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Sozialhilferegress nach Grundbesitzübertragung in vorweggenommener Erbfolge unter Vorbehalt eines dinglichen Wohnungsrechts

von Ove Reinbender (Autor:in)
©2014 Dissertation XI, 208 Seiten

Zusammenfassung

Zwischen Privat- und Sozialrecht bestehen viele Schnittstellen. Grundbesitzübertragungen und dabei vereinbarte Versorgungsrechte können sich auf Bezug und Höhe von Sozialleistungen auswirken. Gegenstand der Arbeit ist die praxisrelevante Frage, ob dem Sozialhilfeträger ein Regressanspruch zukommt, wenn ein späterer Erblasser zunächst seine Immobilie im Wege der vorweggenommenen Erbfolge unter Vorbehalt eines dinglichen Wohnungsrechts verschenkt hat, dann pflegebedürftig wird und zur Deckung der Pflegeheimkosten Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen muss. Zu den verschiedenen Aspekten dieses Themas sind viele ober- und höchstgerichtliche Entscheidungen ergangen. Unter Aufbereitung der Judikatur und Einbeziehung der Literaturansichten nimmt der Autor eine eigene Bewertung vor.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Teil A: Einleitung und Gang der Arbeit
  • Teil B: Sozialhilferechtliche Grundlagen
  • I. Nachrang der Sozialhilfe, § 2 SGB XII
  • 1. Einkommen, § 82 SGB XII
  • 2. Vermögen, § 90 Abs. 1 SGB XII
  • 3. Bereite Mittel
  • II. Überleitung sonstiger Ansprüche auf den Sozialhilfeträger, § 93 SGB XII
  • 1. Anspruchsübergang im SGB XII, §§ 93, 94 SGB XII
  • 2. Gegenüberstellung von § 93 SGB XII und § 90 BSHG
  • 3. Überleitungsanzeige, § 93 Abs. 2 Satz 1 SGB XII
  • a) Rechtmäßigkeit trotz zu Unrecht erfolgter Leistungserbringung
  • aa) Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
  • bb) Teile der Literatur
  • cc) Bewertung
  • b) Rechtmäßigkeit trotz Nichtbestehen des übergeleiteten Anspruchs
  • c) Begrenzung des Anspruchsübergangs zum Schutz des Dritten, § 93 Abs. 1 Satz 3 SGB XII
  • 4. Rechtsfolgen der Überleitungsanzeige
  • Teil C: Überleitungsfähige Ansprüche des Leistungsberechtigten nach § 93 SGB XII
  • I. Überleitungsfähigkeit des dinglichen Wohnungsrechts, § 1093 Abs. 1 Satz 1 BGB
  • II. Schicksal des dinglichen Wohnungsrechts bei Unterbringung in einem Pflegeheim
  • 1. Kein Erlöschen des dinglichen Wohnungsrechts
  • a) Auffassung der Rechtsprechung
  • b) Auffassung der Literatur
  • c) Bewertung
  • 2. Anspruch auf Gestattung der Vermietung
  • a) Treu und Glauben, § 242 BGB, und Wegfall der Geschäftsgrundlage, § 313 Abs. 1 BGB
  • aa) Anspruchsbejahende obergerichtliche Entscheidungen
  • (1) OLG Köln vom 17.5.1991 – 2 W 76/91 – FamRZ 1991, 1432–1433
  • (2) OLG Köln vom 6.2.1995 – 2 W 21/95 – MDR 1995, 464–465
  • (3) OLG Celle vom 13.7.1998 – 4 W 129/98 – NJW–RR 1999, 10–11
  • bb) Anspruchsverneinende obergerichtliche Entscheidungen
  • (1) OLG Oldenburg vom 3.5.1994 – 12 U 16/94 – FamRZ 1994, 1621–1622
  • (2) OLG Düsseldorf vom 28.5.2001 – 9 U 242/00 – Rpfleger 2001, 542–543
  • (3) OLG Hamm vom 9.5.2005 – 5 U 198/04 – RNotZ 2007, 544–546
  • cc) Bundesgerichtshof
  • dd) Literatur
  • ee) Bewertung
  • (1) Nachträgliche Veränderung der dem Vertrag zugrunde liegenden Umstände
  • (2) Keine Vorhersehbarkeit
  • ff) Ergebnis
  • b) Ergänzende Vertragsauslegung, §§ 133, 157 BGB
  • aa) Rechtsprechung
  • (1) OLG Koblenz vom 6.1.2004 – 5 W 826/03 – MDR 2004, 452–453
  • (2) BGH vom 9.1.2009 – V ZR 168/07 – NJW 2009, 1348–1349
  • (3) OLG Hamm vom 28.9.2009 – 5 U 80/07, I-5 U 80/07 – DNotZ 2010, 128–130
  • bb) Literatur
  • cc) Bewertung
  • (1) Feststellung einer Regelungslücke
  • (2) Füllung der Regelungslücke
  • dd) Überleitungsfähigkeit eines Gestattungsanspruchs
  • ee) Durchsetzbarkeit des Gestattungsanspruchs trotz fehlender Überleitungsfähigkeit
  • ff) Ergebnis
  • c) Keine Vermietungsberechtigung
  • 3. Herleitung eines Zahlungsanspruchs
  • a) Leibgedingsvertrag i. S. d. Art. 96 EGBGB
  • aa) Keine Legaldefinition
  • bb) Eine die Existenz teilweise begründende Wirtschaftseinheit als Vertragsobjekt
  • cc) Ergebnis
  • b) Wegfall der Geschäftsgrundlage, § 313 Abs. 1 BGB
  • c) Ergänzende Vertragsauslegung, §§ 133, 157 BGB
  • aa) Rechtsprechung
  • (1) BGH vom 19.1.2007 – V ZR 163/06 – NJW 2007, 1884–1887
  • (2) OLG Oldenburg vom 11.10.2007 – 14 U 86/07 – NJW–RR 2008, 399–400
  • (3) OLG Schleswig vom 7.12.2007 – 14 U 57/07 – NJW–RR 2008, 1705–1706
  • (4) BGH vom 9.1.2009 – V ZR 168/07 – NJW 2009, 1348–1349
  • (5) OLG Hamm vom 28.9.2009 – 5 U 80/07, I-5 U 80/07 – DNotZ 2010, 128–130
  • bb) Literatur
  • cc) Bewertung
  • (1) Kein Zahlungsanspruch i. H. d. fiktiven Miete bei Eigennutzung
  • (2) Kein Anspruch auf Auskehr des Mieterlöses bei Fremdvermietung
  • dd) Ergebnis
  • 4. Zusammenfassung
  • III. Rückforderungsanspruch wegen Verarmung des Schenkers, § 528 BGB
  • 1. Regelungsprinzipien
  • 2. Tatbestandsvoraussetzungen
  • a) Schenkung i. S. d. § 516 Abs. 1 BGB
  • aa) Vermögensminderung auf Seiten des Schenkers
  • bb) Vermögensmehrung auf Seiten des Beschenkten
  • cc) Unentgeltlichkeit der Zuwendung
  • b) Zeitliche Voraussetzung: Vollziehung der Schenkung
  • c) Sachliche Voraussetzung: Notbedarf des Schenkers
  • d) Mehrere Beschenkte
  • 3. Rechtsfolgen
  • a) Naturalrestitution, § 818 Abs. 1 BGB
  • b) Wertersatz, § 818 Abs. 2 BGB
  • c) Entreicherung, § 818 Abs. 3 BGB
  • d) Anwendbarkeit des § 822 BGB
  • 4. Einschränkungen des Rückforderungsanspruchs
  • a) Abwendungsbefugnis, § 528 Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB
  • b) Ausschluss des Rückforderungsanspruchs, § 529 BGB
  • aa) Schuldhafte Herbeiführung der eigenen Bedürftigkeit, § 529 Abs. 1, 1. Alt. BGB
  • bb) Zehnjahresfrist, § 529 Abs. 1, 2. Alt. BGB
  • cc) Gefährdung des angemessenen Unterhalts des Beschenkten, § 529 Abs. 2 BGB
  • c) Pflicht und Anstandsschenkungen i. S. v. § 534 BGB
  • aa) Pflichtschenkung, § 534, 1. Alt. BGB
  • bb) Anstandsschenkung, § 534, 2 Alt. BGB
  • 5. Fortbestand des Anspruchs nach dem Tode des Schenkers
  • a) Überleitung durch den Sozialhilfeträger vor dem Tode des Schenkers
  • aa) OLG Düsseldorf vom 24.5.1984 – 18 U 220/83 – FamRZ 1984, 887–891
  • bb) BGH vom 20.12.1985 – V ZR 66/85 – BGHZ 96, 380–384
  • cc) Bewertung
  • b) Geltendmachung vor dem Tode des Schenkers
  • c) Überleitung durch den Sozialhilfeträger nach dem Tode des Schenkers
  • aa) Erlöschen mit dem Tode des Schenkers
  • (1) OLG Düsseldorf vom 24.5.1984 – 18 U 220/83 – FamRZ 1984, 887–891
  • (2) OLG Stuttgart vom 22.9.1984 – 12 W 27/ 84 – BWNotZ 1985, 70–71
  • (3) OLG Celle vom 7.9.1992 – 20 W 7/92 – NdsRpfl 1993, 11–13
  • (4) OLG Frankfurt a. M. vom 1.12.1993 – 21 U 196/92 – NJW 1994, 1805–1806
  • bb) Kein Erlöschen mit dem Tode des Schenkers
  • (1) LG Karlsruhe vom 5.8.1993 – 5 S 115/93 – NJW 1994, 137–138
  • (2) OLG Karlsruhe vom 18.3.1994 – 15 U 251/93 – NJW–RR 1995, 571–572
  • (3) BGH vom 14.6.1995 – IV ZR 212/94 – NJW 1995, 2287–2288
  • cc) Bewertung
  • d) Sicherstellung des Unterhalts durch einen privaten Dritten
  • e) Ergebnis
  • 6. Durchsetzung des übergeleiteten Anspruchs aus § 528 Abs. 1 Satz 1 BGB
  • 7. Zusammenfassung
  • Teil D: Ausblick für die Kautelarpraxis
  • I. Sozialrechtlich bedingte Sittenwidrigkeit, § 138 Abs. 1 BGB
  • II. Wegzugsklauseln
  • 1. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
  • a) BGH vom 21.9.2001 – V ZR 14/01 – ZEV 2002, 116–117
  • b) BGH vom 23.1.2003 – V ZB 48/02 – ZEV 2003, 211–212
  • c) BGH vom 6.2.2009 – V ZR 130/08 – NJW 2009, 1346–1348
  • 2. Folgen für die Kautelarpraxis
  • a) Vorsorgende Vertragsgestaltung
  • aa) Erlöschensklauseln
  • bb) Einseitige Verzichtsklauseln in Gestalt von Entschädigungsklauseln
  • cc) Ruhendvereinbarungen
  • b) Behandlung von „Altfällen“
  • Teil E: Untersuchungsergebnisse
  • I. Ergebnisse zu den sozialhilferechtlichen Grundlagen (Teil B):
  • II. Ergebnisse zum dinglichen Wohnungsrecht (Teil C/I.–II.):
  • III. Ergebnisse zum Anspruch aus § 528 BGB (Teil C/III.):
  • IV. Ergebnisse hinsichtlich der Vertragsgestaltung (Teil D):
  • Literaturverzeichnis

Teil A: Einleitung und Gang der Arbeit

In der Landwirtschaft ist es von alters her üblich, durch Hofübergabeverträge1 den Generationenwechsel durch Rechtsgeschäft unter Lebenden zu vollziehen und zu gestalten.2 Im Kern versteht man unter dem Vorgang der vorweggenommenen Erbfolge die Übertragung von Vermögensgegenständen durch Rechtsgeschäfte unter Lebenden, die von einem künftigen Erblasser im Hinblick auf den künftigen Erbfall vorgenommen wird.3 Empfänger der Vermögensgegenstände sind diejenigen, die anderenfalls dafür als gesetzliche oder rechtsgeschäftlich bestimmte Erben in Betracht kämen. Die vorweggenommene Erbfolge stellt kein eigenständiges Rechtsinstitut dar. Vielmehr gilt es in Abhängigkeit von den einzelnen Gestaltungszielen Regeln aus den verschiedensten Rechtsgebieten zu beachten.4 Diese Form der Übertragung von Grundeigentum wird inzwischen auch beim gewerblich genutzten und beim städtischen Grundbesitz praktiziert5 und häufig mit weiteren Rechtsgeschäften verbunden, die die weitere Lebensführung und Altersversorgung des künftigen Erblassers wirtschaftlich absichern sollen, vor allem durch den Vorbehalt beschränkter dinglicher Rechte an den übertragenen Vermögensgegenständen oder durch die Begründung von schuldrechtlichen Leistungsverpflichtungen der Erwerber.6 ← 1 | 2 →

In der Kautelarpraxis kommt es immer häufiger vor, dass Eltern bzw. der verbliebene Elternteil dem Sohn oder der Tochter das Vermögen in Gestalt des Eigenheims gegen Gewährung eines anteiligen dinglichen Wohnungsrechts gemäß § 1093 Abs. 1 Satz 1 BGB in vorweggenommener Erbfolge überlassen.7 Denn zahlreiche Übergeber8 möchten die Nachfolge ihres Grundbesitzes bereits zu ihren Lebzeiten geregelt wissen, zugleich jedoch bis zum Lebensende zumindest noch in einem Teil des Hauses als einer ihnen vertrauten Umgebung weiterleben.9 Der Volksmund spricht auch vom „Geben mit warmer Hand“10 oder gebraucht das Sprichwort „Vom Friedhof lässt sich nicht die Welt regieren“. Zuwendungen solch erheblichen Ausmaßes erzielen zu Beginn einer eigenständigen wirtschaftlichen Existenz eine begünstigendere Wirkung für die jüngere Generation, als dies beim Eintritt des Vermögenswechsels in Folge der Erbfolge zu einem viel späteren Zeitpunkt der Fall ist.11 Sicherlich treffen einige Grundstückseigentümer diese Entscheidung auch unter Einbeziehung von steuerrechtlichen Aspekten. Der steuerliche Vorteil besteht darin, dass der Wert des vorbehaltenen Wohnungsrechts abzugsfähig ist, den steuerlichen Wert des übertragenen Grundstücks mindert und zur Ausschöpfung von Freibeträgen führen kann.12 Andere wiederum möchten die Verantwortung für gegebenenfalls vermietetes Grundvermögen abgeben.13

Das Wohnungsrecht gemäß § 1093 BGB entsteht nach § 873 Abs. 1 BGB durch Einigung und Eintragung. Unabdingbares Kennzeichen des Wohnungsrechts i. S. v. § 1093 Abs. 1 Satz 1 BGB ist, dass der Grundstückseigentümer von der Benutzung der Räumlichkeiten, die er dem Wohnungsberechtigten überlassen ← 2 | 3 → hat, ausgeschlossen ist.14 Es handelt sich um ein absolutes, sich gegen jedermann richtendes Recht. In der Praxis wird der Begriff „Wohnungsrecht“ nicht immer eindeutig von dem des „Wohnrechts“ abgegrenzt.15 Ergibt die Auslegung des Bestellungsvertrags16, dass nur ein Mitbenutzungsrecht des Berechtigten ohne Ausschluss des Eigentümers gewollt war, liegt eine beschränkte persönliche Dienstbarkeit gemäß § 1090 Abs. 1 BGB in der Form eines Wohnrechts vor.17 Gegenstand dieser Arbeit ist allein das Wohnungsrecht gemäß § 1093 Abs. 1 Satz 1 BGB.

Die Bedeutung und praktische Relevanz der Untersuchung zeigt sich darin, dass das Risiko, die letzten Jahre seines Lebens als Pflegefall in einem Alten- oder Pflegeheim zu verbringen, enorm gestiegen ist.18 Der stetige medizinische Fortschritt führt zu einer höheren durchschnittlichen Lebenserwartung.19 Damit einher geht aber auch, dass die Anzahl der pflegebedürftigen Personen steigt20, weil schwerwiegende – oftmals auch altersbedingte – Erkrankungen Beeinträchtigungen im Lebensalltag nach sich ziehen. Die dauerhafte Pflege einer bedürftigen Person ist dabei in vielen Familien gar nicht mehr möglich. Denn auf der einen Seite haben sich die Haushaltsstrukturen verändert. Der Familienverbund ist im Vergleich zu früheren Zeiten kleiner21, die Anzahl von sog. Mehrgenerationenhaushalten stark gesunken. Auf der anderen Seite ist die Übernahme der Pflege eines Familienmitgliedes aufgrund des damit verbundenen hohen zeitlichen Aufwands neben der eigenen beruflichen Tätigkeit kaum zu bewerkstelligen. Hinzu kommt, dass einem Berufstätigen ← 3 | 4 → heutzutage ein hohes Maß an Flexibilität abverlangt wird. Die Inanspruchnahme personalintensiver Dienstleistungen des Pflegesektors hat erhebliche Kosten zur Folge. Viele ältere Menschen sind trotz Einführung der Pflegeversicherung22 als Pflichtversicherung und entgegen der Einschätzung des Gesetzgebers23 zur Deckung der Pflegeheimkosten darauf angewiesen, ergänzend Sozialhilfe zu beziehen.24 Denn die Pflegeversicherung ist keine bedarfsdeckende Vollversicherung, sondern aus ihr erhalten pflegebedürftige Personen abhängig vom jeweiligen Schweregrad der Pflegebedürftigkeit pauschalierte Leistungen. Oftmals reichen die Zahlungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung zusammen mit dem Einkommen und Vermögen des Pflegebedürftigen nicht zur Deckung der Pflegeheimkosten aus.25 Es besteht daher die latente Gefahr, dass der Übergeber im Alters- oder Pflegefall hilfsbedürftig wird.26 Wer seinen Bedarf in der besonderen Lebenssituation, in der sich ein pflegebedürftiger Mensch befindet, nicht aus eigenen Mitteln decken kann, hat gemäß § 17 SGB XII Anspruch auf Sozialhilfe. Die Existenz der Sozialhilfe ist Ausfluss des Sozialstaatsgebots aus Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1 GG.27 Ihr Ziel ist es nach § 1 Satz 2 HS. 1 SGB XII, den Leistungsberechtigten so weitgehend wie möglich zu befähigen, ohne Sozialhilfe leben zu können. Zum Kreis der Leistungsberechtigten zählen insbesondere auch Personen, die früher in vergleichsweise guten finanziellen Verhältnissen lebten.28 Der Sozialhilfeträger erbringt dann Hilfe zur Pflege (§ 8 Nr. 5 SGB XII) nach den §§ 61–66 SGB XII.29 Zu den eigenen Mitteln zählen allerdings auch Ansprüche gegen Dritte. Dies ist ← 4 | 5 → von Bedeutung im Hinblick auf das in § 2 Abs. 1 SGB XII30 verankerte Prinzip des Nachrangs der Sozialhilfe, welches statuiert, dass der Sozialhilfeträger nur in Vorlage für den vorrangig verpflichteten Beschenkten eintritt. Sozialhilfe ist als nicht beitragserkaufte Sozialleistung31 gegenüber privater Bedarfsdeckung nachrangig. Zur nachträglichen Durchsetzung dieses Nachrangigkeitsprinzips kann der Sozialhilfeträger gemäß § 93 Abs. 1 Satz 1 SGB XII32 durch schriftliche Anzeige bewirken, dass ein Anspruch, den der Leistungsberechtigte für die Zeit, für die Leistungen erbracht werden, gegen einen Dritten hat, der kein Leistungsträger i. S. d. § 12 SGB I ist, bis zur Höhe seiner Aufwendungen auf ihn übergeht. Im Rahmen einer Grundbesitzübertragung unter Vorbehalt eines dinglichen Wohnungsrechts in vorweggenommener Erbfolge steht die Überleitung eines etwaigen Schenkungsrückforderungsanspruchs gemäß § 528 Abs. 1 Satz 1 BGB sowie zumindest des Zahlungsanspruchs, der sich möglicherweise bei Nichtausübung des Wohnungsrechts wegen des Bestehens eines dauerhaften subjektiven Ausübungshindernisses herleiten lässt, in Frage.

So hat denn auch die Bedeutung von § 528 BGB aufgrund der Überleitbarkeit des Rückforderungsrechtes des verarmten Schenkers auf den Sozialhilfeträger gemäß § 93 SGB XII in den letzten Jahren stark zugenommen. Denn viele Übergabeverträge werden als Schenkung i. S. d. § 516 Abs. 1 Satz 1 BGB eingeordnet. Die typische Normsituation von § 528 Abs. 1 BGB ist, dass sich später herausstellt, dass die zurückgehaltenen Vermögensteile nicht für die Deckung der steigenden Bedürfnisse im Alter ausreichen. Sozialhilfeträger, die für Pflegeheimkosten aufkommen, erwägen daher häufig einen Rückgriff gegen den Grundstückseigentümer, wenn sie denn von der Schenkung Kenntnis erlangen. Das kann vor oder nach dem Tode des verarmten Schenkers der Fall sein. § 528 BGB ist somit zu einer Schnittstelle von Zivilrecht und Sozialrecht geworden.33

Angesichts ständig wachsender Pflegeheimkosten34 auf der einen und finanzieller Klammheit im öffentlichen Gesundheitswesen auf der anderen Seite ist sogar ← 5 | 6 → noch eine Verschärfung der Situation zu erwarten.35 Obendrein zeichnet sich eine Häufung von Fällen des Sozialmissbrauchs ab. Es wird zunehmend der Versuch unternommen, den Sozialhilferegress durch umgehende Vertragsgestaltung auszuschließen oder aber zumindest zu erschweren.36 Denn um seiner Familie oder einzelnen Angehörigen das Familienvermögen zu erhalten, kommt es vor, dass sich der Schenker im Hinblick auf erwartete Pflegebedürftigkeit vermögenslos stellt. Die höchstrichterliche Rechtsprechung37 hat vor dem Hintergrund einer veränderten sozialstaatlichen Wirklichkeit denn auch die Zugriffsmöglichkeiten des Sozialhilfeträgers auf das geschenkte Vermögen im Wege des Regresses nach § 93 SGB XII ausgeweitet.

Neben § 528 Abs. 1 Satz 1 BGB versucht der Träger der Sozialhilfe aber auch weitere Ansprüche des sozialleistungsberechtigten Übergebers gegen Dritte gemäß § 93 SGB XII auf sich übergehen zu lassen, um die Aufwendungen im Rahmen der Sozialhilfe ersetzt zu bekommen. Seit Jahren ist zu beobachten, dass Sozialhilfeträger restriktiver gegen Angehörige und Erben vorgehen, um ihre Aufwendungen zu decken.38 Die Möglichkeit des Sozialhilferegresses bei Übertragung von Grundbesitz in vorweggenommener Erbfolge unter Vorbehalt eines Wohnungsrechts wirft daher Fragen von einiger Brisanz auf. Oftmals wird bei der Einräumung eines Wohnungsrechts gemäß § 1093 Abs. 1 Satz 1 BGB keine ausdrückliche Regelung für den Fall getroffen, dass dieses Recht in fortgeschrittenem Alter aufgrund von Pflegebedürftigkeit nicht mehr wahrgenommen werden kann.39 Daraus ergeben sich zahlreiche umstrittene Detailprobleme. Das Wohnungsrecht als eine besondere Form der beschränkten persönlichen Dienstbarkeit nach § 1090 BGB ist durch den Ausschluss des Eigentümers von der Nutzung eines bestimmten Gebäudes oder Gebäudeteils zu Wohnzwecken geprägt.40 Eine Überleitung des Wohnungsrechts selbst als Naturalleistung ist nach einhelliger, wenn auch auf unterschiedliche dogmatische Ansätze zurückzuführender Meinung nicht möglich, wenn die Überlassung der Rechtsausübung an Dritte gemäß § 1092 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht vereinbart ist. Was aber geschieht, wenn das Wohnungsrecht wegen der Notwendigkeit stationärer Pflege nicht mehr genutzt ← 6 | 7 → werden kann? Ergeben sich Ansprüche, die Gegenstand einer Überleitung sein können? Es geht darum, ob und inwieweit der Wohnungsberechtigte selbst oder der Sozialhilfeträger aus übergeleitetem Recht weiterhin finanzielle Vorteile aus dem bestellten Wohnungsrecht i. S. d. § 1093 Abs. 1 Satz 1 BGB ziehen kann.41 Vor allem im Hinblick darauf, dass die Schenkungsrückforderung nach Ablauf der Zehnjahresfrist gemäß § 529 Abs. 1, 2. Alt. BGB ausgeschlossen ist, kommt diesen Fragen erhebliche Bedeutung zu. Im umgekehrten Fall, wenn also die Frist noch nicht verstrichen ist, könnte der Wert eines dem Schenker gewährten Wohnungsrechts bei der Ermittlung des Notbedarfs nach § 528 Abs. 1 Satz 1 BGB zu berücksichtigen sein und sich auf die Bedarfshöhe auswirken.

Die derzeitige Aktualität42 dieser Fragestellungen belegen sowohl die zahlreichen z. T. höchstrichterlichen Gerichtsentscheidungen43 als auch die stetig wachsende Beachtung durch das Schrifttum. Viele der herangezogenen wissenschaftlichen Veröffentlichungen sind dabei von den Erfahrungen der Autoren aus ihrer täglichen notariellen Beratungspraxis geprägt. Der Praxisbezug der Untersuchung spiegelt sich aber vor allem darin wider, dass das Schicksal des Wohnungsrechts bei Nichtausübung wegen unbefristeter Unterbringung in einem Alten- und Pflegeheim verstärkt im Blickfeld des jeweils in Vorlage tretenden Sozialhilfeträgers steht. Die betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden zunehmend für die Materie sensibilisiert und nehmen an Fortbildungsseminaren teil.44 ← 7 | 8 →

Zu Beginn soll der Leser an die Thematik dieser Arbeit herangeführt werden, indem sozialhilferechtliche Grundlagen, insbesondere der öffentlich-rechtliche Vorgang der Anspruchsüberleitung gemäß § 93 SGB XII, zusammenfassend dargestellt werden (Teil B). Im Anschluss werden etwaige überleitungsfähige Ansprüche problematisiert und herausgearbeitet (Teil C). Dafür wird die bisherige Rechtsprechung zum Sozialhilferegress im Zusammenhang mit einem bei einem Übergabe- bzw. Schenkungsvertrag vereinbarten Wohnungsrecht aufbereitet und analysiert. Zu diesem Problemkreis liegt inzwischen eine Vielzahl von gegensätzlichen Entscheidungen der Oberlandesgerichte vor. Darüber hinaus werden die in der Literatur vertretenen Auffassungen ausgewertet. Weiterhin wird in diesem Zusammenhang ausführlich auf den Schenkungsrückforderungsanspruch aus § 528 Abs. 1 Satz 1 BGB eingegangen und die Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Regressmöglichkeiten erläutert. Sodann wird hinsichtlich der kautelarjuristischen Tätigkeit ein Ausblick gewagt (Teil D). Denn sozialrechtlichen Fragestellungen kommt im Zusammenhang mit Schenkungen ein zunehmend größerer Stellenwert zu. Kein anderer Bereich des Sozialrechts ist im Rahmen der notariellen Beratung von solcher Bedeutung wie der Regress des Sozialleistungsträgers.45 Einerseits können Vermögensübertragungen und dabei vereinbarte Versorgungsrechte Auswirkungen auf den Bestand und die Höhe der Sozialleistungen haben, andererseits sind die sich aus den sozialrechtlichen Vorschriften ergebenden Grenzen für die Privatautonomie zu berücksichtigen.46 Vordergründig stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit einer Vertragsgestaltung, wonach für den Fall des Wegzugs des Übergebers das Wohnungsrechts erlischt. Schließlich werden die erzielten Untersuchungsergebnisse resümiert (Teil E). ← 8 | 9 →

                                                   

  1  Für die vom RG entwickelte Definition siehe Beschluss v. 9.7.1927 – V B 20/27 – RGZ 118, 17 (20).

  2  Schwarz ZEV 1997, 309 (309).

  3  Olzen S. 13; ähnliche Begriffsbestimmungen finden sich auch in dem Urteil des BGH v. 1.2.1995 – IV ZR 36/94 – DNotZ 1996, 640 (640), sowie bei Kollhosser AcP 194 (1994), 231 (231), und Westhoff DB 1972, 809 (809). Die vorweggenommene Erbfolge ist vom Begriff her ein Paradoxon, weil eine erbrechtliche Teilung gemäß § 1922 BGB den Tod des Erblassers voraussetzt.

  4  Kollhosser AcP 194 (1994), 231 (233); Spiegelberger Rn. 12 ff.; Mayer DNotZ 1996, 604 (610).

  5  Die klassische landwirtschaftliche Hofübergabe ist bedingt durch den Strukturwandel in der Landwirtschaft stark auf dem Rückzug, vgl. Mayer DNotZ 1996, 604 (608). Vgl. auch die Einleitung von Scheuber/Roth NJW-Spezial 2009, 567 (567).

  6  Kollhosser AcP 194 (1994), 231 (231).

  7  Mensch BWNotZ 2009, 162 (162), zählt den Überlassungsvertrag unter Zurückbehaltung eines Wohnungsrechts zum Alltag der notariellen Praxis; vgl. ferner Both jurisPR-MietR 10/2010 Anm. 6; Brückner NJW 2008, 1111 (1111); Gühlstorf ZfF 2009, 265 (267); Herrler DNotZ 2009, 408 (408 f.); ähnlich auch der Bericht von Kohler BWNotZ 2001, 54 (58); Zimmer ZEV 2006, 381 (381).

  8  Diese Nomenklatur rührt daher, dass der obligatorische Teil der Vermögensübertragung im Wege der vorweggenommenen Erbfolge als Übergabevertrag bezeichnet wird, vgl. Olzen S. 20. Übergabeverträge nennt man Rechtsgeschäfte, durch die Vermögenswerte von einem Übergeber auf einen Übernehmer übertragen werden. Sie lassen sich nach ihrem Vertragsmotiv einstufen, z. B. als Schenkungsvertrag.

  9  Auktor MittBayNot 2008, 14 (14); Eupen GE 2010, 590 (590); Gühlstorf ZfF 2009, 265 (267); Zimmer ZEV 2009, 382 (382).

10  Vgl. Westermann ZGR 1991 Sonderheft 10, 505 (527).

11  Weyland MittRhNotK 1997, 55 (55); vgl. auch Kollhosser AcP 194 (1994), 231 (233).

12  Frings SRa 2009, 201 (201); zur Ausschöpfung von Freibeträgen Eupen GE 2010, 1398 (1398).

13  Vgl. Gühlstorf/Ette ZfF 2008, 13 (13).

14  Karpen MittRhNotK 1988, 131 (146).

15  Frings SRa 2009, 201 (202); Milzer BWNotZ 2005, 136 (136).

16  Die Wohnungsrechtsvereinbarung ist in den Übergabevertrag eingebettet.

Details

Seiten
XI, 208
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653039917
ISBN (ePUB)
9783653990126
ISBN (MOBI)
9783653990119
ISBN (Hardcover)
9783631649183
DOI
10.3726/978-3-653-03991-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
Dingliches Wohnungsrecht Überleitungsfähigkeit subjektives Ausübungshindernis Sozialhilferecht Erblasser
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. XII, 208 S.

Biographische Angaben

Ove Reinbender (Autor:in)

Ove Reinbender, geboren in Hamburg, Studium der Rechtswissenschaften und Promotion an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

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Titel: Sozialhilferegress nach Grundbesitzübertragung in vorweggenommener Erbfolge unter Vorbehalt eines dinglichen Wohnungsrechts
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