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Serbien und das Modernisierungsproblem

Die Entwicklung der Gesundheitspolitik und sozialen Kontrolle bis zum Ersten Weltkrieg

von Indira Durakovic (Autor:in)
©2014 Monographie 486 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin wurde für diese Arbeit mit dem Andrej-Mitrović -Preis ausgezeichnet.
Als Bestandteil eines Modernisierungsprozesses von Staat und Gesellschaft war die Gesundheitspolitik für den angestrebten wirtschaftlichen, militärischen und sozialen Fortschritt Serbiens unerlässlich. Im Kontext einer europäischen Sozialgeschichte der Medizin beleuchtet diese Studie die Medikalisierung einer agrarisch und patriarchal geprägten Gesellschaft. Dabei ist die Analyse der medizinischen Sozialdisziplinierung sowie der hygienischen Erziehung zentral. Basierend auf eugenischen, gesundheitspolitischen sowie sanitärhygienischen Maßnahmen galt es eine effektive soziale Kontrolle zu etablieren. Die Diskrepanz zwischen den theoretisch fundierten Interventionen und ihrer Realisierung verdeutlichen medizinische Zeitschriften, Aufklärungsbücher sowie Archivdokumente aus Belgrad und Wien.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Einleitung
  • 1. Inhalt und Forschungsvorhaben
  • 2. Theoretischer Rahmen
  • 3. Quellenlage und Forschungsstand
  • 1. Die Anfäe nationaler Gesundheitspolitik
  • 1.1 Diskurse
  • 1.2 Die Gesetzgebung
  • 1.3 Formierung gesundheitlicher Verhältnisse
  • 1.4 Medizinische Versorgung
  • Zusammenfassung
  • 2. Formen staatlicher Interventionsmechanismen
  • 2.1 Das öffentliche Gesundheitswesen
  • 2.2 Gesundheitspolitische Kontrolle
  • 2.3 Import ausländischer Modelle
  • 2.4 Bevölkerungspolitische Aspekte
  • Zusammenfassung
  • 3. Der Einfluss von Epidemien auf die Entwicklung des Gesundheitswesens
  • 3.1 Moderne Epidemiebekämpfung
  • 3.2 Die Flecktyphusepidemie von 1914/15
  • 3.3 Zwangsverordnungen
  • 3.4 Krankheiten und marginalisierte Gruppen
  • Zusammenfassung
  • 4. Der Umgang mit Geschlechtskrankheiten und Prostitution
  • 4.1 Diskurse und Kampagnen
  • 4.2 Präventiv- und Bekämpfungsmaßnahmen
  • 4.3 Geschlechtskrankheiten
  • 4.4 Prostitution
  • Zusammenfassung
  • 5. Gesundheitsaufklärung
  • 5.1 Frauen im Fokus der Gesundheitserziehung
  • 5.2 Die Anfänge der Familien- und Geburtenpolitik
  • 5.3 „Soziale“ Krankheiten
  • 5.4 Hygienisierung der Gesellschaft
  • Zusammenfassung
  • 6. Die Rolle der Ärzteschaft
  • 6.1 Professionalisierungsmaßnahmen
  • 6.2 Serbien als medizinisches Experimentierfeld
  • 6.3 Konstruktion von Serbienbildern
  • 6.4 Stellenwert der Volksmedizin
  • Zusammenfassung
  • Schlussfolgerungen
  • Bibliografie
  • 1. Archivquellen
  • Österreichisches Staatsarchiv
  • Serbisches Staatsarchiv
  • 2. Primärliteratur
  • 3. Sekundärliteratur
  • 4. Internetquellen
  • Abbildung
  • Zusammenfassung
  • Summary
  • Rezime

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1:Die Anzahl der Pockenimpfungen bei Kindern (1898–1904)

Tabelle 2:Die jährlichen Sterbefälle (1893–1900)

Tabelle 3:Die Syphilisfälle im Belgrader Krankenhaus (1898–1907)

Tabelle 4:Behandlungen von Gonorrhöe und Weichem Schanker im Belgrader Krankenhaus (1898–1904)

Tabelle 5:Anzahl der ärztlich behandelten Prostituierten (1904–1907)

Tabelle 6:Anzahl der an Gonorrhöe, Weichem Schanker und Syphilis erkrankten Soldaten (1865–1873)

Tabelle 7:Tuberkuloseverursachte Sterbefälle (1900–1904) ← 467 | 468 → ← 468 | 469 →

Einleitung

1. Inhalt und Forschungsvorhaben

Wenn man bedenkt, dass Serbien Jahrhunderte hindurch unter dem Drucke türkischer Paschawirthschaft geseufzt, dass es erst vor wenigen Dezennien in die Reihe der europäischen Kulturstaaten getreten ist, und im Grunde genommen erst seit etwa einem halben Jahrhunderte überhaupt einen staatlichen Organismus darstellt, wenn man weiss, in welch‘ trostlosem Zustande das Sanitätswesen Serbiens bis vor kurzer Zeit sich befunden hat und zum Theile noch befindet, dann wird man den in den vorliegenden [Sanitäts-] Gesetzen zum Ausdrucke kommenden Kulturbestrebungen des seit verhältnissmässig kurzer Zeit die Freiheit geniessenden und rasch aufstrebenden serbischen Volkes […] vollste Anerkennung nicht versagen dürfen.1

Als 1881 der Arzt und spätere Chefredakteur der renommierten „Wiener Medizinischen Wochenschrift“ Heinrich Adler (1849–1909) die Fortschritte im serbischen Gesundheitswesen analysierte, stellte er die sanitären Neuerungen in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der kulturellen und zivilisatorischen Modernisierung des Landes. Damit spiegelte er die zeitgenössische Denkweise wider, die auch unter serbischen Ärzten dominierte. Demnach ließ sich ein nationales Gesundheitssystem nur durch die Neuorientierung an westeuropäischen Theorien und Modellen realisieren, die zugleich mit der Distanzierung von der ungeliebten osmanischen Vergangenheit einhergingen. Das unter dem Einfluss ökonomischer, militärischer und sozialer Aspekte aufgebaute Sanitäts ← 7 | 8 → wesen war ein Ausdruck der Modernisierungsbestrebungen2 des Landes. Mit der Gesundheitspolitik ging insbesondere eine sukzessive Bürokratisierung und Verwaltung des serbischen Staates einher. Während gesundheitspolitische Maßnahmen im restlichen Europa im Laufe des 18. Jahrhunderts einsetzten, lassen sie sich im Falle Serbiens ab dem Ende der 1830-er Jahre beobachten. Die vorangetriebene Verbesserung der prekären gesundheitlichen Verhältnisse mündete im ausgehenden 19. Jahrhundert in einem konzeptualisierten und institutionalisierten Gesundheitswesen, dessen Charakteristika sich in dem untersuchten Zeitraum von 1890 bis 1915 abzeichneten.

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, im Rahmen einer europäischen Sozialgeschichte der Medizin am Beispiel Serbiens die Herausbildung eines nationalen Gesundheitssystems zu dokumentieren. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie die gesundheitsspezifischen Überwachungs- und Regulierungsmaßnahmen im Zusammenhang mit einer als Prozess begriffenen Modernisierung von Staat und Gesellschaft etabliert worden sind. Die Foucault’schen Konzepte der „Bio-Politk“3 und „Gouvernementalität“4 berücksichtigend, werden die Entwicklung und Charakteristika des serbischen Gesundheitswesens ergründet, wobei die Erforschung staatlicher Macht- und Interventionsmechanismen, ihrer Methoden und Auswirkungen im Fokus der Arbeit stehen. Folglich gilt es, die Etablierung gesundheitspolitischer Maßnahmen und Standards in Serbi ← 8 | 9 → en unter der Erwägung gesellschaftlicher, ökonomischer, militärischer und politischer (Begleit-)Umstände und Umwälzungen zu analysieren. Welche Strategien zur Überwachung und Lenkung des Hygieneverhaltens zu Gunsten staatlicher Interessen angewandt wurden und welcher Methoden sich der Staat bediente, um die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern, wird ausführlich untersucht. Dabei werden die verschiedenen Aspekte der serbischen Gesundheitspolitik hinterfragt sowie die Mechanismen sozialer Kontrolle in einer überwiegend analphabetischen Bevölkerung beleuchtet. In diesem Kontext wird besonders ein Augenmerk auf die Strategien der Überwachung und Lenkung des kollektiven Verhaltens gerichtet. Die Aufarbeitung der gesundheitspolitischen Entwicklung Serbiens führt im letzten Schritt zur Frage nach den prägenden (Begleit-)Faktoren dieser Prozesse, wie etwa dem Einfluss gesellschaftlicher Wertvorstellungen auf das staatliche Gesundheitssystem. Insbesondere die Rolle religiöser Einrichtungen, genauer der orthodoxen Kirche, und deren Mitarbeit an Aufklärungskampagnen ist dabei von großem Interesse.

Als zentraler Bestandteil eines umfassenden staatlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozesses, war der Gesundheitssektor für den angestrebten wirtschaftlichen, militärischen und sozialen Fortschritt unerlässlich. Die vorherrschenden Infektionskrankheiten sowie Epidemien waren nicht nur Eingriffe von außen in das vom Menschen geprägte Alltagsleben, sondern sie beeinträchtigten auch den normalen Verlauf wirtschaftlicher Vorgänge. Folglich stellt sich die Frage, mit welchen staatlichen Instrumenten die soziale Kontrolle im Rahmen des Gesundheitswesens vorantrieben wurde. Insbesondere der sukzessive Prioritätenwandel von einer ausschließlichen Bewältigung gesundheitlicher Gefahren hin zur aktiven und konzeptualisierten Einwirkung auf die Bevölkerung wird untersucht. Gerade Präventivmaßnahmen stellen einen wichtigen Indikator für die sukzessive Institutionalisierung und sich herausbildende Verwaltung des serbischen Staates dar. Dieser wurde für die Menschen insbesondere durch Quarantänen, Ärzte, Impfzwänge, Hygienekampagne und Aufklärungsmaßnahmen ersichtlich. ← 9 | 10 →

Folglich leistet diese Arbeit einen Beitrag zur Erfassung des durch das Sanitätssystem eingeleiteten Prozess der „Medikalisierung“5 in einer agrarisch und patriarchal geprägten Gesellschaft, die sowohl für das Osmanische Reich als auch für zentral- und westeuropäische Staaten an der Peripherie lag. Die Intention Serbiens, sich in die Reihen Letzterer einzugliedern, führte u. a. über ein Gesundheitswesen, das den als abstrakt wahrgenommenen Staat (schneller als andere Modernisierungsfaktoren) der Bevölkerung näher brachte. Demgemäß werden die Maßnahmen auf dem Gebiet des Gesundheitswesens, wie etwa der Bau von Quarantänen, die Errichtung regionaler Gesundheitsnetzwerke, die Etablierung des Impfzwangs oder die Durchführung von Hygienekampagnen kritisch durchleuchtet. Die Bevölkerung war von den ärztlichen Eingriffen in das Privatleben, vor allem auf dem flachen Land, zu einem früheren Zeitpunkt betroffen als von anderen Modernisierungsprozessen. Eine sozialhistorisch verankerte Geschichte der Medizin greift somit ein Desiderat auf, denn eine kritische Analyse des gesamten Gesundheitssystems und der damit einher gehenden sozialen Kontrolle in Serbien wurde von der (südost-)europäischen Historiografie bislang nicht geleistet.

Die vorliegende Arbeit ist in sechs thematische Schwerpunkte gegliedert, anhand welcher die Charakteristika des serbischen Sanitätswesens beschrieben und analysiert werden. Das erste Kapitel thematisiert die Entstehung der nationalen Gesundheitspolitik, die anhand ärzteinterner Diskurse sowie der Gesetzgebung skizziert wird. Die vom Innenministerium herausgegebenen Direktiven stellten die Basis für die Arbeit der Sanitätsabteilung dar, welche wiederum für die Verbesserung der Hygieneverhältnisse verantwortlich war. Inwieweit die hygienischen ← 10 | 11 → Missstände angesichts des konstanten Fachkräftemangels im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswesens tatsächlich reduziert werden konnten, ist ein Bestandteil der Analyse. Die (Un-)Wirksamkeit der sanitären Maßnahmen zeigte sich besonders an der medizinischen Versorgung am Ende des 19. Jahrhunderts. Da die mehrheitlich in ruralen Gebieten lebende Bevölkerung mit zahlreichen Krankheiten zu kämpfen hatte, stellt sich unmittelbar die Frage nach den gesundheitspolitischen Maßnahmen, der Infrastruktur, den gesundheitlichen Rahmenbedingungen im Land. Ausgehend vom Umstand, dass Serbien eine der höchsten Fertilitäts- und Mortalitätsraten in Europa vor den Balkankriegen 1912/13 aufwies, wird letztendlich die medizinische Versorgungsstruktur beleuchtet.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den Formen staatlicher Interventionsmechanismen, denn die steigende Einflussnahme auf eine überwiegend analphabetische Bevölkerung eröffnet die Frage nach den Methoden und Auswirkungen der (ersten) Maßnahmen. Die daraus resultierende gesundheitspolitische Kontrolle sollte einerseits mit statistischen Erhebungen, andererseits mithilfe von Ärzteprotokollen etwa über dominierende Hygienegewohnheiten realisiert werden. Gerade Statistiken über die Kräfte und Ressourcen einer Bevölkerung können samt dem administrativen Apparat zu einem Instrument staatlicher Machtausübung werden. Demgemäß werden die von oben initiierten Eingriffe im Gesundheitsbereich samt ihrer Wirkungsweise und den damit verbundenen Realisierungsproblemen durchleuchtet. Weil die Reformbestrebungen nach dem Vorbild ausländischer Modelle erfolgten, stehen auch die Austauschprozesse zwischen der in- und ausländischen Ärzteschaft im Fokus der Untersuchung. Darüber hinaus werden bevölkerungspolitische Aspekte und damit verbundene Auswirkungen auf das Privatleben ergründet, zumal die ‚Hygienisierung‘ der Gesellschaft in viele Lebensräume eindrang.

Der dritte Schwerpunkt umfasst den Einfluss von Epidemien auf die Entwicklung des Gesundheitswesens, wobei die modernen Seuchenbekämpfungsmethoden des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts genau unter die Lupe genommen werden. Daher werden die Schutz- und Kontrollmaßnahmen gegen Seuchen, die von zahlreichen Kontroversen und bedenklichen empirischen Untersuchungen begleitet wurden, beleuchtet. Die Vorgangsweise während der großen Fleck ← 11 | 12 → typhusepidemie von 1914/15, die innerhalb von nur sechs Monaten mit mehr als 100.000 Todesfällen ihren Höhepunkt erreichte, ist ein weiterer Gegenstand der Analyse. Da Epidemien häufig mit der Konstruktion von Feindbildern einhergingen, werden die Auswirkungen von (Infektions-)Krankheiten auf den Umgang mit marginalisierten Gruppen in der serbischen Gesellschaft kritisch untersucht. Die Charakterisierung von Minderheiten als das konträre ‚Andere’, vor dem sich ein Kollektiv zum Schutz abgrenzen müsse, war ein europaweites Phänomen, das hier am Fallbeispiel Serbiens ergründet wird.

Im vierten Kapitel wird der staatliche Umgang mit Geschlechtskrankheiten und Prostitution analysiert, indem ärztliche Diskurse, Aufklärungskampagnen sowie Präventions- und Bekämpfungsmaßnahmen beleuchtet werden. Die Regulierung von Geschlechtskrankheiten ist in diesem Zusammenhang von ebenso großem Interesse wie die damit einher gehenden Mechanismen sozialer Kontrolle, etwa Isolation und/oder Strafmaßnahmen. Unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Tabuisierung dieser Thematik gilt es primär, die staatliche Rolle bei der Organisation und Kontrolle der Prostitution und die damit einher gehende Zusammenarbeit mit Bordellbesitzern zu untersuchen. Darüber hinaus wird die starke Fokussierung auf Prostituierte als ‚Hauptträgerinnen’ von Geschlechtskrankheiten hinterfragt, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Vorgehensweise der Sanitätspolizei sowie die Effizienz ihrer Arbeit gerichtet wird.

Das fünfte Kapitel geht der Frage nach, was die vorwiegend analphabetische Bevölkerung über Krankheiten wusste und wie staatliche Maßnahmen zur Gesundheitsaufklärung realisiert wurden. Mit welchen Methoden die Gesundheitserziehung erfolgte und wie Ärzte und Hygieniker neue Normen in der Gesellschaft verfestigten, bedarf einer näheren Betrachtung. Da Serbien stark vom Engagement der weiblichen Bevölkerung bei der interfamiliären Gesundheitsaufklärung und Umsetzung gesundheitlich-hygienischer Standards abhängig war, wird zunächst die Rolle der Frau insbesondere bei der Erziehung von Kindern beleuchtet. Damit einher gehend werden auch Versuche eines Eingriffs in das Sexualverhalten der Menschen hinterfragt, wobei der Versuch, die ‚Bevölkerungsqualität’ zugunsten des Staates zu beeinflussen, im Mittelpunkt der Analyse steht. Der Umgang mit Abtreibungen, wie auch die ‚Hygienisie ← 12 | 13 → rung’ der Bevölkerung ist dabei von besonderem Interesse. Letztendlich umfasst die Auseinandersetzung mit Gesundheitsaufklärung auch die Bekämpfung der ‚sozialen’ Krankheiten Alkoholismus und Tuberkulose und der daraus resultierenden Stigmatisierung der Betroffenen.

Das sechste und letzte Kapitel ergründet die Rolle der Ärzteschaft beim Aufbau des Gesundheitssystems, denn der Staat war von der Mitarbeit sowohl der serbischen als auch ausländischen Mediziner abhängig. Infolgedessen wird der Prozess der Herausbildung und Förderung eines nationalen Ärztekaders nachgezeichnet sowie dessen Beteiligung am Aufbau des Gesundheitswesens ermittelt. Dabei stellt sich die Frage nach der Autorität und Macht der Ärzteschaft in Serbien, zumal das Land noch stark von volksmedizinischen Heilungsmethoden geprägt war. Somit steht die staatlich geförderte Professionalisierung dieses Berufsstandes und die daraus resultierende Verdrängung der Volksmedizin im Fokus des letzten Abschnittes. Darüber hinaus erfolgt eine kritische Untersuchung des Engagements ausländischer Ärzte, aber auch der Intentionen und Motivationen ihrer Kriegseinsätze, denn Serbien war seit den Balkankriegen für viele ein medizinisches Experimentierfeld. Die damit einher gehende Konstruktion pejorativer Balkanbilder in den Ärzteberichten wird ebenfalls erschlossen.

2. Theoretischer Rahmen

Der Staat in seiner Rolle als „Gärtner“6 bemühte sich ab der Wende zum 20. Jahrhundert intensiv um die Einrichtung eines medizinischen Kontrollnetzes, welches weit über die Eindämmung und Prävention von Epidemien hinausgehen sollte. Die Gesundheitspolitik wurde daher zu einem zentralen staatlichen Instrument, mit welchem immer mehr Lebensbereiche systematisch erfasst wurden. Die Strategien zur Überwachung und Lenkung des Bevölkerungsverhaltens zu Gunsten staatlicher Interessen machten den Gesundheitszustand der Menschen zu einem wichtigen Interventionsfeld. Der ökonomische und militärische Stellenwert einer gesunden sowie arbeits- und kampffähigen Bevölkerung führte auch im südöstlichen Europa zu staatlichen Interventionen, welche ← 13 | 14 → u. a. mit Hilfe ausländischer Ärzte, Hygieniker und Bakteriologen realisiert wurden. Gerade der Ausbruch von Seuchen, außerdem der Mangel an ärztlichem Fachpersonal und der Bedarf nach einer dichten medizinischen Infrastruktur veranlasste diese Staaten zu ersten gesundheitspolitischen Schritten. Die angeordneten Maßnahmen, insbesondere jene zur Prävention und Eindämmung von Epidemien wie die Pockenimpfung oder Einrichtung von Quarantänen gehen von einer europaweiten Entwicklung aus, welche im Zuge des 18. Jahrhunderts einsetzte und mit einer zeitlichen Verzögerung auch die Balkanhalbinsel erfasste.

Im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswesens („Public Health“)7 nahmen insbesondere Großbritannien, Deutschland und Frankreich eine Vorreiterrolle ein, indem sie aktiv in die innerstaatlichen sanitären Missstände eingriffen und zunächst versuchten, die Industrialisierungsfolgen wie prekäre Lebens- und Wohnverhältnisse breiter Bevölkerungsschichten zu mindern. Das primäre Ziel der ersten gesundheitspolitischen Interventionen war es, die hohe Mortalitätsrate zu senken, die durch Pocken, Tuberkulose, Flecktyphus, Cholera und Dysenterie verursacht wurde. Mit Präventiv- und Behandlungsmaßnahmen sollte zudem die enge Beziehung zwischen Armut, Schmutz und Krankheit aufgebrochen werden. Die zunehmende Verbreitung der staatlich initiierten Vorkehrungen charakterisierte Michel Foucault als Formen autoritärer Medizinisierung.8 Im Zuge dieser Entwicklungen kommt erstmals die Rolle des Arztes und des Hygienikers als Programmplaner und Reformer9 im Staat zum Vorschein, welcher durch die privilegierte Position und Funktion seine medizinische Macht intensiviert.

Weil im Rahmen des Gesundheitssystems die Professionalisierung des ärztlichen Berufsstandes europaweit stark vorangetrieben wurde, hatte dieser Prozess u. a. die Distanzierung ausgebildeter Ärzte gegenüber ‚Schwindler/innen’ zur Folge. Demgemäß erfuhren volksmedizinische Dienste und Behandlungsmethoden mit der Zeit zunehmende öffentliche Diskreditierung, was dazu führte, dass die Ärzteschaft sukzessive einen höheren Status in der Gesellschaft erlangte. Heiler/innen wurden mit dem Verbot der Berufsausübung zunehmend isoliert und vom ← 14 | 15 → medizinischen Markt verdrängt. Bei der damit einher gehenden expandierenden medizinischen Überwachung von öffentlichen Einrichtungen und der Bevölkerung übernahmen Ärzte zentrale Aufgaben. Dabei wurden die Menschen u. a. mittels der Einführung von Hygieneverordnungen immer mehr kontrolliert und gelenkt. Dass aber diese Kontrollen auch Veränderungen der menschlichen Lebensweise intendierten und letztendlich zur Folge hatten, wird gerade anhand des Hygieneverhaltens ersichtlich, welches je nach Epoche, Kultur und Gesellschaft variierte.

Die sanitären Interventionen in privaten und öffentlichen Räumen erhöhten den Stellenwert der Ärzteschaft, deren Machtposition durch Professionalisierungsstrategien zunehmend gefördert wurde. Mit Hilfe der Bürokratie erlangten medizinische Expert/innen mehr Autorität und machten die Bevölkerung zu einem Untersuchungsobjekt. In diesem Kontext wurden Epidemien als Belege für die Notwendigkeit eines öffentlichen Gesundheitswesens aufgefasst.10 Insbesondere die damit einher gehende Einstellung zu Infektionskrankheiten, die es nicht nur zu bekämpfen, sondern auch zu verhindern galt, erforderte mehr soziale Kontrolle. Folglich stand nicht mehr ausschließlich die Behandlung und Heilung der Kranken im Mittelpunkt, sondern auch die staatlich initiierte Präventionsarbeit. Ihre Notwendigkeit wurde zunächst in den industrialisierten Nationalstaaten erkannt, wo die medizinische Gesetzgebung von der Sorge um die Prosperität sowie die Beeinträchtigung der Arbeitskraft und der militärischen Stärke geprägt war. Somit standen wirtschaftliche, soziale und gesellschaftspolitische Interessen im Mittelpunkt der Bekämpfung von Epidemien und sogenannten Volkskrankheiten.11

Die mit dem Gesundheitswesen eingetretenen Veränderungen in der Gesellschaft sowie die Vereinnahmung der Bevölkerung durch die Ärzteschaft werden in erster Linie an dem Umgang mit den zahlreichen Cholera-Epidemien deutlich. Nachdem sich die Seuche im 19. Jahrhundert von Indien aus auf die ganze Welt verbreitet hatte, wurde ersicht ← 15 | 16 → lich, dass sie mit Quarantänemaßnahmen allein nicht einzudämmen war. Seitdem der „blaue Tod“ 1830 erstmals auf dem europäischen Kontinent ausgebrochen war, kehrte die Krankheit in regelmäßigen Abständen wieder zurück. Die weltweiten Pandemien (1817–1824, 1829–1851, 1852–1859, 1860–1875, 1881–1895 sowie 1899–1923)12 erschütterten die Staaten und führten den Ärzten und Hygienikern ihre Machtlosigkeit vor Augen. Besonders ihr Ausbruch in Hamburg 1892 nahm verheerende Ausmaße an und hatte eine grundlegende Sanierung der Stadt zur Folge.13 Erstmals mussten Schritte unternommen werden, um unsauberes Trinkwasser und prekäre hygienische Zustände in den Städten mit hoher Wohndichte zu vermeiden.

Cholera appears in this setting as a catalyst of public opinion, an ally in the service of the ‘sanitary reformers’. It was not until the late nineteenth century that public health became an ‘expert service’, and it is only in the twentieth century that social control has become genuinely international.14

Die staatliche Initiierung anti-epidemischer Präventivmaßnahmen brachte stärkere Kontrollmechanismen in der Gesellschaft hervor, wodurch diese mit einer grundlegenden Sanierung des privaten und öffentlichen Raums einhergingen.

Folglich war die europaweite Furcht vor der Cholera während des gesamten 19. Jahrhunderts ein ausschlaggebender Faktor für die Verbesserung der sanitären Missstände in den Städten, vor allem nachdem klar geworden war, dass diese Infektionskrankheit nicht ausschließlich bei ärmeren Bevölkerungsgruppen auftrat. Wohlhabendere konnten ihr auch durch die Flucht vor giftigen Ausdünstungen (Miasmen) in die ländliche Umgebung nicht ausweichen und so ergriff sie the upper als well as the lower classes.15 Dennoch wurde die ‚neue Pest’ in den industrialisierten Ländern lange als eine Krankheit der Mittellosen, insbesondere der Prostituierten und Obdachlosen, dargestellt. Dieser Umstand brachte eine Verschärfung der sozialen Probleme mit sich, weil viele die Seuche als eine Strafe für die Schwäche und moralische Korruption der unteren ← 16 | 17 → sozialen Schichten erachteten.16 Folglich wurde der Fokus auf die prekären Wohnverhältnisse in flussnahen Gebieten gelegt, wo jene lebten, die am meisten von Armut betroffen waren. Auf diese Weise vermischte sich die medizinische Dimension der Infektionskrankheit mit der gesellschaftlichen, denn die Seuchenursache wurde zunehmend mit ärmeren Menschen assoziiert. Infolge dieser Annahmen konnte der Staat die Eingriffe in die Lebensweise und die Wohnviertel der Betroffenen problemlos ausweiten.17

Diese Krankheit hatte somit einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Präventivmedizin, denn bereits Robert Koch (1843–1910), dem 1884 der Nachweis der Vibrio cholerae gelang, bezeichnete Cholera als unseren besten Verbündeten im Kampf für eine bessere Hygiene.18 Ungefähr 30 Jahre zuvor erkannte der englische Arzt John Snow (1813–1858), dass die in London 1854 wütende Cholera mit dem verseuchten Brunnenwasser in einem Stadtviertel zusammenhing. Nachdem das durch Sickergruben verunreinigte Grundwasser als Ursache erkannt worden war, kam es in den industrialisierten Ländern allmählich zum Bau von Abwassersystemen und Kanalisationen. Dennoch gab es das gesamte 19. Jahrhundert hindurch lange Auseinandersetzungen über die Entstehung und Bekämpfung dieser Krankheit.19 Der ärztliche Diskurs wurde von den Anhängern der Kontagien-, Miasma- und Konstitutionslehre ausgetragen. Während die Vertreter der Keimtheorie Krankheiten auf den zwischenmenschlichen Kontakt zurückführten, sahen die Miasmatiker die durch Fäulnis und Gärung verunreinigte Luft als das ← 17 | 18 → Hauptproblem. Die Befürworter der Konstitutionstheorie hingegen machten die schlechte körperliche Befindlichkeit und die kulturelle sowie ‚rassische’ Prädisposition für Cholera verantwortlich.20 Die heftigsten Debatten wurden jedoch zwischen den Kontagionisten und Miasmatikern ausgetragen. Letztere waren unter der Führung des bayerischen Hygienikers Max von Pettenkofer (1818–1901) Gegner von Quarantänestationen, da diese eine Ausbreitung von Miasmen nicht verhindern konnten. Doch mit der sukzessiven Etablierung neuer Wissenschaftszweige verstärkten besonders die bakteriologischen Erkenntnisse das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Sanitätsreformen im Staat.

Obwohl die Einführung von Präventivmaßnahmen immer mehr an Bedeutung gewann, war ihre Realisierung von den finanziellen, administrativen, bürokratischen und personellen Kapazitäten eines Staates abhängig. Folglich stellten Quarantänestationen die ersten und in manchen Ländern of die einzigen Maßnahmen dar:

Although quarantines did not come cheap, the sums involved paled in comparison to the massive infrastructural investment required to bring up to hygienic snuff the cities of nineteenth-century Europe. The costs of quarantine – topically applied to solve urgent and immediate problems – were also politically easier to justify than the slow, patient, massive and expensive increments of sanitary reform. […] The Greeks and the Turks, for example, agreed – for once – that quarantinism held out the best hopes of epidemiological security to impoverished nations. Their cities were in substandard hygienic condition, impeding hopes of extinguishing disease once it had penetrated, and their public health administrations were not prepared to keep all travelers under surveillance, as demanded by the revision system. Quarantines were therefore the best solution.21

Da aber die Cholera das ganze 19. Jahrhundert hindurch wütete, wurde allmählich klar, dass Kontumazen, die auch den Handel beeinträchtigten, zugunsten innerstaatlicher Präventivmaßnahmen im Hygienebereich aufgegeben werden müssten. Auf internationaler Ebene wurden aber weiterhin Vereinbarungen getroffen, die auf Quarantänekontrollen basierten. So wurde mit der internationalen Übereinkunft betreff Maßregeln ← 18 | 19 → gegen Pest, Cholera und Gelbfieber22 1903 in Paris eine Basis für die Überwachung des außereuropäischen Handels und Verkehrs geschaffen. Diese enthielt insbesondere Sonderbestimmungen für Schiffe und Reisende, die den Suezkanal passierten, denn Wasserstraßen und Eisenbahnlinien galten als Brutstätten von Infektionskrankheiten.

In den 1860-er Jahren nahmen die Forderungen nach einer Verschärfung von Quarantänemaßnahmen zeitweise sogar zu. Der Auslöser war der Choleraausbruch unter Mekkapilgern 1865, welcher als umso gefährlicher erachtet wurde, als viele Hadschis nach Bosnien und Herzegowina und somit in direkte Nähe zu Österreich-Ungarn zurückkehrten. Bei der internationalen Sanitätskonferenz in Istanbul 1866 hielten deshalb einige Länder weiterhin an Quarantänen fest. Mit der Eröffnung des Suezkanals 1869 begann aber die Diskussion erneut, denn immer mehr vom Handel abhängige Staaten setzten sich trotz aller Gefahren für die Aufhebung der Quarantänekontrollen ein.23 Letztere wurden am Ende des 19. Jahrhunderts von den Befürwortern des freien Marktes grundsätzlich in Frage gestellt, weil sie den Transport von Waren (insbesondere für die Kolonialmächte) umständlicher und teurer machten. Mit der zunehmenden Verbreitung und Akzeptanz von Robert Kochs Forschungsergebnissen markierten die 1890-er Jahre den Übergang zum „Neoquarantänismus“ („neoquarantinism“).24 Damit wurde die verpflichtende Meldung von Krankheiten an lokale Autoritäten eingeführt, welcher die medizinische Überwachung und Desinfektion nur von den infizierten Menschen, Schiffen und Handelsgütern folgte. Auf diese Weise erhofften sich die Staaten, die Anforderungen des Gesundheitswesens zu realisieren, ohne die Wirtschaft stark zu beeinträchtigen.25 ← 19 | 20 →

Dass die Bekämpfungsmethoden gegen Seuchen je nach Staat variierten, lag auch an der geografischen Lage eines Landes. Das Osmanische Reich hielt infolge der Geo-Epidemiologie der Cholera strikt an Quarantänen fest26, während sich Großbritannien liberale Maßnahmen leisten konnte, da viele Infizierte bereits auf dem Seeweg starben. Preußen wandte gegenüber Russland wiederum strikte Verordnungen an wie etwa Gesundheitspässe, Desinfektionsmaßnahmen, Räucherungen oder Hausarreste.27 Darüber hinaus verstärkte sich der Fokus auf Fremde und Reisende, die im Herkunftsstaat keinen sanitären Maßnahmen unterstanden. In diesem Kontext stellt sich die Frage, inwieweit die Quarantäne für die Abschottung eines Nationalstaates instrumentalisiert wurde und how public health management itself sometimes shapes and informs national identities.28 Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass

quarantine, more than any other government technology is the drawing and policing of boundaries. Quarantine and nationalism imply each other because both are about the creation of spaces. They determine an internal and an external, often nominated as clean and dirty, through the administration of a boundary.29

Grundsätzlich trugen Krankheiten wesentlich zur Entwicklung eines Staates bei, welcher sich zunehmend um die Gesundheit der Bevölkerung sowie die Natalitätsrate kümmerte, doch nicht nur um ökonomisch und militärisch stark zu bleiben, sondern um überhaupt existieren zu können.30 Durch diesen Umstand kam der Bevölkerung eine größere Bedeutung zu, denn man könne insbesondere bei Geburtenrückgängen mit dem Menschenmaterial nicht mehr so verschwenderisch umgehen.31 Die Angst vor dem Gespenst des Geburtenrückgangs machte sich seit der statistischen ← 20 | 21 → Erfassung von Mortalität und Natalität breit. Doch in den wissenschaftlichen Diskursen der Jahrhundertwende wurde nicht mehr ausschließlich die Quantität, sondern auch die Qualität der Bevölkerung32 als ‚bedroht’ erachtet. In diesem Zusammenhang kam insbesondere Seuchenausbrüchen ein großer Stellenwert zu, da diese nicht nur die Bevölkerungszahl senkten, sondern auch die physische Stärke der Einwohnerschaft schwächten. Folglich gingen Epidemien stets mit der Erweiterung staatlicher Einflussbereiche einher, in deren Folge Hygieneverordnungen zur Lenkung und Überwachung des Kollektivs etabliert wurden. Dass jedoch Maßnahmen nicht selten nur Minderheiten erfassten, hing u. a. mit der nationalstaatlichen Vorstellung zusammen, wodurch diese die restliche Population gesundheitlich gefährden würden.

Folglich hat die Ausweitung der staatlichen und ärztlichen Befugnisse sowie die Einflussnahme der Hygieniker und Bakteriologen auf den Umgang mit Infektionskrankheiten zur Entstehung von (General-) Verdächtigungen beigetragen. Letztere betrafen häufig in der Gesellschaft marginalisierte Gruppen wie Migrant/innen, welchen die Einschleppung von gefährlichen Krankheiten unterstellt wurde. Für sie verstärkte sich somit die Gefahr einer sozialen Isolation zu Beginn des 20. Jahrhunderts insbesondere durch die zunehmende Ausbreitung und Institutionalisierung der Eugenik, denn diese war ein wesentlicher Bestandteil der nationalen gesundheitspolitischen Konzepte. Wie gefährlich die Gleichsetzung von Minderheiten mit gefürchteten Infektionskrankheiten sein konnte, zeigt sich am Beispiel des Flecktyphus und der damit assoziierten jüdischen Migrant/innen in Deutschland.33 Im westlichen Europa herrschte die Angst vor der Einschleppung dieser Krankheit aus südlichen und östlichen Teilen Europas sowie den Kolonien. Die zur Prävention eingesetzten Methoden basierten in den meisten westeu ← 21 | 22 → ropäischen Staaten auf der Selektion von Migrant/innen aus verdächtigen’ Ländern bzw. deren Isolierung und Desinfektion.34 In diesem Kontext standen Ärzte und Hygieniker den Einschnitten in die Privatsphäre und Verhaltensweise der Bevölkerung keineswegs ablehnend gegenüber. Da gerade jene bei der Entwicklung der Gesundheitspolitik und Epidemiebekämpfung intensiv mitwirkten, war ihr Einfluss auch auf politische Entscheidungen und die Gesetzgebung sehr stark.

Nachdem das Gesundheitswesen ab dem 18. Jahrhundert zu einer wichtigen Staatsaufgabe geworden war, wurden die damit einher gehenden Eingriffe auf das Individuum durch hygienische und antiepidemische Maßnahmen sowie die Medizingesetzgebung verstärkt. Auch die Professionalisierung der Ärzteschaft ging gleichzeitig mit der Disziplinierung der Bevölkerung einher, die ein zahlenmäßiges Ungleichgewicht zwischen Ärzten und der Bevölkerung (also den Herrschenden und den Beherrschten) hervorbrachte.35 Die sukzessive Medikalisierung der Gesellschaft führte somit nicht nur zur besseren medizinischen Versorgung der Bevölkerung, sondern strebte auch eine Veränderung des sozialen Verhaltens an, das nach gesundheitsförderlichen oder -schädlichen Aspekten kategorisiert wurde:

Der Umgang mit dem eigenen Körper wurde gesellschaftlich normiert und kontrolliert und die Einhaltung der Normen konnte als Gradmesser sozialer Integration und ‚Zivilisierung‘ gelten.36

Auf diese Weise wurde das Verhältnis zwischen Staat, Ärzteschaft und Bevölkerung neu definiert. Dazu trug auch die veränderte Sichtweise von Krankheiten bei, da mit Hilfe des Mikroskops und der Bakteriologie die Ursachen der Epidemien stärker ins Zentrum der Diskurse rückten. Nachdem das Individuum als Träger von Bakterien erkannt worden war, (re-)orientierte sich der Staat im Rahmen der Gesundheitspolitik hin auf den Einzelnen. Nun galt es, durch staatliche Eingriffe den Menschen an der Verbreitung der Bakterien wie etwa Zwangsimpfungen zu hin ← 22 | 23 → dem.37 Die medizinische Modernisierung im westlichen Europa beruht im Allgemeinen auf vielen Gemeinsamkeiten.38 Entsprechend wurde in allen industrialisierten Ländern zunächst der Seuchenschutz initiiert, eine Gesundheitsverwaltung und medizinische Infrastruktur aufgebaut sowie die Professionalisierung und Hierarchisierung des medizinischen Personals vorangetrieben. So kam es im 19. Jahrhundert in Deutschland, Frankreich und Großbritannien zu einem steigenden Einfluss der Bakteriologie, zum vermehrten Bau von Kliniken, aber auch zur (Re-)Definition von Volkskrankheiten. Darüber hinaus wurden die staatlichen Bestrebungen, die sanitäre Verhaltensweise der Bevölkerung flächendeckend zu verändern, von Hygienikern zum Programm erhoben.39

Die eugenisch und utilitaristisch motivierte Vorgehensweise der Ärzteschaft sowie die staatlichen Bemühungen zur Lenkung des Gesundheitszustandes zeugen u. a. von den Machtmechanismen der Medizin. Bereits ab dem 18. Jahrhundert wurden Versuche unternommen, sich diesen Kontrollprozessen zu entziehen, was nicht nur zu einer zunehmenden Ablehnung der naturwissenschaftlichen Medizin führte, sondern auch zu einem starken medizinischen Dissens40 in der Bevölkerung. Der damit einher gehende Widerstand gegenüber (Präventiv)Maßnahmen wie der Vakzination, führte u. a. zu einer stärkeren Anlehnung an die Volksmedizin. Besonders im 19. Jahrhundert evozierte die ärztliche und staatliche Machterweiterung Resistenz und Missbilligung, was anhand der Gründungen von „Anti-Vaccination Societies“41 in Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika ersichtlich wird. So wurde die Ausdehnung der staatlichen und ärztlichen Einflussgebiete kritisiert, weshalb diese Gesellschaften nicht nur die Notwendigkeit und Harmlosigkeit von (Pocken-)Impfungen in Frage stellten, son ← 23 | 24 → dern die Immunisierung bewusst verweigerten. Die beabsichtigten Veränderungen des Hygieneverhaltens oder Einwirkungen in das Privatleben zeichneten sich in allen Bereichen des Gesundheitswesens deutlich ab. Ihre Realisierung und Effizienz war je nach Problemfeld unterschiedlich, folglich gestaltete sich der Umgang mit Pocken weitaus einfacher als beispielsweise mit Prostitution.

Aus staatlicher Perspektive stellten insbesondere Geschlechtskrankheiten nicht nur ein Gesundheitsrisiko für Soldaten dar, sondern symbolisierten eine Gefahr für die natürliche Ordnung42 im Staat. Sowohl in Kriegsals auch Friedensperioden galt die Prostitution als ein Problem, das die Gesellschaft moralisch und gesundheitlich schwächte. Unter dem Einfluss eugenischer und rassistischer Diskurse verbreitete sich die Angst vor einer durch venerische Krankheiten verursachten Degeneration’ der Gesellschaft. Aus diesem Grund bemühte sich der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts um die Isolation der Prostituierten von der restlichen Bevölkerung, auch, um dieses Gewerbe leichter kontrollieren zu können. Die Maßnahmen basierten auf unzähligen Gesetzen zur Regelung der Prostitution, die je nach Land, Erfahrungen, Traditionen sowie politischen Umständen variierten. Während sich Großbritannien beispielsweise auf die militärischen Stützpunkte in den Kolonialgebieten konzentrierte, gingen die Regelungen in Frankreich viel weiter, indem Frauen nur in kontrollierten Bordellen (maisons de tolérance) arbeiten durften, wo sie medizinisch untersucht, und wenn notwendig, zwangsweise behandelt wurden. Damit sollten sie vor allem von den Straßen ferngehalten werden.43

Die Frage nach der Wirksamkeit der Bekämpfungs- und Präventivmaßnahmen, aber auch der Sanktionen lässt sich nur durch einen genauen Blick auf die Vorgehensweise der jeweiligen Länder beantworten. Es gilt den zeitgenössischen Konsens festzuhalten, wonach die Existenz von Nationalstaaten u. a. von einem organisierten Gesundheitssystem abhängig sei. Angesichts der häufigen Seuchenausbrüche, aber auch der sogenannten Zivilisationskrankheiten dominierte die Angst vor einem körperlichen und geistigen Verfall der Bevölkerung. Dies war ein ausschlaggebender Faktor für die zunehmend größeren Interventionen ins ← 24 | 25 → Leben der Betroffenen, denn die Verbesserung der prekären Lebens- und Arbeitsverhältnisse war auch im staatlichen Interesse.

3. Quellenlage und Forschungsstand

Die Analyse der gesundheitspolitischen Entwicklungsprozesse sowie der damit einher gehenden sozialen Kontrolle in Serbien erfolgt in erster Linie anhand zeitgenössischer medizinischer Zeitschriften, Ärzteberichte und Aufklärungsbücher. Solche wurden erstmals in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zunehmend publiziert und ermöglichen einen Einblick in den Umgang des Staates sowie der Ärzteschaft mit damaligen Gesundheitsproblemen. Sie stellten darüber hinaus das Hauptkommunikationsmittel innerhalb des serbischen Ärztekaders dar, der darin sämtliche Probleme und Fortschritte im Gesundheitswesen diskutierte. Mit Hilfe dieser Publikationsorgane lassen sich gesundheitspolitische Diskurse und Kampagnen rekonstruieren, auch reflektieren sie die Effizienz und Auswirkung von Gesetzen, Verordnungen und Informationsblättern. Die Analyse von serbischen medizinischen Zeitschriften ist somit für den Themenbereich des Sanitätswesens unerlässlich. Ihr Inhalt ist für die Ergründung des Gesundheitssystems essenziell, zumal darin sanitäre Konzepte, Direktiven, Sanktionsmaßnahmen, ärztliche Kongress- und Tagungsprotokolle, Gesetzesvorschläge, Statistiken und Diskurse enthalten sind.

Zu den wichtigsten medizinischen Zeitschriften gehören das Publikationsorgan der serbischen Ärztegesellschaft, „Srpski arhiv za celokupno lekarstvo“44, das dazugehörige bevölkerungsorientierte Beilagenblatt „Narodno zdravlje. Lekarske pouke narodu“45 sowie die von der Sanitätsabteilung herausgegebene Schrift „Narodno zdravlje“.46 Darüber ← 25 | 26 → hinaus ist die von der „Gesellschaft zum Schutz der Volksgesundheit“ („Društvo za čuvanje narodnog zdravlja“) publizierte Zeitschrift „Zdravlje. Lekarske pouke o zdravlju i bolesti“47 von gleicher Bedeutung für die Erforschung der nationalen Gesundheitspolitik. Alle vier Fachblätter beschäftigen sich mit den gleichen Themenfeldern, doch aus unterschiedlicher Perspektive und für verschiedene Zielgruppen. „Das serbische Archiv für die gesamte Ärzteschaft“ war seit 1874 ein Blatt von Ärzten für Ärzte und konzentrierte sich primär auf Gesetze, die Arbeit der medizinischen Gesellschaften im Land und in beträchtlichem Ausmaß auf die ausländische Fachliteratur. Die einschlägige Beilage „Volksgesundheit. Ärztliche Belehrungen für das Volk“ hingegen war auf die gesundheitlichen Probleme der Bevölkerung ausgerichtet und enthielt seit 1896, wie der Titel verdeutlicht, Ratschläge für den Umgang mit Krankheiten. Bereits 16 Jahre zuvor gab der serbische Hygieniker Milan Jovanović-Batut die Zeitschrift „Gesundheit. Ärztliche Hinweise zur Gesundheit und Krankheit“ heraus, mit welcher er gleichermaßen versuchte, den Menschen hygienisch-medizinisches Wissen zu vermitteln. Im Gegensatz dazu richtete sich die vom Innenministerium initiierte Wochenzeitschrift „Volksgesundheit“ seit 1881 ausschließlich an die Ärzteschaft, die darin über neueste Verordnungen und wissenschaftliche Erkenntnisse informiert wurde.

Für die Untersuchung des serbischen Gesundheitssystems werden darüber hinaus „Aufklärungsbücher“ herangezogen und auf ihre gesellschaftliche Wirkung hin überprüft. Gemeinsam mit den Ärztezeitschriften dienen die informativen Broschüren als primäre Quellen, welche nicht nur die größten Defizite im Gesundheitssystem aufzeigen, sondern auch ihre Bekämpfungsmaßnahmen. Die umfangreiche populärwissenschaftliche Literatur umfasste vorwiegend die Themenbereiche der Kindererziehung48, Ehe und Geburt49, Epidemiebekämpfung50 sowie der ← 26 | 27 → Aufrechterhaltung der Gesundheit.51 Die zahlreichen „Gesundheitsbücher“ wurden mit der Intention publiziert, der Bevölkerung bei der Bewältigung von Krankheiten zu helfen, und ermöglichen daher einen guten Einblick in die größten gesundheitlichen Leiden der Menschen sowie die Hygienisierungsbestrebungen des Staates. So sollte mit der Reihe „Bücher fürs Volk“ („Knjige za narod“)52 anhand von Lesebüchern („čitanke, bukvice“)53 ein stärkeres hygienisches und medizinisches Bewusstsein in der Bevölkerung verankert werden.

Eine kritische Aufarbeitung des Themenkomplexes „Gesundheitswesen und soziale Kontrolle“ erfolgt des Weiteren durch die Untersuchung der verfügbaren Dokumente des serbischen Staatsarchivs („Arhiv Srbije“), die u. a. Einblicke in die Problembereiche des Gesundheitswesens ermöglichen, aber auch vom Stellenwert und Ausmaß der medizinischen Versorgungsstruktur zeugen. Die Akten der Sanitätsabteilung54, ← 27 | 28 → des Staatsrates („državni savet“)55 und der Sammlung „Mita Petrovic“56 verdeutlichen die staatlichen Bemühungen und Reformbestrebungen in unterschiedlichen Bereichen des Gesundheitswesens. Die wenig erhaltenen Archivmaterialien umfassen außerdem den Umgang mit Medizinstipendiaten, den Aufbau von Quarantänen, die Einstellung diplomierter medizinischer Fachkräfte, die Verdrängung volksmedizinischer Heiler/innen sowie die Errichtung erster gesundheitlicher Institutionen. Da aber die Dokumente der Sanitätsabteilung sehr lückenhaft sind, werden die daraus verwendeten Materialien nur ergänzend zu den zeitgenössischen publizierten Quellen herangezogen. Der prekäre Zustand der Sanitätsakten ist 1951 wie folgt beschrieben worden:

Details

Seiten
486
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653043440
ISBN (ePUB)
9783653992212
ISBN (MOBI)
9783653992205
ISBN (Hardcover)
9783631647233
DOI
10.3726/978-3-653-04344-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (März)
Schlagworte
Nationale Gesundheitspolitik Quarantäne staatliche Interventionsmechanismen: Medikalisierung Geschlechtskrankheiten Gesundheitsaufklärung Hygienisierung Epidemiebekämpfung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 486 S., 3 s/w Abb., 7 Tab.

Biographische Angaben

Indira Durakovic (Autor:in)

Indira Duraković studierte Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung an der Universität Graz und promovierte dort am Institut für Geschichte. Zurzeit lehrt sie an der Pädagogischen Hochschule Steiermark.

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Titel: Serbien und das Modernisierungsproblem
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