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Kindgemäß und literarisch wertvoll

Untersuchungen zur Theorie des "guten Jugendbuchs" – Anna Krüger, Richard Bamberger, Karl Ernst Maier

von Sonja Müller (Autor:in)
©2014 Dissertation IX, 321 Seiten

Zusammenfassung

Der dominante literaturtheoretische und -pädagogische Diskurs in Westdeutschland und Österreich der 1950er und 1960er Jahre zielte auf eine Festlegung dessen ab, was unter einem guten Jugendbuch zu verstehen sei. Die fachgeschichtliche Studie sucht die Argumentationen der wichtigsten Theoretiker des guten Jugendbuchs, Anna Krüger, Richard Bamberger, Karl Ernst Maier, nachzuzeichnen. Daneben kommen weitere Literaturpädagogen der Zeit mit ihren teils konservativen, teils progressiven Positionen zur Sprache. Die Auseinandersetzung mit den Kinderliteraturkonzepten dieser Epoche stellt sich als in vielerlei Hinsicht gewinnbringend für die aktuelle Theoriebildung heraus.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1. Thema und Zielsetzung
  • 2. Entwicklung der Kinder- und Jugendliteraturforschung ab 1945
  • 3. Kinder- und Jugendliteraturforschung als analytische Wissenschaft
  • 1. Kapitel: Zur Ausgangslage
  • 1.1 Institutionelle Anfänge nach 1945
  • 1.2 Wilhelm Fronemann
  • 1.3 Joseph Antz
  • 1.4 Spätphasen des Schmutz- und Schundkampfes
  • 1.5 Lesealtertheorien: Charlotte Bühler und Elisabeth Schliebe-Lippert
  • 1.6 Erwin Ackerknecht
  • 1.7 Zusammenfassung
  • 2. Kapitel: Anna Krüger: Grundlegung einer Theorie des „guten Jugendbuchs“
  • 2.1 Biographie und Werk
  • 2.2 Positionierung in der zeitgenössischen literaturpädagogischen Diskussion
  • 2.3 Das Konzept vom „guten Jugendbuch“
  • 2.4 Die Ausgestaltung einer Theorie vom „guten Jugendbuch“
  • 2.4.1 Kind- und Jugendgemäßheit auf sprachlicher Ebene
  • 2.4.2 Kind- und Jugendgemäßheit der Inhalte und Themen
  • 2.4.3 Formale und strukturelle Kind- und Jugendgemäßheit
  • 2.4.4 Die Forderung nach innerer und äußerer Angemessenheit
  • 2.5 Die phantastische Kindergeschichte als kindgemäße Gattung
  • 2.6 Das „gute Jugendbuch“ und die literarische Erziehung
  • 2.7 Zusammenfassung
  • 3. Kapitel: Eine literaturtheoretische Strömung etabliert sich (1952–1968)
  • 3.1 Veränderungen des kinder- und jugendliterarischen Marktes
  • 3.2 Etablierung neuer Institutionen und Organisationen
  • 3.3 Positionen zum „guten Jugendbuch“ in den 1950er und 1960er Jahren
  • 3.3.1 Fritz Pfeffer
  • 3.3.2 Walter Scherf
  • 3.3.3 Johannes Langfeldt
  • 3.3.4 Fritz Westphal
  • 3.3.5 Josef Peters
  • 3.3.6 Der frühe Malte Dahrendorf
  • 3.4 Entwicklungspsychologie und Jungleserforschung
  • 3.5 Etablierung der Kinder- und Jugendliteraturforschung
  • 3.6 Gegenpositionen ab Mitte der 1960er Jahre
  • 3.7 Die Theorie des „guten Jugendbuchs“ als literaturtheoretische Strömung
  • 4. Kapitel: Richard Bamberger: „gutes Jugendbuch“ und Leseerziehung
  • 4.1 Biographie und Werk
  • 4.2 Haltung zur Entwicklungspsychologie und Jungleserforschung
  • 4.3 Die drei Beurteilungsgrundsätze
  • 4.4 Zur Beurteilungspraxis
  • 4.4.1 Das „gute Jugendbuch“ als Kunstwerk
  • 4.4.2 Stoffe, Inhalte, Themen und Charaktere
  • 4.4.3 Sprache, Stil und äußere Gestaltung
  • 4.4.4 Aufbau und Kompositionsformen
  • 4.4.5 Innere und äußere Spannung
  • 4.5 Der Bildungswert des „guten Jugendbuchs“
  • 4.6 Lese- und Literaturerziehung als Führung zum „guten (Jugend-) Buch“
  • 4.7 Zusammenfassung
  • 5. Kapitel: Karl Ernst Maier: Rückkehr pädagogischer Aspekte
  • 5.1 Biographie und Werk
  • 5.2 Maiers frühe Schriften
  • 5.3 Zur Kritik des Jugendschrifttums
  • 5.4 Maiers Beurteilungsgrundsätze
  • 5.4.1 Die Jugendschrift als Kind- und Jugendgut
  • 5.4.2 Die Jugendschrift als Literaturgut
  • 5.4.3 Die Jugendschrift als Lehr- und Erziehungsgut
  • 5.5 Zur Beurteilungspraxis
  • 5.6 Maiers Haltung ab 1970
  • 5.7 Zusammenfassung
  • Schlussbetrachtung
  • Literaturverzeichnis
  • 1. Quellentexte
  • 2. Neuere Sekundärliteratur
  • Reihenübersicht

← x | 1 → Einleitung

1. Thema und Zielsetzung

Ab Mitte der 1950er Jahre etabliert sich in Westdeutschland und Österreich ein neues Konzept der Kinder- und Jugendliteratur, das rückblickend unter der Bezeichnung Theorie des „guten Jugendbuchs“ bekannt geworden ist. Diese Theoriekonzeption wird vorwiegend von Vertretern aus dem pädagogischen Hochschulbereich repräsentiert. Sie ist insbesondere verbunden mit den Namen Anna Krügers, Richard Bambergers, Karl Ernst Maiers, des frühen Malte Dahrendorfs, Fritz Pfeffers und Walter Scherfs.1

Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind die theoretischen Diskurse über Kinder- und Jugendliteratur, die zwischen 1950 und 1970 von den genannten Vertretern in zeitgenössischen Publikationsorganen, in Zeitschriftenbeiträgen, Aufsätzen und Monographien, in kinderliterarischen Institutionen und an universitären Einrichtungen geführt wurden.2 Ab Ende der 1950er Jahre setzt sich die Theorie des „guten Jugendbuchs“ mit ihrer Konzeption einer kindgemäßen und ästhetisch wertvollen Literatur für Kinder und Jugendliche als allgemeiner Bewertungsmaßstab durch.3

Bis Mitte der 1960er Jahre bleibt diese theoretische Konzeption herrschender Konsens in Fragen der Bewertung von Kinder- und Jugendliteratur. Die Monographien von Anna Krüger, Richard Bamberger und Karl Ernst Maier werden zu ← 1 | 2 → Standardwerken, die noch bis weit in die 1970er und 1980er Jahre Neuauflagen erleben.4

Um so verwunderlicher ist es, dass es bislang noch keine umfassende Darstellung dieser Theorieströmung gibt, repräsentiert sie doch zugleich auch die Anfänge einer akademischen Beschäftigung mit Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland und Österreich. Die Inhalte und Ansätze der Literaturpädagogik der 1950er und 1960er Jahre sind von der unmittelbar nachfolgenden Forschergeneration vielfach abgewertet oder ignoriert worden. Infolgedessen entging es der Forschung, dass manche der späteren Korrekturen radikaler Positionen der frühen 1970er Jahre Wiederaufnahmen von Ansätzen der 1950er und 1960er Jahre darstellten.

Die Arbeiten aus den 1950er und 1960er Jahren sind in der aktuellen Diskussion kaum noch präsent. Bis in die Gegenwart liegen nur wenige Beiträge zu speziellen Teilbereichen oder zu einzelnen Stimmen der sog. Theorie des „guten Jugendbuchs“ vor.5 Eine umfassende Untersuchung ihrer theoretischen Ansätze sowie die Würdigung der Leistungen und Wirkungen dieser Strömung stehen noch aus. Denn die Aufarbeitung der Vorgeschichte bzw. der Anfänge einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Kinder- und Jugendliteratur stellt ein Feld dar, auf dem noch erheblicher Nachholbedarf besteht. Die vorliegende Arbeit will einen Beitrag dazu leisten, diese Forschungslücke zu schließen. Sie wird dazu zunächst die in Vergessenheit geratenen Diskurse und Positionen darstellen. Aus dem historischen Abstand und mit dem Instrumentarium einer inzwischen auch theoretisch weit entwickelten Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft sollen dann die normativen Setzungen der Theorie des „guten Jugendbuchs“ analysiert und deren Bedeutung für die Geschichte der Kinderliteraturtheorie ermittelt werden. Dabei braucht im Folgenden nicht explizit zwischen kinderliterarischen und jugendliterarischen Theoriediskursen unterschieden zu werden. Denn die Bezeichnungen Kindheit und Jugend werden bis in die 1960er Jahre innerhalb der Diskurse zur ← 2 | 3 → Kinder- und Jugendliteratur weitgehend synonym benutzt und im Sinne eines dem Erwachsensein vorausgehenden Abschnitts verwendet.6

Die vorliegende Arbeit beleuchtet zunächst die Ausgangslage, auf die die Theorie des „guten Jugendbuchs“ trifft. In den kinderliteraturtheoretischen Diskussionen zwischen 1945 und den frühen 1950er Jahren waren zunächst noch keine grundlegenden Neuorientierungen zu erwarten. Diese Zeitspanne war durch Rückbezüge auf Ansätze aus den Jahren vor 1933 gekennzeichnet. Zu den wichtigsten Diskutanten in dieser Zeit zählten Wilhelm Fronemann, Josef Antz, Erwin Ackerknecht und Anna Siemsen.7 (vgl. Kap. 1) Die Publikationen Anna Krügers stellten einen Wendepunkt dar. Mit ihren ab 1952 erschienenen Texten positionierte sich Krüger gegenüber den damals gängigen Ansichten der Literaturpädagogik neu.8 (vgl. Kap. 2) In der Nachfolge Anna Krügers etablierte sich in den folgenden Jahrzehnten in Westdeutschland und Österreich ein neues Verständnis von guter Kinder- und Jugendliteratur, das sich von der Jugendschriftenkritik der unmittelbaren Nachkriegszeit und den Schmutz- und Schunddebatten der frühen 1950er Jahre zunehmend löste.9 (vgl. Kap. 3)

← 3 | 4 → Dieses neue Verständnis vom „guten Jugendbuch“ und die mit ihm im Zusammenhang stehenden normativen Konzepte stehen im Zentrum der nachfolgenden Untersuchung. Die Kinderliteraturtheorie erlangt in diesen Jahrzehnten größere Eigenständigkeit durch ihre Verankerung an den Hochschulen und breitere Anerkennung dank ihres Einwirkens ins öffentliche Bewusstsein.10 Zudem werden einige Institutionen zur Förderung des internationalen Austauschs gegründet.11

Entgegen den bisherigen Einschätzungen geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass die Theorie des „guten Jugendbuchs“ durchaus moderne und innovative Züge aufweist, die es in ihrer Bedeutung für die Kinder- und Jugendliteraturforschung genauer herauszuarbeiten gilt. Den als meinungsbildend angesehenen Vertretern (Anna Krüger, Richard Bamberger und Karl Ernst Maier) sind in der nachfolgenden Untersuchung umfangreichere Einzelkapitel gewidmet, die deren Positionierungen innerhalb der Theorieströmung herauszuarbeiten suchen. Die Theoretiker des „guten Jugendbuchs“ vertreten zwar einheitliche Grundpositionen und stehen untereinander in wissenschaftlichem Austausch12, die Theorieströmung ist aber nicht als eine in jeder Hinsicht kohärente Bewegung zu verstehen. Sie wird vielmehr von Personen mit z. T. unterschiedlicher Akzentsetzung getragen, was eine differenziertere Betrachtung erforderlich macht. ← 4 | 5 → In den Einzelkapiteln soll daher der Frage nachgegangen werden, welche individuellen Ausprägungen das Theoriekonzept bei den einzelnen Vertretern annimmt (vgl. Kap. 2 bis 5).

Ziel der Arbeit ist es, die Leistungen, aber auch die Defizite dieser Theorieströmung herauszuarbeiten. Wie es scheint, ist die Theorie des „guten Jugendbuchs“ dabei sowohl von fortschrittlichen, als auch von konservativen Elementen geprägt. Das führt mitunter zu widersprüchlichen Setzungen, die es ihm Rahmen der Arbeit genauer zu beleuchten gilt. Nach Ewers (1996a, S. 175f) wäre daher in einer noch zu schreibenden Geschichte dieser theoretischen Strömung zu verfolgen, „wie sich bei einzelnen […] Vertretern unter dem Deckmantel progressiven Vokabulars doch wieder traditionalistische Positionen eingeschlichen haben.“ Ewers vermutet, dass eine Geschichte dieser Theoriebewegung sich über weite Strecken „als eine Geschichte der Verkehrung ihrer ursprünglichen Absichten“ ausnähme (ebd., S. 176). Auch zeigt sich um 1970, dass einige Theoretiker sich aus dem Diskurs weitgehend zurückziehen (Krüger), während andere ihre ursprünglichen Ansichten modifizieren (Bamberger), eine neue, eigene Variante ins Spiel bringen (Scherf)13 oder schließlich den Positionswechsel selbst mit vollziehen (Dahrendorf).14

In den späten 1960er Jahren treten gesamtgesellschaftliche Veränderungen ein, die zunächst in der Theorie, dann auch in der Kinderliteratur selbst zu einem Positionswechsel führen.15 Der Umschwung um 1970 führt durch die mit ihm verbundenen veränderten Vorstellungen von kindlicher Entwicklung und Erziehung, von Kindheitsbild und Literaturbegriff zu einem Ende der Theorie des „guten Jugendbuchs“. Im Rahmen dieser Arbeit kann die Theorie um 1970 nur gestreift werden. Es soll nur kurz beleuchtet werden, wie die Diskurse der Theorie des ← 5 | 6 → „guten Jugendbuchs“ ab Mitte der 1960er Jahre ausklingen und durch welche Themen sie abgelöst werden (vgl. Kap. 3.6 und Kap. 5.6).

2. Entwicklung der Kinder- und Jugendliteraturforschung ab 1945

Nachfolgend geht es darum, welche Beachtung und Bewertung der kinderliteraturtheoretische Diskurs der 1950er und 1960er Jahre bislang erfahren hat.16

In dem literaturgeschichtlichen Beitrag von Wolfgang Promies (1986), in der motivgeschichtlichen Untersuchung von Gundel Mattenklott (1989) und in den Darstellungen bei Kaminski (1988; 1990; 1993a), Doderer (1977) und Wild (1990) bleiben die Leistungen dieser kinderliteraturtheoretischen Strömung weitgehend unberücksichtigt.17 Die wenigen Ausnahmen werden im Rahmen des Forschungsberichts von Andrea Weinmann (1998) namhaft gemacht.18

Dabei konzentrieren sich die einschlägigen Aussagen in den Beiträgen von Promies (1986) und Kaminski (1988), die von einem ideologiekritischen Ansatz geprägt sind, auf die unmittelbaren Nachkriegsjahre, für die sie keine Neuorientierungen konstatieren.19 Auch Hopster (1988) und Nassen (1990) sprechen kaum über die Theorieströmungen der 1950er und 1960er Jahre. Für Promies sind die 1950er Jahre insgesamt

nicht von pädagogischen und literarischen Innovationen, sondern von der Institutionalisierung des Kinder- und Jugendbuchmarktes und den Versuchen geprägt, auf ← 6 | 7 → verbriefte Weise wie in der Weimarer Republik gegen ‚Schmutz und Schund‘ […] anzugehen. (Promies 1986, S. 538)

Und wenig später heißt es,

daß die Kriterien der Beurteilung von 1945 bis 1967 den aus der Weimarer Republik und auch vom Dritten Reich überkommenen moralischen und ästhetischen Wertmaßstäben verpflichtet geblieben sind. (ebd., S. 539)

Eine Behauptung die in dieser Pauschalität nicht haltbar ist. Erst Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre erfährt die Beschäftigung mit Kinder- und Jugendliteratur für Promies (vgl. ebd., S. 545) eine entscheidende Veränderung hin zu einer Verwissenschaftlichung.20 Diese Einschätzung ignoriert allerdings, dass erste wissenschaftliche Bemühungen bereits mit Beginn der 1960er Jahre einsetzen (vgl. u. a. Kap. 3.5).

Für Kaminski (vgl. 1987, 1988; 1993a, 1990) stellt das „gute Jugendbuch“ ein unbestimmt bleibendes Schlagwort dar. Eine eigene theoretische Strömung kann er für die 1950er und 1960er Jahre nicht ausmachen.21 Stattdessen sieht er – ähnlich wie Promies – die Kinder- und Jugendliteraturtheorie der Zeitspanne 1945 bis 1960 allein im Kontext des sog. Schmutz- und Schundkampfs.22

Der Ruf nach dem ‚Schutz der Jugend‘ erfolgte parallel zu der bestimmenden Vorstellungswelt der Kinder- und Jugendliteraturkritik, der es gar nicht um Kinder- und Jugendliteratur als Literatur ging, sondern um eine Fortsetzung der Pädagogik mit anderen Mitteln, ihre Kennworte waren Leitbild und Lebenshilfe. Der literarisch-künstlerische Ausdruck wurde als eher gefährdend angesehen. Die Kritik jener Jahre fragte nach dem Bildungswert, nicht nach dem Kunstwert. Die Kinder- und Jugendliteraturkritik hat sich als eine Form der Pädagogik verstanden, nicht der Ästhetik. (Kaminski 1987, S. 292)

← 7 | 8 → Die 1950er und 1960er Jahre sind aber gerade nicht von pädagogischen, sondern vielmehr von psychologischen und literarischen Aspekten bestimmt. Erst Mitte der 1960er Jahre und mit der kinderliterarischen Wende um 1968 kehrt die pädagogische Fragestellung – wenn auch unter anderen Vorzeichen – wieder in die Diskussion zurück.

Mögen Kaminskis Beschreibungen von einer stark pädagogisch geprägten Kinder- und Jugendliteraturkritik für die unmittelbaren Nachkriegsjahre vielleicht noch zutreffen, so sind sie für die nachfolgenden Jahrzehnte auf jeden Fall zu pauschal und undifferenziert.23 Sie ignorieren bspw., dass in diesen Jahren ein Wandel in der Kindheitsauffassung zu beobachten ist, der sich auch auf die Kinder- und Jugendliteraturtheorie auswirkte.24 So besteht für Steinz/ Weinmann (2000, S. 102ff) ein wechselseitiger Zusammenhang zwischen einer sich ab Mitte der 1950er Jahre etablierenden neuen, westdeutschen Kinderliteratur und einer zum gleichen Zeitpunkt sich entwickelnden Kinderliteraturtheorie, die später unter dem Begriff der Theorie des „guten Jugendbuchs“ zusammengefasst wird.25

Andrea Weinmann weist darauf hin, dass Kaminski in seiner 1990 erschienenen Darstellung zur Kinder- und Jugendliteratur der Nachkriegsjahre seine Einschätzung zur Theorie des „guten Jugendbuchs“ z. T. angepasst hat (vgl. Kaminski 1990, S. 307):

Jetzt sieht er [= Kaminski; S. M.] durchaus, daß das ‚gute Jugendbuch‘ auf einer mittleren Ebene zwischen der Heftchenliteratur und künstlerisch ambitionierten, avantgardistischen Schriften platziert worden sei; doch glaubt er nach wie vor, daß ← 8 | 9 → ein Primat des Erzieherischen vor dem Literarischen geherrscht habe. Diesem Urteil stehen mittlerweile differenziertere Einschätzungen gegenüber […]. (Weinmann 1998, S. 101)

Einblicke in die seit den 1970er Jahren erschienenen Handbücher und Einführungen zur Kinder- und Jugendliteratur,26 sowie in das von Klaus Doderer herausgegebene Lexikon zur Kinder- und Jugendliteratur (vgl. Doderer 1975ff/Hrsg.)27 zeigen, dass Theoriegeschichte auch im Rahmen dieser Standardwerke kaum thematisiert wird.28

Stattdessen handelt es sich hier um praxisbezogene Kompendien, die sich u. a. auf die Darstellung einzelner Gattungen der Kinder- und Jugendliteratur konzentrieren. An Kaminskis Einführung ist von Interesse, dass es hier ein Kapitel zum Thema „Was ist ‚gute‘ Kinder- und Jugendliteratur?“ (Kaminski 1989, S. 106ff) gibt. Dort heißt es zur Beurteilungspraxis nach 1945:

Die Kriterien zur Beurteilung von Kinder- und Jugendliteratur vor allem seit der Nachkriegszeit waren dann: a) der ästhetische Maßstab (Ganzheit, Echtheit, ← 9 | 10 → Stimmigkeit, ausgewogene Bauform), b) Kindgemäßheit, c) die abendländischen Werte. Diese Kategorien sollten helfen, Schundliteratur von wertvoller Kinder- und Jugendliteratur zu unterscheiden. Aber es zeigte sich, daß diese Begriffe praktisch nur von begrenztem Nutzen waren. Sie erlaubten nur eine idealistische Kinder- und Jugendliteraturkritik. Was aber ein ‚gutes‘ Kinder- und Jugendbuch sein sollte, war mit ihrer Hilfe nicht mehr nachvollziehbar. (ebd., S. 106)

Daß Kaminski die Beurteilungsmaßstäbe der 1950er und 1960er Jahre als idealistisch bezeichnet und ablehnt, verwundert nicht.29 Überraschend aber ist, dass er hier den pädagogischen Aspekt erstmals auf den letzten Rangplatz verweist, was im Widerspruch zu seinen früheren Äußerungen sowie zu seiner Darstellung in Rainer Wilds Kinderliteraturgeschichte steht (vgl. Kaminski 1990, S. 307).

Die 2003 erschienene Einführung von Isa Schikorsky verweist auf Anna Krüger. Angesichts der Knappheit der Darstellung ist dies erstaunlich. Auch Schikorsky stellt Krüger allerdings in den Kontext des Schmutz- und Schundkampfs, liefert damit also keine Neubewertung, sondern ist der Ansicht, dass das „gute Jugendbuch“ „unvereinbares“ leisten sollte (vgl. Schikorsky 2003, S. 141f). Einen Zusammenhang zwischen der Theorie des „guten Jugendbuchs“ und den nur wenige Seiten später erwähnten neuen Texten eines James Krüss oder eines Otfried Preußler sieht sie nicht (vgl. ebd., S. 147f).

Schaut man sich darüber hinaus an, wie seit den 1970er Jahren in anderen Kontexten über die Konzepte der 1950er und 1960er Jahre gesprochen wird, stellt man fest, dass insbesondere in den 1970er Jahren die Auseinandersetzung mit der Theorie des „guten Jugendbuchs“ oberflächlich und pauschal geblieben ist. Lange Zeit begegnet die Theoretikergeneration der 1970er Jahre der vorangegangenen Strömung mit Ignoranz, Nichtbeachtung oder einem vernichtenden, abwertenden Urteil und grenzt sich besonders scharf von ihr ab (vgl. Dahrendorf 1977b). Es bleibt vielfach bei polemischen Anmerkungen.30 So spricht Doderer (1976, ← 10 | 11 → S. 18–20) beispielsweise von den „ Kulturguttheoretikern“ und den „unkritischen Methodikern“ (vgl. Dahrendorf 1980, S. 78), ohne zu sagen, welche Vertreter er konkret meint. Lingelbach/Oberfeld (1969, S. 236f) üben Kritik an Fritz Pfeffers Position zum „guten Jugendbuch“ (vgl. Kap. 3.3.1)31 und Wolfgang Frommelt beschreibt Richard Bambergers Einfluss auf die Jugendbuchforschung in Österreich als „geradezu gigantisch-terroristisch“ (Frommelt 1974, S. 365). Die „ traditionelle Jugendbuchforschung“, zu der er u. a. Karl Ernst Maier, Anna Krüger und A. C. Baumgärtner zählt, erscheint ihm „erzkonservativ“ (ebd., S. 347), denn die individualistischen Betrachtungsweisen, der bildungsbürgerliche Kunstbegriff, die zugrunde gelegten Altersstufenmodelle ignorierten, so Frommelt, den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang sowie Aspekte der Sozialisation und dienten nur dazu, die bestehenden gesellschaftlichen Zustände zu stabilisieren. Malte Dahrendorf wird zwar einer fortschrittlicheren Forschung zugeschrieben, wegen fehlender Kapitalismuskritik aber ebenfalls abgelehnt (vgl. ebd., S. 357f).

Ab Mitte der 1970er Jahre erscheinen mehrere Sammelbände, in denen theoretische Beiträge aus den 1950er und 1960er Jahren wieder abgedruckt werden. Zwar kann von einer systematischen Auseinandersetzung mit der vorangehenden Epoche noch nicht gesprochen werden, aber zumindest zeigen diese Sammelbände, welche Beiträge aus den 1950er und 1960er Jahren auch Mitte bzw. Ende der 1970er Jahre noch als relevant bzw. diskussionswürdig gegolten haben.32 Zudem werden diese Aufsätze, die verstreut in verschiedensten Zeitschriften erschienen waren, so wieder zugänglich gemacht und die Auseinandersetzung mit den theoretischen Positionen der 1950er und 1960er Jahre wird so zumindest erleichtert und vorbereitet (vgl. Bernstorff 1977/Hrsg., S. 5). In Jörg Beckers Textsammlung aus ← 11 | 12 → dem Jahr 1986, die mit zentralen Aufsätzen von Heinrich Wolgast um 1890 beginnt und – orientiert am zentralen Publikationsorgan der Jugendschriften-Warte – den Bogen bis zum Jahr 1979 spannt, ist für die 1950er und 1960er Jahre allerdings nur ein einziger Aufsatz zu finden.33 Von einer adäquaten Repräsentation der Theorie des „guten Jugendbuchs“ kann im Rahmen dieses Sammelbandes also nicht gesprochen werden. Stattdessen konzentriert sich auch Becker vorwiegend nur auf die unmittelbaren Nachkriegsjahre. Dazu heißt es:

Naiv kann es in diesem Zusammenhang nur erscheinen, wie die ‚Jugendschriften-Warte‘ 1951 wiederum an Wolgast anknüpfen kann. Und unberührt und ungebrochen verharrte die Jugendbuchforschung in der Bundesrepublik bis Anfang der sechziger Jahre in einer Position der naiven Reformpädagogik. (Becker 1986/Hrsg., S. 3).

Für Becker repräsentiert hier einzig und allein Anna Krüger eine Ausnahmeerscheinung in der bundesrepublikanischen Jugendbuchforschung, denn deren Arbeiten

aus den fünfziger Jahren knüpfen konsequent an den Part der Reformpädagogik an, der sich auch durch die NS-Zeit nicht hatte korrumpieren lassen. (ebd., S. 3)

In den 1980er Jahren sind die Monographie von Dahrendorf (1980) und der Forschungsband von Doderer (1993/Hrsg.) hervorzuheben. Malte Dahrendorf – anfangs selbst ein Vertreter des „guten Jugendbuchs“ (vgl. Dahrendorf 1967a und 1967b) hat in mehreren Veröffentlichungen nach 1970 (vgl. Dahrendorf 1972a, 1972b, 1974, 1977b, 1980) am deutlichsten zur Theorie des „guten Jugendbuchs“ Stellung genommen, sich von dieser abgegrenzt und intensiv an der Ausarbeitung und Etablierung eines ideologiekritisch-emanzipatorischen Ansatzes mitgewirkt. Dahrendorf zählt Bamberger, Karl Ernst Maier (vgl. Dahrendorf 1972a), Krüger und Pfeffer (vgl. Dahrendorf 1972b) zu den Vertretern der sog. „Traditionalisten“ (Dahrendorf 1980, S.72–79), zu den „ Herkömmlichen Kritiker[n]“ (Dahrendorf 1972a, S. 36) bzw. zu den Repräsentanten einer „normativen, idealistischen Kritik “ (Dahrendorf 1977b, S. 268). 1980 nennt er in diesem Zusammenhang auch Horst Schaller und geht ausführlich auf Walter Scherf ein, dem er eine Sonderrolle innerhalb dieser Theorieströmung zuschreibt (vgl. Dahrendorf 1980, S.79–82).

Dabei analysiert Dahrendorf (1980) nicht die Vertreter im Einzelnen, sondern sieht die „Traditionalisten“ als eine homogene Gruppe, die bis etwa 1970 einflussreich geblieben sei.34 Sie hätte

Details

Seiten
IX, 321
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653033977
ISBN (ePUB)
9783653991734
ISBN (MOBI)
9783653991727
ISBN (Hardcover)
9783631645017
DOI
10.3726/978-3-653-03397-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Januar)
Schlagworte
Leseerziehung Leseförderung Lesealtertheorie Kunsterziehungsbewegung Entwicklungspsychologie Reformpädagogik
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. IX, 321 S.

Biographische Angaben

Sonja Müller (Autor:in)

Sonja Müller, Erstes und Zweites Staatsexamen für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen; Lehrerin und Redaktionsassistentin; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik der Universität Frankfurt am Main. Promotion am dortigen Institut für Jugendbuchforschung.

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