«Bis dat, qui cito dat»
«Gegengabe» in Paremiology, Folklore, Language, and Literature – Honoring Wolfgang Mieder on His Seventieth Birthday
Edited By Christian Grandl and Kevin J. McKenna
"Ich war willenlos": Die dämonische Macht der unterdrückten Sexualität in Rainer Maria Rilkes Erzählungen Die Näherin (1894) und Das Haus (1899)
Extract
Helga Schreckenberger
In zwei Erzählungen aus Rainer Maria Rilkes früher Schaffensperiode, Die Näherin (1894) und Das Haus (1899),1 begegnet uns eine aus der Literatur der Jahrhundertwende wohlbekannte, für Rilke jedoch durchaus untypische Frauengestalt: die Femme fatale, deren erotische Macht den Mann bezwingt und vernichtet.2 Studien zum Thema Frauenrepräsentationen in der Literatur und Kunst der Jahrhundertwende haben überzeugend herausgestellt, dass es sich bei der Femme fatale und ihrem Gegenbild, der kindlich-unschuldigen Femme fragile, keineswegs um gegensätzliche, sondern vielmehr um komplementäre Typen handelt. Wie Nike Wagner herausstellt, müssen beide Frauentypen als Transfiguren erotischer Wünsche verstanden werden, die sowohl die Sexualekstase und Sexualüberschätzung der Jahrhundertwende als auch ihre Sexualangst und Sexualablehnung repräsentieren (1982:138). Diese These bildet den Ausgangspunkt für die Analyse von Rilkes Frauengestalten in den Erzählungen Die Näherin und Das Haus. Es soll gezeigt werden, dass in beiden Erzählungen die Frauengestalten die verdrängte Triebhaftigkeit der männlichen Protagonisten widerspiegeln. Die Protagonisten fallen nicht den weiblichen Verführungskünsten zum Opfer, sondern ihren eigenen Schwächen, die aus ihrer entfremdeten Existenz in der bürgerlichen Gesellschaft resultiert.
Um sowohl das Zeittypische als auch das Spezifische der Femme fatale in Rilkes Erzählungen zu erfassen, muss sie auf ihre Gemeinsamkeiten mit und ihre Abweichungen vom Grundtypus untersucht werden. Carola Hilmes entwirft in ihrer Studie zur Femme fatale eine "Minimaldefinition" dieser Figur (1990:10). Ihr zufolge handelt es sich "meist...
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