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Wer ist mein Nächster?

Das Soziale in der Ego-Gesellschaft- 15. Ökumenische Sommerakademie, Kremsmünster 2013

von Severin Lederhilger (Band-Herausgeber:in)
©2014 Konferenzband 198 Seiten

Zusammenfassung

Der aktuelle politische und philosophische Diskurs bewegt sich zunehmend zwischen den Polen eines individualistischen Egoismus und den verschiedenen Aspekten gesellschaftlicher Solidarität. Inwieweit egozentrische Tendenzen das Zusammenleben maßgeblich bestimmen oder ob nicht Formen der Solidarität das eigentlich evolutive Erfolgsmodell menschlicher Gemeinschaft darstellen, gehört mit zu den Grundfragen unserer Zeit. Individuelle Verantwortung und autonome Selbstbestimmung kennzeichnen schließlich nicht nur die persönliche Lebensgestaltung, sondern prägen ebenso die wirtschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Bereiche der Gesellschaft. Der überfordernde Zwang zur permanenten Selbst-Inszenierung und zur Verwirklichung des eigenen Ichs eröffnet aber zugleich einen neuen Zugang zur Rückfrage nach der Notwendigkeit alternativer Gestaltungen von Vergemeinschaftung, die Verlässlichkeit schenken und speziell der Dimension der Gerechtigkeit Rechnung tragen. Angesichts der anstehenden sozialen Probleme und veranlasst durch das Jubiläum von 10 Jahren «Sozialwort» des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich stellte sich die 15. Ökumenische Sommerakademie Kremsmünster 2013 provokant die biblische Nachfrage «Wer ist mein Nächster?» und erkundete so «das Soziale in der Ego-Gesellschaft».

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Michael Pauen. Ohne Ich, kein Wir: Warum wir Egoisten brauchen
  • 1.
  • 2.
  • 3.
  • 4.
  • Heinrich Bedford-Strohm. Wer ist mein Nächster?: Gemeinschaft in der modernen Gesellschaft
  • 1. Gemeinschaft – ein belasteter Begriff
  • 2. Ferdinand Tönnies und Emile Durkheim: Die Diastase von Gemeinschaft und Gesellschaft
  • 3. Das heutige Leben in Netzwerken
  • 3.1. Pluralisierung
  • 3.2. Individualisierung
  • 3.3. Gegenseitigkeitsorientierung
  • 3.4. Ergebnis
  • 4. Theologisch-ethische Überlegungen
  • 4.1. Die theologischen Gefahren des Gemeinschaftsbegriffs
  • 4.2. Pluralisierung: Die produktive Kraft der Vielfalt
  • 4.3. „Kommunikative Freiheit“ als Gestaltung der Individualisierung
  • 4.4. Gegenseitigkeit als Dimension christlicher Ethik
  • 5. Gemeinschaft und Gerechtigkeit
  • 6. Gemeinschaft im gesellschaftlichen Leben von heute
  • Michael Stefan Aßländer. Solidarität und Subsidiarität: Erfolgsmodell in Wirtschaft und Gesellschaft?
  • 1. Einleitung
  • 2. Personalität, Solidarität und Subsidiarität – als Säulen einer menschengemäßen Gesellschaft
  • 3. Subsidiarität als Wesen wirtschaftsbürgerlicher Mitverantwortung
  • 4. Solidarität und Subsidiarität im Kontext einer sozialen Marktwirtschaft
  • 5. Herausforderungen angesichts von Globalisierung und Wertepluralismus
  • Ansgar Kreutzer. Riten und Symbole entgrenzter Solidarität: Der kulturelle Beitrag des Christentums zum sozialen Zusammenhalt
  • 1. Einleitung: Was die Hochwasserkatastrophe über die Gesellschaft aussagt
  • 2. „Sollen“, „Wollen“ oder „das Gesollte Wollen“. Zur christlichen Kontur von Solidarität
  • 2.1. „Sollen“ – Solidarität als moralische Verpflichtung
  • 2.2. „Wollen“ – Solidarität als freiwilliges Engagement
  • 2.3. „Das Gesollte Wollen“ – Theologisches Profil der Solidarität
  • 3. Solidarität aus emotionsbesetzten Ritualen. Zur Ritualtheorie R. Collins‘
  • 4. Herrenmahl, Symbole und Kasualien. Beiträge des Christentums zur rituellen Einübung in entgrenzte Solidarität
  • 4.1. Solidaritätssymbolik des Herrenmahles
  • 4.2. Wirkkraft der Symbole
  • 4.3. Zunehmende Bedeutung von Kasualien
  • 5. Schluss: Von der Mikro- zur Makro-Solidarität und zurück
  • Michaela Pfadenhauer. Posttraditionale Vergemeinschaftung – am Beispiel Konsum: Sicherheit in Zeiten gesellschaftlicher Verunsicherung
  • Verunsicherung durch Globalisierung
  • Verunsicherung durch Individualisierung
  • Grenzen sozialstaatlicher Sicherheiten
  • Ein Konzept von Gemeinschaft in der modernen Gesellschaft
  • Posttraditionale Gemeinschaftsbildung
  • Beispiel einer posttraditionalen Vergemeinschaftungsoption
  • Strukturmerkmale posttraditionaler Gemeinschaften
  • ‚Antwort‘ auf die allgemeine gesellschaftliche Verunsicherung?
  • Martin Abraham. Kerngemeinde und Zentrifuge: Bilder für pfarrgemeindliche Sozialformen
  • 1.
  • 2.
  • 3.
  • 4.
  • 5.
  • 6.
  • 7.
  • 8.
  • Zusammenfassende Thesen
  • Ingeborg Gabriel. Verantwortung in der Zeit: Das Ökumenische Sozialwort als Impuls zum Engagement
  • 1. Einleitung
  • 2. Entstehung und Grundausrichtung des Ökumenischen Sozialwortes: Ermutigende Erinnerungen für die Zukunft
  • 2.1. Zum Kontext: Ökumenische Sozialverkündigung in Europa seit 1989
  • 2.2. Das Österreichische Sozialwort als Ausdruck gelungener und zukunftsweisender Ökumene
  • 3. Das Soziale in der Ego-Gesellschaft: Impulse für christliche Verantwortung heute
  • 3.1. Wider die Ego-Gesellschaft: Stärkung persönlicher Verantwortung
  • 3.2. Bildung – Migration – Europa: Weitere Impulse für Fortschreibungen
  • 3.2.1. Bildung und Medien: Wider den Substanzverlust
  • 3.2.2. Migration als Herausforderung: Der gesellschaftliche Umbau hin zur Einwanderungsgesellschaft
  • 3.2.3. Europäische Einigung: Solidarität als (Über)Lebensprinzip
  • 4. Zum Schluss: Wie soll es mit der Ökumenischen Sozialverkündigung weitergehen?
  • Michael Bünker. Orientierung in der Krise: Sozialwort und öffentliche Theologie
  • 1. Grund und Grenze politischer Verantwortung
  • 2. Der Anspruch einer Öffentlichen Theologie
  • 3. Das Sozialwort als Öffentliche Theologie
  • Arsenios Kardamakis. Evangelische Nächstenliebe und das Sozialwort: Reflexionen aus Sicht der griechisch-orthodoxen Kirche
  • 1. Glaube und diakonische Sendung
  • 2. Evangeliumsgemäßer Auftrag
  • 3. Kirchliche Konkretisierungen
  • 4. Die Würde jedes Menschen wahren
  • Manfred Scheuer. Ethik – Störfaktor oder Motor der Wirtschaft: Überlegungen in römisch-katholischer Perspektive
  • 1. Im Anfang war die Zahl? Oder: Der Mensch als Mittelpunkt der Wirtschaft
  • 2. Empört Euch!?
  • 3. Das ist eine Frechheit!
  • 4. Ohnmacht und Unübersichtlichkeit?
  • 5. Wirtschaft und/oder Ethik
  • 6. Ökosoziale Marktwirtschaft
  • 7. Homo oeconomicus
  • 8. Wirtschaft und Ethik
  • 9. Ethische Mindeststandards
  • 10. Corporate Social Responsibility (CSR)
  • 11. Die wirtschaftlichen Möglichkeiten unserer Enkel
  • 13. Schluss: Benedikt XVI. und die Gerechtigkeit
  • Gerold Lehner. Die Frage nach dem Nächsten: Predigt in der Ökumenischen Abschlussfeier zu Lukas 10, 25-37
  • Liebe Schwestern und Brüder!
  • I. Der theologische Disput
  • II. Die Frage
  • III. Die Antwort
  • IV. Von der Theorie zur Leiblichkeit
  • V. Wer ist mein Nächster?
  • Biographische Hinweise
  • Nachtrag: Erinnerung an 15 Jahre „Ökumenische Sommerakademie“

Vorwort

Wer sich mit der sogenannten „Generation Ego“ des 21. Jahrhunderts beschäftigt und deren Werthaltungen untersucht1, vermag damit zwar nicht generalisierend „die“ Jugend zu beschreiben, doch erhöhen die vorhandenen gesellschaftlichen Veränderungen westlicher Zivilisation merkbar den sozialen Druck in Richtung einer immer egozentrischeren Kultur. Kennzeichnend für die gegenwärtige Gesellschaft sind hier die miteinander verbundenen Tendenzen von zunehmender Individualisierung und Ökonomisierung in einer beschleunigten Lebens- und Arbeitswelt.

Das Individuum wird dabei aus traditionellen Bindungen herausgelöst, an deren Stelle – mehr oder weniger offenkundige bzw. bewusst wahrgenommene – Markt-Interessen getreten sind, die inzwischen auch die einst davon getrennten Sphären von Familie, Bildung und Sozialsystem vereinnahmen. Um Erfolg zu haben oder um erfolgreich zu scheinen, muss man sich in allen Lebensbereichen kreativ vermarkten, ohne von den gesellschaftlichen Normvorstellungen allzu sehr abzuweichen. Es ist also ein durchaus schwieriger Weg, den junge Menschen einschlagen müssen, um das prekäre Gleichgewicht zwischen individueller Selbstverwirklichung und dem Wunsch nach Sicherheit in einem Klima allgemeiner sozialer Verunsicherung zu bewahren. In unterschiedlichen Kontexten werden deshalb auch Formen der Ich-Erschöpfung als Konsequenz einer spürbaren Überforderungs-Gesellschaft diagnostiziert.

Die Aktualität dieser Thematik im öffentlichen Diskurs spiegelt sich nicht nur in der Tagung des „Philosophicum Lech“ (September 2013) unter dem Titel ,,ICH. Der Einzelne in seinen Netzen2, sondern zeigt sich beispielsweise auch in der kürzlich beendeten Ausstellung des ← 7 | 8 → Essl-Museums „Sehnsucht Ich“, worin man eine ästhetische Kulturgeschichte der Individualisierung zusammenstellte, bei der 50 KünstlerInnen auf der Suche nach ihrem Ich präsentiert wurden.3 Die Gegenwart ist offenkundig von einem markanten Widerspruch gekennzeichnet: Auf der einen Seite gilt es, um jeden Preis das eigene Selbst zu verwirklichen und massiv in seine „Ich-AG“ zu investieren; Hedonismus und Konsum sind trotz oder gerade wegen der gefährdeten sozialen Sicherheitssysteme dabei unübersehbare Leitbilder. Auf der anderen Seite verschwindet das Ich mitunter in einer zunehmend uniformeren Alltagskultur globaler Dimension, obwohl Individualisierung „angesagt“ ist und jeder in seinem Lebensgefühl das Besondere für sich zumindest anstrebt, denn man muss heute „sein Leben nicht nur leben, [man] muss es überhaupt erst entwerfen“4

Doch diese Selbst-Inszenierung, die vielfach ohne Bezug zu anderen Menschen, zum Nächsten oder zum Sozialen überhaupt auskommt, ist durchaus existenziell gefährdet, betont Konrad P. Liessmann: „Wenn es keine sozial verbindlichen Gefüge mehr gibt, die das Verhalten des Einzelnen normieren, muss dieser die Grundlagen seines Handelns nicht nur in sich selbst suchen, sondern dieses Selbst muss selbst zur Grundlage allen Handelns werden. Die Suche nach dem Selbst, das zuerst gefunden und dann verwirklicht werden will, ergibt sich so aus der Notwendigkeit, die Leere, die brüchig gewordenen sozialen Systeme hinterlassen haben, zu füllen“5. Ob es aber nicht doch Verlässlichkeit in einem begründeten Vertrauen auf „das Soziale“ in der Welt gibt, ob der Blick über sich selbst hinaus auf andere Menschen nicht geradezu lebensnotwendig und wesentlich für das eigene Ich-Selbst ist, bricht hier als vehemente Anfrage auf, wenn zugleich konstatiert wird, dass doch jeder Mensch mit der geforderten egozentrischen Selbstkonstruktion „hoffnungslos überfordert“ ist.

Zudem kommt, dass in der Soziobiologie Thesen vertreten werden, wonach die Gene eines Organismus darauf getrimmt seien, sich im gnadenlosen Konkurrenzkampf durchzusetzen, weshalb die Vorstellung von einem „egoistischen Gen“ durch die populärwissenschaftliche Literatur geistert. Demgegenüber verweist der Linzer Dogmatiker Franz Gruber ← 8 | 9 → darauf6, dass sich ebenso deutlich auch kooperative und fürsorgliche Formen des Lebens bei allen Völkern und Weisheitstraditionen feststellen lassen. Er kann sich dabei etwa auf den Mediziner Joachim Bauer stützen, der auf Grund sogenannter ‚Spiegelneuronen‘, die für die menschliche Fähigkeit des Mitfühlens entscheidend sind, festhält: „Kern aller Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden und zu geben. Wir sind – aus neurobiologischer Sicht – auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen“7. Es handelt sich dabei um eine Position, die durch eine Vielzahl weiterer Forschungsergebnisse bestätigt wird, wie unter anderem der Biophysiker Stefan Klein summarisch berichtet.8

So verwundert es keineswegs, dass sich mit viel Interesse und großen Auflagen auch die populäre geisteswissenschaftliche Literatur dieser Thematik angenommen hat. So reüssiert gerade Richard David Precht mit seinen Überlegungen über „die Kunst, kein Egoist zu sein“, worin er aufzeigt „warum wir gerne gut sein wollen und was uns davon abhält“, da „das Wort Egoismus […] seinen verbotenen Zauber verloren“ hat9. Rücksicht, Scham, Hilfsbereitschaft und Bescheidenheit werden allenthalben schmerzlich vermisst, doch es reicht eben nicht mehr der diffuse Ruf nach einer „neuen Moral“, der unmittelbar noch nichts kostet, aber einen selbst in gutem Licht dastehen lässt. Braucht es nicht vielmehr – gerade seitens der Kirche und Religionsgemeinschaften – eine seriöse, tiefgründige Auseinandersetzung mit der gesamten Problematik?

Die 15. Ökumenische Sommerakademie vom 10.-12. Juli 2013 versuchte die Thematik unter dem Titel: „Wer ist mein Nächster? Das Soziale in der Ego-Gesellschaft“ von ganz unterschiedlichen Zugängen her aufzugreifen und im Dialog mit der Theologie zu diskutieren. Dabei war der Fokus neben einer theoretischen Aufbereitung durch Vertreterinnen und Vertreter aus den Bereichen Philosophie, Wirtschaftsethik, Soziologie, ← 9 | 10 → Gesellschaftslehre, Dogmatik, Fundamentaltheologie und Pastorale Praxis vor allem auf die praktischen Konsequenzen des sozialpolitischen Engagements der Kirchen in Österreich gerichtet, welches bereits vor zehn Jahren im „Ökumenischen Sozialwort“ ein recht konkretes Ergebnis zeitigte.

Der oberösterreichische Superintendent Dr. Gerold Lehner ging in seinen einleitenden Worten zur Tagung zunächst von der Erkenntnis aus: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ (Gen 2,18) und erklärte, dass dies „die erste Mängelerklärung der Bibel“ sei, und zwar noch innerhalb der Schöpfungsgeschichte! „Gott schafft etwas und erkennt gleichzeitig, dass es so, wie es ist, noch nicht vollständig ist. Das Ich des Menschen ist sich selbst nicht genug. Es ist angesichts dieses Einzelwesens Ich noch nicht so, dass Gott sagen kann: ‚Siehe, es war sehr gut‘. Das Ich braucht das Du, um Ich sein zu können, […]. So steht bereits am Anfang eine Zweiheit, welche Individualität und Sozialität in sich schließt“, die aber als bleibende Polarität zu bestimmen sei, in der steten Spannung zwischen dem Ich und dem Du, zwischen dem Ich und der Gemeinschaft.

„Und es ist interessant“, so Lehner weiter, „wenn man unter diesem Gesichtspunkt die biblische Urgeschichte kurz weiterliest. Man merkt da nämlich, dass zwei Extreme dieser Verhältnisbestimmung von Ich und Du in der Urgeschichte durchkommen: Da ist einmal das Ich des Kain, der das Du des Abel als Minderung seines Lebens ansieht, als ein Du, das die Entfaltung des Ich verhindert, als Konkurrent, der ihm im Wege steht – und deshalb beseitigt das Ich auch das Du! Und es findet sich in der letzten der Urgeschichten des Buches Genesis jene, die vom Turmbau zu Babel erzählt (Gen 11,1-9). Bei dieser Geschichte wird ganz stark der Eindruck vermittelt, dass es hier um ein Kollektiv geht, das sich nur mehr über die Gemeinschaft definiert, nur noch als Kollektiv Identität besitzt. Aus Angst um diese Identität, um den eigenen Namen, beginnt man einen Turm zu bauen als sichtbares Zeichen der Einheit. Und genau dieser ersten Mono-Mentalität und Megalomanie wird, so erzählt die Genesis, von Gott ein Riegel vorgeschoben.

Wir kennen aus der jüngeren Geschichte und auch aus leidvollen Beispielen der Gegenwart jene Versuche, das Individuum im Kollektiv aufgehen zu lassen und es ins Kollektiv einzupassen, gleichsam einen ideologischen Turmbau vorzunehmen. Wir kennen andererseits jene Tendenzen, die ein Leitbild vermitteln, das Leben sei ein gnadenloser Konkurrenzkampf, in dem der Erfolg des einen die Minderung des anderen bedeuten kann. Und wir kennen die zahllosen Versuche, genau diese Pola ← 10 | 11 → rität konstruktiv auszubalancieren, denn es bleibt die Aufgabe der Verhältnisbestimmung zwischen Ich und Du, zwischen Ich und Gemeinschaft – auf allen menschlichen Ebenen!“

Diese Gedanken griff der evangelische Bischof Dr. Michael Bünker in seinem Grußwort auf, indem er auf den einflussreichen amerikanischen Philosophen Michael Sandel hinwies, der danach gefragt wurde, was denn die die Menschen heute überall auf der Welt beschäftigt? In seiner Antwort meinte dieser: „Die wachsende Ungleichheit bei wachsendem Wohlstand beschäftigt alle, ob in Lateinamerika, Europa oder Asien. Die Frage, was Gerechtigkeit sei, ist vielleicht die wichtigste, die zurzeit überall gestellt wird. Eine zweite große Frage, für die sich jeder interessiert, ist die nach der Erosion des Sozialen und des Gemeinwohls. Mit der weltweiten Ausdehnung der Marktgesellschaften erleben die Menschen, welch hohen Preis an Zusammengehörigkeit in der Familie, der Stadt, der Gesellschaft sie dafür entrichten. Daraus entsteht die Frage, was Gesellschaften zusammenhält, was also das Gemeinwohl ist? Und als dritte Frage, mit der wohl jeder ringt, würde ich die Frage nach dem Zusammenhalt der Generationen nennen, den Generationenvertrag. Sie kommt durch die Jugendarbeitslosigkeit und die Bildungskosten neu auf, aber auch durch die Finanzierung von Renten und Gesundheit. Mit all diesen Problemen ist immer die Debatte verbunden, wo wir die Grenzen des Marktes und der Käuflichkeit ziehen wollen. Und die ist, auch wenn die Fragen alt sein mögen, relativ neu“10.

Bischof Bünker erinnerte daraufhin an das für alle christlichen Kirchen in Europa maßgebliche Grundsatzdokument, an die „Charta Oecumenica11 aus dem Jahr 2001, worin es heißt: „Aufgrund unseres christlichen Glaubens setzen wir uns für ein humanes und soziales Europa ein“ (Art. 7). Und er erläuterte: „Die christliche Nächstenliebe, so ist die Überzeugung der Kirchen in Europa, strahlt Hoffnung aus für Moral und Ethik, für Bildung und Kultur, für Politik und Wirtschaft. Auf den ersten Blick erscheint es vielleicht paradox, dass diese gesellschaftsdienlichen und gemeinschaftsbildenden Aufgaben nach christlicher Überzeugung ausgerechnet im Wert der Einzelperson, die zum Ebenbild Gottes geschaffen ← 11 | 12 → wurde, begründet sind. Aber das ist nur auf den ersten Blick eine Paradoxie. Das christliche Menschenbild begründet nicht einen Individualismus, auf dem sich eine Ego-Gesellschaft bauen ließe. Wert und Würde der einzelnen Person sind nie ohne Beziehung zu denken, denn der dreieinige Gott, der den Menschen nach seinem Bild erschaffen hat, ist ja in sich selbst auch beziehungsreich. Er ist, wie es Kurt Marti einmal so treffend formuliert hat, eine ‚gesellige Gottheit‘12. – Die Verhältnisbestimmung zwischen beidem, dem Ego und dem Sozialen, dem Ich und dem Wir, steht zur Diskussion […], denn je nachdem, wie die Gewichte verteilt werden, hat dies unmittelbare Auswirkungen auf die Gestaltung der Sozialsysteme, auf die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens und auf die Grundlagen des demokratischen Miteinanders. Es ergibt sich, dass damit auch nach dem Beitrag gefragt wird, den Kirchen und ihre Einrichtungen dafür leisten, vor allem das Netzwerk der lokalen Pfarrgemeinden“.

Der katholische Linzer Bischof Dr. Ludwig Schwarz SDB wies im Wissen um die Bedeutung sowohl des Ich als auch des Sozialen und der Solidarität für die Kirchen vor allem auf das Ökumenische Sozialwort hin, das am ersten Adventsonntag 2003 im Stephansdom der Öffentlichkeit präsentiert wurde: Darin „nahmen die 14 christlichen Kirchen in Österreich erstmals gemeinsam Stellung zu den sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen. In der Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit den Bereichen Bildung, Medien, Arbeit, Wirtschaft, soziale Sicherheit und Ökologie wurde das Sozialwort zu einer Art Kompass für die Politik in einer Gesellschaft, die sich in einem tiefgreifenden Wandel befindet. Das Sozialwort benennt konkrete Aufgaben auch für die Kirchen selbst, denn es entstand in einem innerkirchlichen, in einem ökumenischen Prozess mit Vorzeigecharakter. Es ist dabei vor allem ein Dienst für den sozialen Zusammenhalt in Österreich […]. Denn als Kirche der Liebe, als dienende Kirche wie auch als Kirche der Armen, die uns Papst Franziskus in Lampedusa wieder neu ans Herz gelegt hat, haben wir sehr deutlich die soziale Komponente auch in der Ego-Gesellschaft von heute anzusprechen. Gemäß dem Sozialwort umfasst nämlich der geforderte caritative Dienst sowohl die individuelle Hilfe für Menschen in materiellen und personalen Nöten als auch das Engagement für nötige gesellschaftliche Veränderungen und Verbesserungen in ihrer Lebenssituation.“ ← 12 | 13 →

In diesem Tagungsband nun werden die Referate der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit zum Teil kontroversen Positionen vor ihrem jeweiligen konfessionellen oder weltanschaulichen Hintergrund wiedergegeben, um einer breiteren Diskussion zu dienen. Sie wurden zwar für die Drucklegung überarbeitet, haben aber mitunter bewusst ihre Rede- und Dialogform beibehalten.

Nach dem Plädoyer von Prof. Michael Pauen (Berlin) zu Gunsten eines intelligenten „empathischen Egoismus“, der zwar soziale Fähigkeiten impliziert, aber sowohl einem gesunden Bewusstsein für Eigeninteressen als auch der Bereitschaft zur Eigenverantwortung das Wort redet, analysiert der evangelisch-lutherische Landesbischof von Bayern Prof. Heinrich Bedford-Strohm (München) den Begriff der „Gemeinschaft“, erweitert ihn um den „sozialen Netzwerkgedanken“ und betont den biblischen Auftrag gerade der christlichen Kirchengemeinden, über Milieu-Grenzen hinweg sich um der Gerechtigkeit willen entschieden in die „öffentliche Kommunikation“ einzubringen – vor allem als Anwälte der Schwachen.

Details

Seiten
198
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653039054
ISBN (ePUB)
9783653990782
ISBN (MOBI)
9783653990775
ISBN (Hardcover)
9783631648759
DOI
10.3726/978-3-653-03905-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (September)
Schlagworte
Wirtschaftsethik Pastoraltheologie Ökumene kirchliche Soziallehre
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 198 S.

Biographische Angaben

Severin Lederhilger (Band-Herausgeber:in)

Severin J. Lederhilger ist Professor für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz, Generalvikar der Diözese Linz sowie Mitglied im Redaktionskomitee der Ökumenischen Sommerakademie.

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