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Die Goethezeit

Autoren – Werke – Wirkung

von Andrea Ressel (Autor:in)
©2014 Monographie 115 Seiten

Zusammenfassung

Die Goethezeit gehört zu den glanzvollsten Epochen der deutschsprachigen Literaturgeschichte. Dieses Studienbuch vermittelt Studierenden der germanistischen Literaturwissenschaft übersichtlich und klar strukturiert die Epoche der Goethezeit. Auf der Basis der aktuellen Forschungslage wird die Epoche der Goethezeit in ihrer ganzen Vielfalt und Komplexität dargestellt. Die grundlegenden Themen und kulturgeschichtlichen Entwicklungen der Epoche werden präzise herausgearbeitet. Deutlich wird dabei, welche Bedeutung die Goethezeit innerhalb der germanistischen Literaturgeschichte einnimmt. Auf diese Weise ermöglicht der Band einen vertieften Einblick in die Entwicklungsprozesse der Goethezeit und enthält zugleich einen Überblick über die wesentliche Forschungsliteratur, der zur weitergehenden Beschäftigung mit der Epoche anregen soll.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • I. Basismodul 1: Literaturwissenschaftliche Vorbemerkungen
  • 1. Zum Epochenbegriff Goethezeit
  • 2. Phasengliederung und Periodisierung
  • 3. Forschungsbericht
  • II. Basismodul 2: Die Entwicklung der Goethezeit als Literaturepoche
  • 1. Buchmarkt und Publizistik: Zur Entfaltung einer literarischen Öffentlichkeit
  • 2. Dichtung und Gelehrtenkultur: Zum literarischen Leben der Goethezeit
  • 3. Gesellschaft, Politik und Kultur
  • III. Aufbaumodul 1: Das Theater der Goethezeit
  • 1. Zur Modernisierung des Theaterwesens
  • 2. Programmatisches zu Drama und Theater
  • 3. Formen und Tendenzen
  • IV. Aufbaumodul 2: Poetiken und Poetologien der Goethezeit
  • 1. Zur Produktion und Verbreitung von poetischen Werken
  • 2. Theoretische Abhandlungen
  • 3. Formen und Tendenzen
  • V. Aufbaumodul 3: Erzählende Prosa
  • 1. Produktion und Verbreitung der erzählenden Prosa
  • 2. Romantheorien und Romantypen
  • 3. Formen und Tendenzen
  • VI. Aufbaumodul 4: Die Wirkungsgeschichte der Goethezeit
  • 1. Die Literatur der Goethezeit im internationalen Kontext
  • 2. Zur Weiterentwicklung der Genieästhetik
  • VII. Zeittafel
  • Kommentierte Bibliographie
  • 1. Gängige Werkausgaben
  • 2. Weitere zitierte Quellen
  • 3. Einführungs- und Überblicksliteratur
  • 4. Forschungsliteratur zu speziellen Aspekten
  • Personenregister
  • Sachregister

I.  Basismodul 1: Literaturwissenschaftliche Vorbemerkungen

1.  Zum Epochenbegriff Goethezeit

Die Goethezeit gehört zu den glanzvollsten Epochen der deutschen Literaturgeschichte und das literarische Vermächtnis aus der Zeit um 1800 fasziniert seit jeher Philologen und Geisteswissenschaftler, die diese Phase immer wieder neu entdecken und wissenschaftlich aufarbeiten. Es waren Autoren und Autorinnen wie Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) und Friedrich von Schiller (1759–1805) sowie Johanna Schopenhauer (1766–1838) und Caroline von Wolzogen (1763–1847), die durch ihre Werke und ihr Wirken die Weiterentwicklung der deutschsprachigen Literaturgeschichte nachhaltig prägten. Heutzutage sind viele literarische Werke, die in der Zeit von 1770 bis 1830 entstanden sind, ein zentraler Bestandteil der schulischen Lehrpläne. Auch für Studierende der germanistischen Literaturwissenschaft sind die Werke der Goethezeit als Seminar- und Prüfungsstoff überaus beliebt, da bereits schulische Grundkenntnisse vorhanden sind.

Doch die Beliebtheit für die Literatur der Goethezeit ist keineswegs als ein Phänomen des 21. Jahrhunderts zu betrachten, denn bereits zu Lebzeiten Goethes erfuhren seine Werke eine hohe Auflagenzahl. Es war die Veröffentlichung von Die Leiden des jungen Werther (1774) mit der Goethe einen Erfolg erfuhr, der bis dahin ungewöhnlich in der deutschsprachigen Literaturgeschichte war. Das in der Folge einsetzende „Werther-Fieber“ führte nicht nur zu einer Nachahmung des Kleidungsstils in Anlehnung an Goethes Werther, sondern bewirkte ein wachsendes Leseinteresse und machte im europäischen Ausland stärker als je zuvor auf die deutschsprachige Literatur aufmerksam. Bereits in der damaligen Zeit wurde Goethe als die literarische Gestalt des ausgehenden 18. Jahrhunderts angesehen und die Spuren des „Goethe-Kult“ prägen noch heute vielerorts das Stadtbild. So gibt es eine Vielzahl an öffentlichen Plätzen und Straßen die den Namen des Weimarer Autors tragen und sich über ganz Deutschland erstrecken; sie wurden aus Ehrung gegenüber seinem literarischen Schaffen errichtet und sind kaum noch zu überblicken. Es zeigt sich, dass Goethe auch heutzutage noch als eine der bedeutendsten Gestalten der Literaturgeschichte betrachtet wird. Auch mangelt es im akademischen Betrieb nicht an wissenschaftlichen Tagungen und Publikationen, in denen das Werk und Wirken von Goethe immer wieder neu beleuchtet wird. ← 7 | 8 →

Von Seiten der Literaturwissenschaft entdeckte man in jüngster Vergangenheit, dass die in der Zeit von 1770 bis 1830 veröffentlichten Werke eine Vielzahl an charakteristischen Merkmalen und Besonderheiten in sich tragen, die vor allem in diesem Zeitabschnitt aufzufinden sind und sich doch unter einer Epoche zusammenfassen lassen. Nach dem gängigem Verständnis vieler Literaturwissenschaftler wird der Begriff der Goethezeit als Epochenbezeichnung für die Zeit von 1770 bis 1830 verwendet (vgl. Titzmann 1983, 115). Bereits zu Lebzeiten Goethes unterbreitete Heinrich Heine (1797–1856) den Vorschlag, die Epoche „die mit dem Erscheinen Goethes anfängt“ (HG 10, 239) und „bey seinem Sarge aufhören wird“ (HG 12/1, 47), doch als Goethezeit zu bezeichnen. Doch Heines Vorschlag hinsichtlich der Epochenbezeichnung wurde erst in den nachfolgenden Jahren aufgegriffen und führte innerhalb der Literaturwissenschaft zu kontroversen Diskussionen. So konnte man sich bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts innerhalb der Literaturwissenschaft nicht darauf einigen, auf welchen Zeitraum sich die Epoche eingrenzen lässt. Innerhalb der wissenschaftlichen Debatten wurde der Begriff der Goethezeit als Epochenbezeichnung sogar radikal angezweifelt und erfuhr heftige Kritik.

Dennoch konnte sich die Verwendung der Epochenbezeichnung Goethezeit durchsetzen und hält sich nun schon über viele Jahrzehnte in der Literaturwissenschaft, was natürlich auch auf gute Argumente zurückzuführen ist. Es war vor allem die in den vergangenen Jahren einsetzende Weiterentwicklung des Epochenbegriffs Goethezeit, durch die überzeugend verdeutlicht werden konnte, dass der Zeitabschnitt von 1770 bis 1830 klar „abgrenzbare ‚Tendenzen‘/‚Richtungen‘“ (Titzmann 1983, 115) in sich trägt und als solches eine homogene Einheit darstellt. Mit anderen Worten: Die einschlägigen Forschungsergebnisse, die in jüngster Zeit vorgelegt wurden, lassen erkennen, dass es durchaus berechtigt ist, die Epochenbezeichnung der Goethezeit zu verwenden. Dennoch verdeutlichen die unterschiedlichen Auffassungen, dass es sich bei Epocheneinteilungen um heuristische Konzepte handelt und so kann es jederzeit passieren, dass innerhalb der Literaturwissenschaft neuartige epochale Strukturierungen der Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts unterbreitet werden, die dann von der science community ihre Akzeptanz finden und frühere Epochenbezeichnungen ablösen. Es lässt sich also schwer voraussagen, ob in einigen Jahren im Bereich der germanistischen Literaturwissenschaft Lehrveranstaltungen über die Goethezeit angeboten werden oder ob eine andere Bezeichnung für die Zeit von 1770 bis 1830 in den Vorlesungsverzeichnissen erscheinen wird. Dabei ist es gerade die ständig bestehende Möglichkeit der Veränderung von Epocheneinteilungen, die die literaturwissenschaftliche Arbeit so immens spannend macht. So verrät auch ein Blick in die gängigen literaturwissenschaftlichen Lexika und Allgemeinenzyklopädien, dass es noch an einer Aufnahme des Epochenbegriffs Goethezeit mangelt, was ← 8 | 9 → den innovativen Charakter der Epochenbezeichnung bekräftig. Obgleich überzeugend nachgewiesen wurde, dass es sich bei dem Begriff Goethezeit um eine Sammelbezeichnung für eine spezifische Strömung der deutschsprachigen Literatur mit bestimmten epochentypischen Merkmalen handelt, so wird die Epochenbezeichnung noch immer recht zögerlich verwendet. So wurden in jüngster Vergangenheit eine Reihe an Detailarbeiten zu einzelnen Autoren und Texten sowie zu einzelnen Fragestellungen und Problemlagen der Goethezeit verfasst, doch fehlt es bislang an einer übersichtlichen Gesamtdarstellung zu dieser literaturhistorischen Periode.

Das vorliegende Werk soll daher dazu dienen, einen verständlichen Einblick in die „Blütezeit“ der deutschsprachigen Literaturgeschichte zu erhalten. Vor diesem Hintergrund werden anhand der literarischen Entwicklungen in den Bereichen Epik, Lyrik und Dramatik die wesentlichen Merkmale sowie die Entwicklungsprozesse der Epoche herausgestellt. Es war gerade die Goethezeit, in der sich die – mitunter auch umstrittene – Einteilung der Literatur in drei Hauptgattungen herausbildete und somit eine literarische Systematisierung geschaffen wurde, die noch heute ihre Anwendung findet (vgl. D’Aprile/Siebers 2008, 129). Doch das Besondere an der Goethezeit war, dass eine Vielzahl an literarischen Innovationen hervortraten und das Gattungsspektrum dadurch auch erweitert wurde. Im Folgenden sollen die verschiedenen Facetten der Goethezeit und die weitreichende Wirkungsgeschichte der Epoche verdeutlicht werden. Der Blick in die Literaturgeschichte soll dazu dienen, ein besseres Verständnis davon zu gewinnen, auf welchen Wurzeln die heutige Literatur aufgebaut ist und so gilt es, vertiefte Erkenntnisse über die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur zu erhalten.

2.  Phasengliederung und Periodisierung

In der Literaturwissenschaft wird generell davon ausgegangen, dass es sich bei Epocheneinteilungen um Konstrukte handelt, die dazu dienen, die zahllosen literarischen Werke in eine sinnvolle Ordnung zu bringen, um so die literarischen Entwicklungsprozesse besser deuten zu können. Vor diesem Hintergrund dienen Epocheneinteilungen vor allem dazu, die in den literarischen Texten vorhandenen gemeinsamen Merkmale zu einer Einheit zusammenzufügen und von früheren Epochen abzugrenzen, somit auch die Veränderungen innerhalb des Literatursystems sichtbar machen zu können. Was die Einteilung erschwert ist die Tatsache, dass es eine Reihe an unterschiedlichen, schwer voneinander abgrenzbaren Bewegungen und Tendenzen gibt, die nach- und nebeneinander verlaufen. So ist innerhalb der Literaturwissenschaft etliche Male bestritten worden, ob es überhaupt möglich sei, die ← 9 | 10 → Goethezeit überzeugend zu definieren und zeitlich einzugrenzen. Die vielfältigen Forschungsergebnisse, die in jüngster Vergangenheit vorgelegt wurden, haben jedoch überzeugend bewiesen, dass die Jahre 1770 und 1830 als die untere und die obere zeitliche Grenze der Epoche anzusehen sind. Die vorgenommene Epocheneingrenzung ist freilich mit guten Argumenten zu begründen. So entstehen im deutschsprachigen Raum im Zeitraum von 1770 bis 1830 die zentralen literarischen Texte, die der Goethezeit zugeordnet werden können und es werden die wichtigsten dramatischen Werke der Epoche auf der Bühne aufgeführt. Freilich bleibt die Literatur der Zeit um 1800 nicht unberührt von gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Veränderungen, die den Werdegang der Epoche beeinflussen und so bilden sich im Verlauf der Goethezeit unterschiedliche Stilrichtungen und Tendenzen innerhalb des Literatursystems heraus. Um eine solche Fülle an Strömungen in der Literatur um 1800 dennoch unter einer Kategorie zusammenfassen zu können, ist von der Forschung immer wieder der Begriff der Goethezeit als übergreifende Epochenbezeichnung lanciert worden (vgl. Korff 1923). Dennoch werden viele literarische Texte, die in jenen Jahren publizierten wurden und die sich auch heute noch einer großen Beliebtheit erfreuen, nicht zur Goethezeit subsumiert, denn die Epoche ist halt eine von vielen ihrer Zeit, die nebeneinander herlaufen und sich überlappen. Es ist gerade die Goethezeit, die innerhalb der Literaturgeschichte von einer außergewöhnlichen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeigen gekennzeichnet ist. So werden für die unterschiedlichen Ausprägungen des literarischen Lebens um 1800 zahlreiche Epochenkategorien verwendet, zu denen ‚Sturm und Drang‘, ‚Klassik‘, ‚Romantik‘ – und nicht zuletzt auch der Begriff Goethezeit gehören. Doch bestehen innerhalb der Literaturwissenschaft unterschiedliche Vorstellungen darüber, in welche Binnenstrukturierung sich die Goethezeit unterteilen lässt. So sind manche Literaturwissenschaftler der Ansicht, dass es sich bei Sturm und Drang, Klassik und Romantik um Teilepochen handelt, die unter dem Oberbegriff der Goethezeit zusammengeführt sind, während andere die Goethezeit als eine eigenständige Epoche begreifen.

Um im Folgenden ein besseres Verständnis davon zu erhalten, was das Wesen der Goethezeit ausmacht, sollen zunächst die in der Zeit von 1770 bis 1830 kursierenden Epochenkategorien erörtert werden. Freilich werden im Folgenden Sturm und Drang, Klassik und Romantik nur kurz umrissen, so dass nicht alle Entwicklungen eine gebührende Aufmerksamkeit erfahren werden, denn in erster Linie gilt es, ein entsprechendes Hintergrundwissen über die literarischen Entwicklungsprozesse der Goethezeit zu bekommen, und ein besseres Verständnis für die Literatur um 1800 zu erhalten.

Zunächst soll das Augenmerk auf die Epochenkategorie Sturm und Drang gerichtet werden. In der deutschsprachigen Literaturgeschichte wird generell der ← 10 | 11 → Zeitraum von 1770 bis 1785 als Sturm und Drang bezeichnet. Es ist eine Phase in der Entwicklung der deutschsprachigen Literatur, in der vor allem junge Autoren wie Goethe oder Schiller zur Feder greifen und auf gesellschaftliche Defizite aufmerksam machen, was zur Folge hat, dass im Bereich der Lyrik, Dramatik und Epik vollkommen neue Gattungsmerkmale und inhaltliche Themen in den Vordergrund treten. Das Besondere an den Autoren war, dass sie eine völlig andere Herkunft hatten, als die Autoren früherer Epochen, bei denen es sich ja meist um Gelehrte aus der Oberschicht handelte. Doch die Autoren, die sich zum Sturm und Drang rechnen lassen, stammten zum Großteil aus dem Mittel- und Kleinbürgertum, und versuchten durch ihre literarischen Erzeugnisse ein zusätzliches finanzielles Einkommen zu ihrer beruflichen Tätigkeit zu erhalten. Angesichts der bürgerlichen Herkunft von vielen Autoren des Sturm und Drang verwundert es nicht, dass auf inhaltlicher Ebene Themen in den Vordergrund traten, die das Bürgertum betrafen. So stehen im Zentrum der literarischen Aufmerksamkeit eine Bandbreite an Stoffen, in denen die zentralen Konflikte der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck kommen. Es zeigt sich, dass literarische Texte und Theaterstücke in der Zeit des Sturm und Drang zu einem Medium werden, mit dem öffentlich Kritik am feudalen System geübt wurde. Kurzum: Die Autoren des ausgehenden 18. Jahrhunderts wandten sich gegen die Autorität des damaligen Gesellschaftssystems und die Tradition der Vergangenheit.

Während man also in früheren Epochen darum bemüht war, die Normen der Regelpoetik einzuhalten, so waren die Autoren des Sturm und Drang überzeugt davon, dass sie über genügend Originalität verfügen und sich ihr künstlerisches Talent nur schwer in Regeln der traditionellen Poetik fügen lasse. Doch für die Autoren des Sturm und Drang galt es nicht nur gegen die erstarrten poetischen Regel zu protestieren, sondern sich auch gegen die gesellschaftlichen Konventionen aufzulehnen. Die Autoren des Sturm und Drang verweigerten somit die Anpassung an die bestehenden gesellschaftlichen und literarischen Normen – für sie galt es, das Lebensgefühl ihrer Generation in den literarischen Werken zum Ausdruck zu bringen. Um ihre Anliegen entsprechend auszudrücken, verwendeten sie eine gefühls- und ausdrucksstarke Sprache, in der halbe Sätze und Kraftausdrücke sowie verbale Derbheiten ein spezifischer Bestandteil der Ausdruckformen waren.

Auf sprachlicher und inhaltlicher Ebene wandten sich die Autoren so von der ratio der Aufklärung ab und rückten die emotio in das Zentrum ihres literarischen Schaffens. Doch sind es insbesondere die Begriffe von Natur und Vernunft, die eine neue Bedeutung in der Literatur erlangen. Es zeigt sich, dass eine vollkommen veränderte Einstellung gegenüber der Literaturproduktion öffentlich in Erscheinung trat. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass auch die Epochenbezeichnung Sturm und ← 11 | 12 → Drang von den Autoren bewusst gewählt wurde, um den innovativen und besonders radikalen Grundcharakter dieser Literaturphase zum Ausdruck zu bringen.

So berichtet Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) im Jahr 1780 in einem Brief an Johann Kaspar Lavater (1741–1801), er wolle seine Dramen in einer neuen Ausgabe herausbringen, doch soll die „Jugendliche Unbesonnenheit, Sorglosigkeit“ (WB 3, 620) sowie der „Sturm“ (WB 3, 620) und das „Nichtachten der Verhältnisse“ (WB 3, 620) beibehalten werden. Die Wortwahl von Lenz lässt bereits erkennen, dass er sich mit seinen Dramen formal und inhaltlich von den bewährten Mustern der Theaterstücke früherer Epochen abgrenzen wollte. Einer Einschätzung von Lenz zufolge sollten nunmehr politisch brisante Themen ins Zentrum der Literatur rücken, doch bedurfte es einer entsprechenden Formulierung für die Epoche.

Die Epochenbezeichnung Sturm und Drang wurde von Friedrich Maximilian Klinger (1752–1831) initiiert, der ein Theaterstück verfasste, das den gleichnamigen Titel trägt. Der Titel des Dramas wurde angeregt durch Christoph Kaufmann (1753–1795), der im Jahr 1776 in Weimar auf Klinger traf und ihn davon überzeugen konnte, sein im Entstehen begriffenes Werk doch nicht Der Wirrwarr, sondern Sturm und Drang (1776) zu bezeichnen (vgl. Luserke 1997, 25). Die Entstehung des Theaterstücks ist geprägt von persönlichen Veränderungen im Leben von Klinger und so berichtet er in einem Brief an einem Freund Folgendes:

Ich lebe so hin, bald im Drang und Sturm, bald im gelinden Säußlen, unter Musik, Comoedie und Spiel, Musen und etc. […]. Am Dienstage führten sie hier Sturm und Drang von mir auf, und eröfneten damit die Bühne. Es ist meine Lieblingsarbeit – und da saßen sie nun, konnten nicht fassen und begreifen, und doch schüttelten sie das Ding mächtig zusammen […] (in Luserke 1997, 26 f.).

Die Aufführung des Werks sorgte für reichlich Diskussionsstoff und führte auch dazu, dass die Bezeichnung „Sturm und Drang“ von den Zeitgenossen bereits öffentlich hinterfragt wurde. So schrieb Heinrich Leopold Wagner (1747–1779) anlässlich der Aufführung des Theaterstücks in Frankfurt über den Titel Folgendes:

Wie heißt das Stück? fragte fast jedermann, als es verwichenen Sonnabend angekündigt wurde: Sturm und Drang! – Sturm und – ? und Drang! mit dem weichen D und hinten ein g; ja nicht mit dem harten T oder dem ck! So, so! Sturm und Drang also! – Aber wenn ich bitten darf, was heißt das wol? ich kann mir nichts dabey denken! kommt etwa ein Sturm drinn vor? – das ich nicht wüßte! oder ist’s der Sturm von Schakespeare? auch nicht! Klinger verehrt diesen großen Dichter viel zu sehr, als daß er sich an ihm so schädlich versündigen sollte. […] Wer fühlt oder auch nur ahndet, was Sturm und Drang seyn mag, für den ist er geschrieben; wessen Nerven aber zu abgespannt, zu erschlafft sind, vielleicht von jeher keinen rechten Ton gehabt haben; wer die drey Worte anstaunt, als wären sie chinesisch oder malabarisch, der hat hier nichts zu erwarten, mag immerhin ein alltägliches Gericht sich auftischen lassen (in Luserke 1997, 27 f.). ← 12 | 13 →

Details

Seiten
115
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653039450
ISBN (ePUB)
9783653990447
ISBN (MOBI)
9783653990430
ISBN (Hardcover)
9783631648988
DOI
10.3726/978-3-653-03945-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Januar)
Schlagworte
Theater der Goethezeit Poetologien Erzählende Prosa Roman Drama
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2013. 115 S.

Biographische Angaben

Andrea Ressel (Autor:in)

Andrea Ressel studierte Germanistik, Anglistik/Amerikanistik und Französische Philologie an der Universität Rostock. Nach ihrem Studium absolvierte sie internationale Forschungs- und Lehraufenthalte an der Universität Genf, der Harvard-Universität und der Université Paris-Sorbonne. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Wissenschaftsgeschichte und der Exilliteratur.

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