela (met. 6,412–674): Widerwillen und Abscheu
  • 5.5 Zwischenfazit: Kritik und Verurteilung
  • Fazit
  • Literatur
  • Stellenregister

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Einleitung und Methodik

1. Ovid und die Erzählforschung

Die vorliegende Arbeit will keine narratologisch orientierte Arbeit im traditionellen Sinne sein. Es soll hier also, plakativ gesagt, nicht darum gehen, die Metamorphosen etwa nach den narratologischen Analysekategorien von Genette oder Stanzel zu untersuchen. Vielmehr wird hier ein Vorhaben in Angriff genommen, das durchaus von etablierten narratologischen Verfahren und Beobachtungen ausgeht, diese aber immer wieder mit jüngeren Tendenzen sowie auch gänzlich anderen methodischen Ansätzen – v.a. aus der Rezeptionsästhetik bzw. Wirkungsforschung – kreuzt und verbindet. Trotz dieser einschränkenden Vorbemerkung erscheint es sinnvoll, im Folgenden zunächst einen Überblick über die bisherige narratologische Forschung zu Ovids Epos zu geben.

Erzähltheoretische Forschung ist in den literaturwissenschaftlichen Disziplinen nach wie vor en vogue. Seitdem die Narratologie in den ausgehenden 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Gefolge des französischen Strukturalismus als eigenständige Forschungsdisziplin begründet und in den 70er- und 80er-Jahren v.a. durch Gérard Genette umfassend systematisiert wurde, hat sie einen rasanten Siegeszug hingelegt. Aktuelle Einführungen konstatieren diesbezüglich eine „gegenwärtige […] Blüte“1 oder gar einen „Boom“2 der Erzähltheorie; ein Ende dieser Entwicklung ist bislang nicht abzusehen.

In der Klassischen Philologie dürfte die Erzähltheorie ihren festen Platz spätestens 1987 mit den viel beachteten Forschungen Irene de Jongs zum Erzähler der homerischen Ilias gefunden haben.3 Narratologische Studien zu Ovids Metamorphosen wurden freilich schon zuvor publiziert: Bereits in den 70er- und zu Beginn der 80er-Jahre beschäftigen sich Philologen wie Gianpiero Rosati oder Betty Nagle etwa mit der ovidischen Besonderheit der vielen verschachtelten Erzählebenen und ← 1 | 2 → der Bedeutung der jeweiligen Binnenerzähler.4 Nun haben sich Klassische Philologen natürlich auch schon in den Jahrzehnten zuvor Gedanken über die spezielle Erzählweise der Metamorphosen gemacht;5 nur hatten sie noch nicht die systematischen Beschreibungskategorien der Narratologie zur Hand. Insofern ist es nicht überraschend, dass sie zumeist nicht oder nur ansatzweise zwischen Autor, Erzähler und Binnenerzählern unterscheiden. Die Frage der Trennung zwischen realem Autor und fiktivem Erzähler innerhalb der Metamorphosen rückt erstmals in den ausgehenden 80er-Jahren in den Fokus des Interesses: Die Arbeiten von Joseph Solodow und Fritz Graf (beide 1988) stellen diesbezüglich wichtige Ausgangspunkte für die vorliegende Untersuchung dar und werden deshalb weiter unten ausführlicher vorgestellt.

Ab den 90er-Jahren ist es im Zuge einer generellen Explosion der Ovidforschung6 kaum noch möglich, alle Veröffentlichungen zu erfassen, die narratologische Ansätze (mit)berücksichtigen. Dass Narratologie inzwischen als verbreitete und lohnende Methode angesehen ist, wird durch ihre Berücksichtigung zum einen in neuen wissenschaftlichen Kommentaren der Metamorphosen bestätigt, die ganz selbstverständlich erzähltheoretische Termini verwenden – hier ist etwa an William Andersons Noten zu den Büchern 1–5 (1997) oder an Chrysanthe Tsitsiou-Chelidonis Studie zu Buch 8 ← 2 | 3 → (entstanden 1999/2000) zu denken. Zum anderen findet sie sich nun auch in Überblicksdarstellungen zu Ovid: Die Identifikation einer speziell konstruierten Erzählerfigur ist beispielsweise eines der Hauptanliegen von Niklas Holzberg (1997). Die bis heute umfassendste Untersuchung der Metamorphosen mit dezidiert narratologischem Ansatz liefert Stephen M. Wheeler (1999). Auch seine Vorgehensweise wird in der Folge noch genauer in den Blick genommen.

Die Publikationslage deutet indes darauf hin, dass im Falle der Metamorphosen nach wie vor ein besonderes Interesse im Bereich der vielen eingelegten Erzählungen und ihren Implikationen besteht (Analyse der Komplexität der Verschachtelung, Rolle des Binnenerzählers und -adressaten, Verhältnis zwischen über- und untergeordneten Erzählebenen, Veranschaulichung eines metanarrativen Charakters u.ä.).7 Diese Tendenz trifft im Wesentlichen auch auf die zwei wohl bedeutendsten und profiliertesten Ovidforscher mit Interesse an Erzähltheorie zu: den schon genannten Gianpiero Rosati sowie Alessandro Barchiesi, die nicht nur in ihren jeweiligen Überblickskapiteln im Leidener Brill’s Companion to Ovid (2002) bzw. im Cambridge Companion to Ovid (2002) diesem Bereich einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit schenken. Analog dazu widmet sich ebenfalls die jüngste narratologisch orientierte Monographie zu den Metamorphosen von Anastasios D. Nikolopoulos (2004) fast ausschließlich der ‚Metadiegesis‘, d.h. den eingelegten Erzählungen und Erzählern, und untersucht diese vor allem nach den formalen Kriterien Genettes. Im selben Jahr (2004) hat Bernd Effe ein Buch über episches Erzählen von Homer bis Sidonius veröffentlicht; seine Befunde für Ovid werden unten näher erläutert.

2. Zielsetzung der Arbeit

Die vorliegende Arbeit nimmt ihren Ausgangspunkt von dem bestehenden Ungleichgewicht und wird sich in Abgrenzung zu der dominierenden Forschungstendenz gerade nicht mit Sekundärerzählungen befassen, sondern die Instanz des Primärerzählers8 untersuchen, die bisweilen allzu schnell als ‚Ovid‘ oder als ← 3 | 4 → ‚Dichter-Erzähler‘ außer Acht gelassen wird. Die Zielsetzungen lassen sich wie folgt fassen:

 Es sollen erstens die Eigenheiten des ovidischen Primärerzählers herausgearbeitet werden. Dabei werden – in Abgrenzung zu den von Ovids Vorgängern geprägten traditionellen Formen epischen Erzählens – neben der Erfassung genereller Charakteristika auch Indizien dafür gesucht, ob und auf welche Weise eine Distanz zwischen Autor und Erzähler entsteht.

 Darauf aufbauend soll zweitens die Wandelbarkeit des Erzählers, das heißt sein teils sehr unterschiedliches Auftreten detaillierter untersucht werden (nicht zuletzt, um so die bisherigen Forschungsergebnisse zu differenzieren), verbunden mit dem Ziel, wenn möglich wiederkehrende Muster und Haltungen auszumachen.

3. Der Primärerzähler der Metamorphosen in der Forschung

Bevor die Anlage der vorliegenden Untersuchung genauer erläutert wird, bietet es sich an, die wichtigsten Ergebnisse der Ovidforschung zur Frage des Haupt- oder Primärerzählers vorzustellen. Die im Folgenden skizzierten Positionen von Solodow (1988), Graf (1988/94), Holzberg (1997), Wheeler (1999), Nikolopoulos (2004) und Effe (2004) stellen diesbezüglich eine repräsentative Auswahl dar und erlauben gerade im Vergleich einen guten Einblick in die Gemeinsamkeiten, aber auch beträchtlichen Unterschiede des in der Forschung diskutierten Verständnisses vom ovidischen Metamorphosen-Erzähler.

3.1 Joseph B. Solodow: „The World of Ovid’s Metamorphoses“ (1988)

In seiner viel beachteten Gesamtuntersuchung der Metamorphosen nimmt Solodow Ovids Erzähltechnik in den Blick und widmet in diesem Zusammenhang auch ein ausführliches Kapitel der Rolle des Erzählers. Ausgehend von dem Umstand, dass sich das Epos durch zahlreiche eingelegte Erzählungen auszeichnet, die von ← 4 | 5 → verschiedensten Figuren vorgetragen werden, fragt Solodow zunächst danach, wie viele Erzähler es eigentlich wirklich gibt. Seine Antwort fällt eindeutig aus:

„It has been asserted that the poem does include multiple voices, and this is not surprising today when we are keenly conscious of the persona who inhabits a poetic or other fiction. Nonetheless, I believe there is basically a single narrator throughout, who is Ovid himself. The introduction of other speakers is more formal than consequential; the words are heard as those of the poet. The most important general reason for thinking this – the uniformity of tone maintained through the poem – does not, unfortunately, lend itself to ready demonstration. It is true that the tone of the narrative varies greatly. Still, this itself amounts to a kind of uniformity over a long enough stretch, in that the variation is constant and not linked to change in speakers. The mixture of tones and all the other features that characterize Ovid remain the same when he yields the floor to one of his own characters. Other figures in the poem are characterized by their speech – Deucalion is shown by his words to be pious, Niobe arrogant, Ulysses clever – but no narrator is.“9

Als Beleg für seine These vom uniformen Erzähler führt Solodow die Orpheuserzählung im zehnten Buch an – hier sei kein wesentlicher Unterschied zur Stimme Ovids festzustellen. Wenn schon die Figuren genauso erzählten wie der Haupterzähler, könne man diesen zumindest vom Autor Ovid trennen? Nein, so Solodow weiter:

„The voices of the characters cannot be distinguished from that of the poem’s narrator, but is that narrator Ovid himself or is he instead a persona, a sovereign figment of the poet’s with his own character, interests, and view of the world? Many may be inclined toward the latter view. I cannot bring myself to agree, however. I can find no sign of distance between narrator and poet. Never does the one permit us to see through him to his maker. Nothing he says betrays him as ignorant, mistaken, naïve, or foolish.“10

In der Folge analysiert Solodow auf anschauliche Art Textelemente, die eine aktive Erzählerpräsenz signalisieren, darunter zunächst die zahlreichen, teils komplex konstruierten Übergänge zwischen den einzelnen Mythen und eine oft zu beobachtende epigrammatische Ausdrucksweise.11 Er hebt hervor, wie viele Zeichen und Beweise man für die Anwesenheit einer vermittelnden Instanz bei genauerem Hinsehen finden könne: Äußerungen in der ersten Person, Durchbrechungen der fiktionalen Grenzen, z.B. durch Apostrophen der Figuren, Zusammenfassungen, augenzwinkernde Kommentare, personalisierte Gleichnisse, negierte irreale Aussagen ← 5 | 6 → („Beinahe-Episoden“ bzw. „ungeschehenes Geschehen“12) oder Verweise auf zukünftige Ereignisse.13 Solodow vergleicht Ovids Vorgehen jeweils mit dem seiner Vorgänger und kann auf diese Weise Ovids neue, eigenständige und spezielle Art des Erzählens augenfällig machen.

Zum Abschluss seiner Analyse nimmt Solodow diejenigen Äußerungen des Erzählers in den Blick, in denen entgegen der epischen Tradition eine gewisse Selbstständigkeit, Distanz oder sogar Skepsis – fast nach Art eines Historikers – gegenüber dem eigenen Stoff zum Ausdruck kommt:14 Hinweise etwa, dass der Erzähler nicht alles, was eine Figur gesagt hat, wiedergibt, sondern eine Auswahl getroffen hat; das Bekunden, etwas nicht genau zu wissen; das Verweisen auf nicht näher genannte Quellen; Kommentare, dass ein bestimmtes Ereignis kaum zu glauben sei. Darauf aufbauend kommt Solodow zu der Schlussfolgerung:

„Ovid […] tends to be withdrawn from the narrative, not plunged into it. He remains separate from it and is not to be confused, much less identified, with it. We are aware of him and his story, and some gap between. […] He conspicuously eschews the role of authoritative story teller.“15

3.2 Fritz Graf: „Ovide, les Métamorphoses et la véracité du mythe“ (1988) / „Die Götter, die Menschen und der Erzähler“ (1994)

Im selben Jahr wie Solodow – und offenbar ohne Kenntnis von dessen Monographie – kommt Fritz Graf in einem Aufsatz, der sich primär mit Ovids Behandlung des Mythos befasst, auch auf den Erzähler des Epos zu sprechen. Er stellt zunächst fest, dass es die Ovidforschung bislang versäumt habe, sich verstärkt mit moderner Erzähltheorie und hier besonders mit dem Konstrukt eines vom Autor zu trennenden Erzählers zu beschäftigen.16 Daher skizziert Graf im Folgenden sein eigenes Verständnis von Ovids Primärerzähler: Jener präsentiere sich schon im Prolog als götter- und mythengläubige Person, und diese Identität bleibe bis zum Schluss der Metamorphosen gewahrt: „C’est bien l’attitude du poète-prêtre (vates), pieux et respectant les dieux.“17

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Die hervorstechendsten Charakterzüge dieses Erzählers seien seine Frömmigkeit und seine Neigung zum Moralisieren; nicht selten lasse Ovid ihn dabei jede Form von traditioneller epischer Distanz verlieren.18 Zwar zeige sich der Erzähler mitunter auch skeptisch bezüglich einzelner Elemente der Mythen – Graf erwähnt beispielhaft die Einfügung eines fertur, als der Erzähler schildert, wie Diana angeblich nur durch den grausamen Tod Actaeons befriedigt wurde (met. 3,252): „Mais ce sont des doutes tout à fait marginaux, qui ne font que renforcer aux yeux du narrateur la crédibilité de tout le reste des récits.“19

Eine weitere zentrale These entwickelt Graf anhand des vieldiskutierten Verses met. 1,400 (quis hoc credat, nisi sit pro teste vetustas?) aus dem Deucalion-und-Pyrrha-Mythos:20 Der Erzähler zeige sich in diesem Moment so offenkundig unbedarft und leichtgläubig, dass klar werde, dass hier keine Ironie des Erzählers vorliege (sonst müsste es ein entsprechendes Textsignal geben21), sondern dass der Autor Ovid seinen eigenen Erzähler nicht ganz ernst zu nehmen scheine. Auf subtile Weise, so Graf, ironisiere Ovid an solchen Stellen seine allzu naive, götter- und mythengläubige Erzählerfigur.

Damit postuliert Graf, ganz anders als Solodow, eine eindeutige Trennung zwischen Autor und Erzähler. Ein paar Jahre später greift Graf diese Auffassung in einem weiteren Aufsatz zu den Metamorphosen wieder auf; und diesmal nimmt er explizit Bezug auf Solodows Untersuchung:

„Daß nicht mehrere, sondern eine einzige Stimme die ‘Metamorphosen‘ erzählt, ist trotz der Art, wie die Erzählebenen ineinander geschachtelt sind, durchaus richtig […]. Nur ist dies eben nicht die Stimme Ovids, wie noch letzthin behauptet wurde [Verweis auf Solodow, Anm. d. Verf.], sondern eines Erzählers, von dem sich Ovid deutlich absetzt: die naiven Authentisierungsmechanismen zeigen dies ebenso deutlich wie die vielen moralisierenden Kommentare zum Handeln der Götter. Wenn man betont, wie omnipräsent der Erzähler im ganzen Gedicht ist […], muß man auch betonen, daß er alles andere als allwissend ist: es ist kein Verlaß auf ihn.“22

Damit dürfte Graf der erste sein, der für die Metamorphosen insgesamt einen ‚unzuverlässigen Erzähler‘23 ausgemacht hat.

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3.3 Niklas Holzberg: „Ovid. Dichter und Werk“ (1997)

Holzbergs Kapitel über die Metamorphosen beginnt mit der zentralen Feststellung, dass auch der Ich-Erzähler in Ovids Epos – wie etwa derjenige der Amores – eine „Maske“ sei, durch die der Dichter zu uns spreche.24 Dieser konstruierten Erzähler-Rolle ordnet Holzberg eine „doppelte Funktion“ zu: In Parenthesen und moralischen Werturteilen zeige sich jener einerseits „als sittlich und religiös stark engagierter Beobachter“, an anderen Stellen wiederum (z.B. in der Kosmogonie) als „Wissenschaftler, indem er sich wie der praeceptor amoris in Ars amatoria und Remedia amoris in die Schar der griechisch-römischen Lehrdichter“ einreihe:

„So vereint die Person des Erzählers zwei denkbar gegensätzliche Erzählhaltungen: die des mythengläubigen Ätiologen und die des naturwissenschaftlich aufgeklärten Lehrdichters.“25

Von dem Kontrast bzw. Spannungsverhältnis dieser beiden Pole gehe, so Holzberg, eine rezeptionslenkende Wirkung aus – ein Leser werde auf diese Weise dazu angehalten, die Mythen eher als außenstehender Beobachter zu verfolgen und keine persönliche Anteilnahme aufzubauen.26

3.4 Stephen M. Wheeler: „A Discourse of Wonders. Audience and Performance in Ovid’s Metamorphoses“ (1999)

Im Zentrum der ausführlichen Studie von Wheeler steht die Untersuchung des fiktiven Adressaten der Metamorphosen, er beschäftigt sich aber auch mit dem realen Rezipienten.27 Wheeler interessiert die Frage, auf welche Weise Ovid sein Publikum erst konstruiert, mit ihm kommuniziert und dessen Reaktionen, Meinungen und Deutungen formt. Sein methodischer Ansatz ist zwar auch narratologisch, vor allem aber dezidiert rezeptionsästhetisch: Es sei nicht von vornherein eine einzige richtige Bedeutung unverrückbar im Text enthalten, sondern Bedeutung werde bei jedem Rezeptionsvorgang immer wieder neu konstruiert – es liege ausschließlich am Hörer bzw. Leser, wie er sich zu dem Text und seiner Botschaft (etwa hinsichtlich ← 8 | 9 → der Frage der Augustuskritik) positioniere. Ovid nämlich lasse bewusst mehrere Interpretationsmöglichkeiten zu. Eine weitere Hauptthese Wheelers ist, dass Ovid in seinem Epos die Fiktion eines mündlichen Vortrags aufbaue („fiction of viva-voce performance“28); der intendierte Rezipient sei also eher als Zuhörer eines Geschichten erzählenden Sängers zu verstehen denn als Leser eines schriftlichen Texts. Dies mache die Kontinuität der Metamorphosen aus.

Wheelers Fokussierung auf den (notwendigerweise stimmlosen) Adressaten impliziert allerdings, sich auch mit den Eigenheiten der Erzählinstanz zu beschäftigen. Vor diesem Hintergrund geht er zunächst auf die widersprüchlichen Ansichten von Solodow und Graf (s.o.) bezüglich der Einheit von Autor und Erzähler ein: Zwar sei diese strukturelle Unterscheidung stets und überall zu beachten und biete sich gerade angesichts der vielen unterschiedlichen Werke Ovids an – doch Grafs Argumente für eine evidente Nichtidentität von Autor und Erzähler in den Metamorphosen seien, so Wheeler zurückhaltend, in der vorgelegten Form nicht aussagekräftig genug.29 Nichtsdestoweniger spricht sich Wheeler in der Folge auch für die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler aus, allerdings aus anderen Gründen: Er versteht die Metamorphosen im Kern als politische Allegorie („a reflection of imperial power and the dangers of dissent in Rome“), worauf ein realer Rezipient jedoch nicht unmittelbar durch die Worte des Erzähler komme, sondern erst dann, wenn er über die dahinter steckenden Absichten des Autors nachdenke, der zu seiner Erzählerfigur in einer gewissen Distanz stehe.30

Wheeler sammelt und untersucht darauf verschiedene Mittel der ‚Dialogführung‘ des Erzählers mit dem fiktiven Adressaten:31 Darunter fasst er beispielsweise verallgemeinernde Anreden an die 2. Person Singular (‚Leserapostrophen‘32), die Verwendung der 1. Person Plural, rhetorische Fragen, negierte Aussagen, Parenthesen, Apostrophen der Figuren und Autoritätsverweise wie fertur, dicitur etc. Ovid verwende mehr solcher Dialogmittel als alle Epiker vor ihm, fügt Wheeler an, und beziehe auf diese Weise sein Publikum in viel stärkerem Maße in den Erzählvorgang mit ein:

„Just as the poet’s presence can be felt throughout the segments of the poem that he narrates, so too is it possible to discern the outlines of his counterpart [d.h. des Adressaten, Anm. d. Verf.] in the communicative process.“33

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Interessante Beobachtungen liefert Wheeler schließlich hinsichtlich der relativen Verteilung von Erzähler- und Figurenrede in Ovids Epos. Er zeigt, dass in den Metamorphosen nur ca. 48% des Textes vom Primärerzähler berichtet werden, während ca. 15% direkte Rede umfassen und in ca. 37% des Gesamttextes Sekundärerzähler (insgesamt 40) sprechen: Dies allein bedeute schon, die u.a. von Solodow aufgestellte Behauptung, dass die Stimme und Persönlichkeit des Dichters das Werk dominieren und seine Einheit ausmachen würden (s.o.), sei zumindest stark zu relativieren.34 Bei genauerem Hinsehen stelle man zudem fest, dass sich der Primärerzähler im Laufe des Werks stetig weiter zurückziehe und stattdessen zunehmend Sekundärerzählern das Feld überlasse: In den ersten drei Büchern (1–3) sei der Primärerzähler noch verantwortlich für ca. 70%, in den mittleren Büchern (7–9) für ca. 46% und in den letzten drei Büchern (13–15) nur noch für ca. 34% des Textes. Die gleiche abnehmende Tendenz zeige sich jeweils auch innerhalb der drei Pentaden (1–5, 6–10, 11–15).35 Wheeler glaubt auch darin, dass Ovid zunehmend (gerade am ‚römisch-historischen‘ Ende des Epos) von der Verwendung einer einzelnen, glaubwürdigen und autorisierten Stimme abrückt, die Strategie zu erkennen, dass der Rezipient selbst zu einer Entscheidung darüber angehalten werden solle, was für ihn glaubhaft sei und was nicht.

3.5 Anastasios Nikolopoulos: „Ovidius Polytropos. Metanarrative in Ovid’s Metamorphoses“ (2004)

Nikolopoulos geht angesichts seiner Konzentration auf Binnenerzählungen nur kurz auf den Primärerzähler der Metamorphosen ein. Er greift Wheelers These auf, dass das Epos eigentlich die Vermittlungssituation eines mündlichen Vortrags evoziere, und konstatiert: „In this sense, Ovid follows the example of Vergil and Horace in representing himself as a vates.“36 Dass der Erzähler ein solcher Dichter-Seher sei, belegt er an entsprechenden Indizien in Prolog und Epilog, außerdem am im letzten Buch zu findenden Musenanruf (met. 15,622f.). Abschließend merkt Nikolopoulos allerdings noch vorsichtig an, dass der Erzähler möglicherweise ← 10 | 11 → bewusst mit dem vates-Konzept spiele;37 macht aber nicht deutlich, worin dieses ‚Spielen‘ seiner Meinung nach besteht und wie es sich ausdrückt.38

Details

Seiten
X, 342
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653039931
ISBN (ePUB)
9783653990041
ISBN (MOBI)
9783653990034
ISBN (Hardcover)
9783631649237
DOI
10.3726/978-3-653-03993-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Juni)
Schlagworte
Narratologie Mythos Typologie Erzählhaltung Rezeptionsästhetik
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. X, 342 S.

Biographische Angaben

Henning Horstmann (Autor:in)

Henning Horstmann studierte Klassische und Romanische Philologie in Göttingen und Aix-en-Provence. Er war Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes und arbeitete nach dem Ersten Staatsexamen als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Göttingen.

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Titel: Erzähler – Text – Leser in Ovids "Metamorphosen"
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