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Vielfalt des Übersetzens

von Peter Colliander (Band-Herausgeber:in) Doris Hansen (Band-Herausgeber:in)
©2014 Sammelband 185 Seiten
Reihe: Translinguae, Band 3

Zusammenfassung

Die Beiträge thematisieren die unterschiedlichsten Aspekte des Übersetzens und schlagen Brücken zwischen Theorie und Praxis. Bei der Zusammenstellung der Beiträge lag den Herausgebern, die selbst erfahrene Übersetzer sind, daran zu demonstrieren, wie viele und wie unterschiedliche Faktoren beim Übersetzen eine Rolle spielen. Hierbei ist ihnen wichtig, diese Aspekte vor dem Hintergrund der Textsorte und anderer Charakteristika des zu übersetzenden Textes zu behandeln. So sind sowohl literarisches Übersetzen als auch das Übersetzen von Fachtexten vertreten. Dabei ist Deutsch entweder als Ausgangs- oder als Zielsprache beteiligt, als zweite Sprache sind Latein, Portugiesisch, Polnisch, Türkisch und Dänisch vertreten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Vorwort
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • „Smørrebrød … das ist doch ’was Schwedisches?!“ Eine Studie zu deutsch-dänischen Heterostereotypen: Andreas Fischnaller
  • Skoposadäquates literarisches Übersetzen. Einige Bemerkungen zur Freiheit des Translators: Zehra Gülmüş
  • Übersetzen von Rechtstexten am Beispiel Polnisch-Deutsch: Das Gesetz als übersetzerische Herausforderung: Monika Kisiel
  • Mentales Handeln im Spiegel sprachlicher Äußerung Eine nichtübertragbare Textpassage in Caesars „Gallischem Krieg“: Ursula Offermann
  • Die Übersetzung der deutschen Modalpartikeln ins Portugiesische an einem literarischen Beispiel: Daniela Pawlowski

← 8 | 9 → „Smørrebrød … das ist doch ’was Schwedisches?!“
Eine Studie zu deutsch-dänischen Heterostereotypen*

Andreas Fischnaller

1. Einleitung: smørrebrød

„Sag mal ‚smørrebrød‘!“ Diesen Satz haben wahrscheinlich schon viele gehört, die erzählen, dass sie Schwedisch lernen. Zugegebenermaßen ist mir erst in einem Gespräch mit einer Kommilitonin, die diese Anekdote erwähnte, aufgefallen, dass es eigentlich völlig unpassend ist, diese Aufforderung an einen Lerner der schwedischen Sprache zu richten. Bei smørrebrød handelt es sich nämlich keinesfalls um etwas Schwedisches, sondern um eine kulinarische Spezialität der dänischen Küche (vgl. Nothardt 1960: 25 f. oder Henningsen 2009: 22 für eine ausführliche Beschreibung).1 Da mir auf Nachfrage auch andere Kommilitonen erzählten und es mir selbst auch schon widerfuhr, dass man gebeten wurde, das Wort smørrebrød zu sagen, stellte sich die Frage, warum dieses Wort mit ‚Schweden‘ beziehungsweise ‚Schwedisch‘ assoziiert wird und nicht mit dem eigentlichen Ursprungsland, denn für Henningsen ist „Dänemark […] wegen seines Smørrebrød jede Reise wert“, er spricht sogar von einer „nationale[n] Unverwechselbarkeit“ (Henningsen 2009: 22. Hervorhebung AF). Diese Frage führte weiter zu der Überlegung, welches Bild sich die Deutschen wohl von Dänemark machen und ob sie überhaupt eines haben.

So ist Schweden als größtes Land Skandinaviens in Deutschland viel präsenter als Dänemark, was nicht zuletzt auf diverse wirtschaftliche Exportgüter wie Autos (Volvo, Scania und früher auch Saab) oder Möbel (IKEA), aber auch auf kulturelle ‚Exporte‘ wie die Bilder von Carl Larsson und Anders Zorn oder die Literatur von August Strindberg, Selma Lagerlöf, Astrid Lindgren und in neuerer Zeit die Krimis von Henning Mankell und Håkan Nesser ← 9 | 10 → zurückzuführen sein könnte. Auch der „Königin-Silvia-Effekt“ dürfte nicht zu unterschätzen sein.

Henningsen führt für Dänemark eine entsprechende Liste an und nennt etwa Søren Kierkegaard, Lego, die Mohammed-Karikaturen, Karen Blixen und anderes (Henningsen 2009: 20), wobei man beispielsweise noch die Märchen von Hans Christian Andersen und die Produkte von Bang & Olufsen hinzufügen könnte. Für Henningsen ist jedoch etwas anderes das wichtigste dänische Produkt, „das wirklich weltweit gekannt und geschätzt wird“ (Henningsen 2009: 21), nämlich Bier von Tuborg oder Carlsberg. Da es jedoch genau dieses Produkt im süddeutschen Raum schwer haben dürfte, einen Absatzmarkt zu finden, ist die Frage nach dem Bild, das sich die Menschen im Raum München von Dänemark machen, interessant.

Daher wird im Folgenden auf Grundlage einer empirischen Untersuchung das Dänemarkbild der Bewohner des Raums München dargestellt. Zunächst sollen jedoch verschiedene Typen von Fremdbildern definiert und voneinander abgegrenzt werden, um danach kurz die (spärliche) Literatur zum Thema dänische Auto- und Heterostereotype vorzustellen. Nach einer Erläuterung des Untersuchungsdesigns und der verwendeten Methoden werden dann die Ergebnisse der Untersuchungen vorgestellt und diskutiert.

2. Typen von Fremdbildern

Fremdbilder sind soziale Kategorien, also „Gruppen von Menschen, die im sozialen Miteinander häufig zusammengefasst gesehen, diskutiert und bewertet werden“ (Klauer 2008: 23). Soziale Kategorien können sehr unterschiedliche Grundlagen für die Zusammenfassung haben, so nennt Klauer (ebd.) zum Beispiel äußere Merkmale (Hautfarbe, Geschlecht) oder geteilte Überzeugungen bezüglich Religion oder Politik. Aber auch die Nationalität kann Grundlage einer sozialen Kategorisierung sein.

Allgemein dienen die sozialen Kategorien und die Einordnung von Personen in diese Kategorien der Strukturierung und Vereinfachung der durch das Individuum wahrgenommenen sozialen Umwelt. Sie haben Einfluss darauf, „wie die kategorisierten Personen wahrgenommen, beurteilt und behandelt werden“ (ebd.).

Die soziale Kategorisierung nach Nationalität kann verschiedene Funktionen und Ausprägungen haben und ist, wie jede soziale Kategorie, mit spezifischen Erwartungen an die Gruppenmitglieder bezüglich ihrer Eigenschaften ← 10 | 11 → und typischen Verhaltensweisen verbunden (vgl. ebd.). Diese Erwartungen sind „sozial geteilte Wissensstrukturen“ (ebd.), die mit jeweils unterschiedlichen Termini wie beispielsweise Stereotyp oder Vorurteil, in ihrer extremsten Form Feindbild, benannt werden. Die Funktionen und Dimensionen der ersten beiden2 Begriffe sollen im Folgenden vorgestellt und – wenn möglich – voneinander abgegrenzt werden, um eine entsprechende Terminologie für die Ergebnisse der Studie zur Verfügung zu haben.

2.1 Stereotyp

Stereotyp bezeichnete ursprünglich den feststehenden Schriftsatz (gr. stereós „starr, fest, standhaft“ und gr. týpos „Gestalt“) im Buchdruck (vgl. Kluge 2002: 881). Der Begriff wurde 1922 von Walter Lippmann in seinem Buch Public Opinion in die Sozialwissenschaften übernommen (ebd.). Nach Lippmann sind Stereotypensysteme

an ordered, more or less consistent picture of the world, to which our habits, our tastes, our capacities, our comforts and our hopes have adjusted themselves. They may not be a complete picture of the world, but they are a picture of a possible world to which we are adapted. In that world people and things have their well-known places, and do certain expected things. (Lippmann 1922)

Für ihn prägt und schafft die eigene Kultur jeweils die zur Verfügung stehenden Stereotype, die das Individuum zur Komplexitätsreduktion verwendet:

In the great blooming, buzzing confusion of the outer world we pick out what our culture has already defined for us, and we tend to perceive that which we have picked out in the form stereotyped for us by our culture. (ebd.)

Stangor/Schaller sehen in Lippmanns Gedanken eine Beschränkung auf jeweils individuelle Stereotype3 und zeigen zwei komplementäre Perspektiven auf Stereotype auf:

← 11 | 12 → From one perspective stereotypes are represented within the mind of the individual person. From the other perspective, stereotypes are represented as part of the social fabric of a society, shared by people within that culture. (Stangor/Schaller 2000: 64)

Die individuelle Perspektive geht dabei davon aus, dass Stereotype durch Wahrnehmung der Umwelt gelernt werden und, als kognitive Kategorien, Auswirkungen darauf haben, welche Informationen über eine soziale Gruppe ausgesucht, beachtet und erinnert werden. Außerdem wirken sie sich auf das soziale Verhalten aus (ebd.: 65). Der Erwerb von Stereotypen beinhaltet – ähnlich dem allgemeinen Erwerb von Wissen – Aufmerksamkeitszuwendung, Wiederholung und Integration von Informationen, wobei Kontakt mit der Fremdgruppe die beste Möglichkeit bietet, Stereotype zu erwerben und zu ändern (vgl. ebd.: 66). Auch der Einfluss sogenannter indirekter Quellen, etwa der Eltern, wird nicht ausgeschlossen (vgl. ebd.). Die kognitive Repräsentationsform der Informationen über soziale Gruppen im Individuum ist nicht sicher, Stangor/Schaller (ebd.: 66 ff.) nennen drei4 Möglichkeiten, Gruppenschemata, Gruppenprototypen oder Exemplare.

Dagegen sind kulturell vermittelte, auch als „consensual“ bezeichnete, Stereotype Teil des gesamten kollektiven Wissens einer Gesellschaft, wobei hier die schon zuvor genannten indirekten Quellen im Mittelpunkt stehen, also die Vermittlung von Stereotypen durch beispielsweise „parents, peers, teachers, political and religious leaders, and the mass media“ (ebd.: 68), wodurch die Sprache als Repräsentation sozialer Gruppen in den Fokus rückt. Die Verbreitung sozialer Stereotype geschieht dann in großem Umfang durch die Massenmedien. Da die Sprache an gewisse Normen und Rollen einer sozialen Gruppe gebunden ist, sind diese Normen „a social system through which stereotypes are represented and perpetuated across individuals, across generations and across time.“ (ebd.: 69).

Weiter beschreiben Hahn/Hahn (2002) den Begriff Stereotyp als

eine Aussage […], und zwar ein (negatives oder positives) Werturteil, das gemeinhin von einer starken Überzeugung getragen wird […]. Es wird meist von Menschen angewandt, und zwar auf menschliche Gruppen, die unterschiedlich definiert sein ← 12 | 13 → können: rassisch, ethnisch, national, sozial, politisch, religiös oder konfessionell, beruflich usw. (ebd.: 21)

Außerdem betonen Hahn/Hahn die dominierende emotionale Komponente von Stereotypen, sie werden „emotional durch das soziale Milieu vermittelt“ (ebd.: 22), was wiederum zur Resistenz gegenüber persönlichen Erfahrungen und rationaler Kritik führt (ebd.), sie sind somit nicht hinterfragbar oder falsifizierbar, was ihren typischen apriorischen Charakter ausmacht (ebd.: 25). Eigene Erfahrungen führen eben nicht zu einer Modifikation von Stereotypen, sondern tragen vielmehr zur Bildung von Substereotypen bei. Der Prozess der Bildung von Substereotypen wird als subtyping bezeichnet, was sich definiert als „the process by which group members who disconfirm, or are at odds with, the group stereotype are mentally clustered together and essentially set aside as ‚exceptions to the rule‘“ (Maurer/Park/Rothbart 1995: 812).

Grundsätzlich unterscheiden Hahn/Hahn (2002: 28) wie auch sonst in der Sozialpsychologie üblich zwischen Autostereotypen (‚welches Bild habe ich von mir selbst?‘) und Heterostereotypen (‚welches Bild habe ich von den anderen?‘), die auch doppelt auftreten können (d. h. eine Gruppe denkt etwas über sich selbst und eine andere Gruppe denkt ebenso über die erste). Außerdem zeigen sie die „wechselseitige Bedingtheit“ von Auto- und Heterostereotyp auf: „Fast jedesmal, wenn ein negatives Heterostereotyp benutzt wird, wird gleichzeitig das positive Autostereotyp mitgedacht.“ (Hahn/Hahn 2002: 31) Dies gilt in ähnlicher Weise auch im Fall eines negativen Autostereotyps, wobei die Nennung des positiven Heterostereotyps eher einen appellativen und weniger einen affirmativen Charakter hat, es wird eher beklagt, dass man nicht so sei wie die andere Gruppe (vgl. ebd.: 32).5 Mit diesem Verhältnis der beiden Arten von Stereotypen begründen Hahn/Hahn (2002) die integrative und ausgrenzende Funktion von Stereotypen und beziehen so, wenn auch nicht explizit, die Theorie sozialer Identität nach Tajfel/Turner (1979) und all ihre Konsequenzen für das Inter- und Intragruppenverhalten mit ein. Nach dieser Theorie streben Individuen danach, eine positive soziale Identität zu erreichen oder zu behalten, welche zum größten Teil auf „comparisons that can be made between the in-group and some relevant out-groups“ (ebd.: 40) basiert. Nach ← 13 | 14 → Tajfel/Turner (1979: 40 f.) führt dieser Vergleich dazu, dass man versucht, sich von anderen Gruppen abzugrenzen, was nur geschehen kann, wenn erstens die Individuen ihre Gruppenmitgliedschaft verinnerlicht haben, zweitens die sozialen Bedingungen gegeben sind, die eine Auswahl und Evaluation der relevanten relationalen Eigenschaften zwischen den Gruppen erlauben, und drittens, dass die Fremdgruppe (out-group) als relevante Vergleichsgruppe für die eigene wahrgenommen wird. Diese Abgrenzung von anderen Gruppen dient dazu, die Überlegenheit der eigenen hervorzuheben: „The aim of differentiation is to maintain or achieve superiority over an out-group on some dimensions“ (ebd.: 41).

Hahn/Hahn (2002: 35) sind außerdem der Meinung, dass Stereotype und vor allem das „Teilhaben“ am Stereotypenkonsens wichtig für den Einzelnen sei. Sollte er ihn nicht einhalten, droht ihm „die Gefahr der Entfremdung“ (ebd.), eine Eigenheit, die in extremerer Ausprägung auch bei Feindbildern zu beobachten ist.

Eine kurze, aber dennoch umfangreiche Definition bietet Eckes (2008). Nach ihm sind Stereotype, in Anlehnung an Stangor/Schaller, „kognitive Strukturen, die sozial geteiltes Wissen über die charakteristischen Merkmale von Angehörigen sozialer Kategorien enthalten“ (ebd.: 97). Seine Definition beinhaltet somit sowohl die individuelle Perspektive (kognitive Strukturen) als auch die kulturelle (sozial geteiltes Wissen). Außerdem weist er auf den Unterschied zwischen Stereotyp und Stereotypisierung hin, wobei unter Letzterem „die Anwendung stereotypengestützten Wissens auf einzelne Angehörige einer sozialen Kategorie oder Gruppe verstanden [wird]“ (ebd.: 97).

In der Literatur zum Thema Stereotype wird immer wieder auch die Frage nach dem Wahrheitsgehalt aufgeworfen, wie etwa bei Flohr (1991). So hätten empirische Untersuchungen gezeigt, dass Stereotype „häufig keinen Bezug zur Realität besitzen“ (ebd.: 23 f.). Sicherlich ist auch diese Frage interessant, aber es ist nicht notwendig, sie zu stellen, da der Wahrheitsgehalt irrelevant für die Wirkung ist, die von Stereotypen ausgeht, denn sie

beeinflussen […] die Informationsverarbeitung, indem sie Einfluss auf Prozesse der Aufmerksamkeit, auf die Interpretation von Informationen, auf das Gedächtnis sowie auf Schlussfolgerungsprozesse nehmen. (Petersen/Six 2008: 22)

2.2 Vorurteile

Die gängigste Definition des Begriffs Vorurteil liefert Allport (1954) in seinem Buch The Nature of Prejudice. Nach ihm sind Vorurteile

← 14 | 15 → an avertive or hostile attitude toward a person who belongs to a group, simply because he belongs to that group, and is therefore presumed to have the objectionable qualities ascribed to the group. (Allport 1954: 22)

Das Vorurteil ist nach ihm mithin ein Produkt von Überkategorisierungen bzw. Generalisierungen durch den Menschen, wobei jedoch nicht jede dieser Generalisierungen ein Vorurteil darstellt, es kann sich dabei auch um falsche Vorstellungen („misconceptions“) handeln (ebd.: 23). Außerdem sei zu unterscheiden zwischen „prejudice“ – dem ‚normalen‘ Vorurteil – und „prejudgment“ (ebd.), was z. B. Flohr (1991) wohl nach der deutschen Übersetzung von Allports Buch als „Vorausurteil“ (ebd.: 26) wiedergibt. Der Unterschied ist, dass ein „prejudgment“ diskutiert und berichtigt werden kann, und zwar ohne emotionalen Widerstand (vgl. Allport 1954: 23), Vorausurteile werden erst dann Vorurteile, „if they are not reversible when exposed to new knowledge“ (ebd.). Davon ausgehend gelangt Allport zu einer Definition ethnischer Vorurteile:

Ethnic prejudice is an antipathy based upon a faulty and inflexible generalization. It may be felt or expressed. It may be directed toward a group as a whole, or toward an individual because he is a member of that group. (ebd.)

Die Arten, wie Vorurteile zum Ausdruck kommen, sind vielfältig. Hier bietet Allport eine Liste von Möglichkeiten: „Antilocution“, „Avoidance“, „Discrimination“, „Physical Attack“, „Extermination“ (ebd.: 25 f.). Wichtig zu betonen ist schon an dieser Stelle, dass Vorurteile, dem Alltagssprachgebrauch angepasst, immer negativer Natur sind (jedenfalls „begrenzt die Mehrheit der Autoren“ (Flohr, 1991, 27) den Begriff auf die negative Seite), was das größte Unterscheidungsmerkmal gegenüber Stereotypen ist.6

Nach neuerer Meinung (vgl. Degner/Wentura 2008: 150) entspricht diese Definition dem „expliziten Vorurteil“, welches sich „auf persönliche Überzeugungen und Werte als Gründe von Handlungen einer Person“ (ebd.) bezieht.

Beim „impliziten Vorurteil“ geht es, ähnlich der individuellen Perspektive auf Stereotype, um die mentale Repräsentation von Konzepten.

Das bedeutet in etwa, dass ein Modell unseres Gedächtnisses stets so etwas wie identifizierbare „Einträge“ hat, die jeweils ein „Objekt“ der äußeren Welt in seinen ← 15 | 16 → Eigenschaften abbilden, und dass diese Einträge durch entsprechende „Abrufschlüssel“ (das Objekt selber, der Name etc.) aus einem passiven Zustand in einen aktiven Zustand überführt werden, der sie potentiell verhaltenswirksam werden lässt. Wenn eine Komponente eines solchen Eintrags die negative Valenz des Objektes repräsentiert und das repräsentierte „Objekt“ eine soziale Gruppe ist, so bezeichnen dies manche als ein implizites „Vorurteil“. (ebd.: 150 f.)

Der wichtigste Unterschied ist, dass explizite Vorurteile dem Individuum bewusst sind (und somit auch direkt z. B. per Fragebogen gemessen werden können) und „auf reflektierten und kognitiv zugänglichen Werthaltungen beruhen“ (Petersen/Six 2008: 110), während implizite Vorurteile eher „automatisch aktivierte affektive Reaktionen“ (ebd.) sind, die durch das jeweilige Objekt hervorgerufen werden.

In der Vorurteilsforschung stehen insbesondere Rassismus und Sexismus im Vordergrund, in neuerer Zeit auch altersbezogene Vorurteile oder Vorurteile aufgrund psychischer oder physischer Erkrankung oder Behinderung (vgl. ebd.).

Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, ist die Unterscheidung „Stereotyp“ ↔ „Vorurteil“ noch relativ gut möglich (Stereotype können positiv oder negativ sein, Vorurteile nur negativ), die Unterscheidung „Vorurteil“ ↔ „Feindbild“ fällt schwerer; das Feindbild ist gekennzeichnet durch eine extrem negative Einstellung (vgl. Flohr 1991: 29). Hier stellt sich jedoch die Frage, wenn man Allports (1954: 25 f.) Äußerungsformen von Vorurteilen mit einbezieht, wie negativ eine Einstellung werden soll oder kann, damit man zwischen Vorurteil und Feindbild unterscheiden kann (was sollte die Steigerung von „Extermination“ (ebd.: 26) sein?). Auch die Funktionen bieten kein ausreichendes Unterscheidungskriterium, man könnte nur sagen, dass diese konkreter werden, je negativer die Einstellung wird. So dienen Stereotype, wie auch Feindbilder, der Identitätsbildung, jedoch haben Feindbilder vor allem politisch konkretere Funktionen. Nach Flohr (1991) wären hier etwa die Aufrüstung, Kriegsführung, Systemstabilisierung und die Diffamierung innenpolitischer Gegner zu nennen (ebd.: 125 ff.). Diese Funktionen, wie auch die Merkmale von Feindbildern, etwa die Entmenschlichung der out-group, die Verweigerung jeglicher Empathie, das extreme Gruppendenken, das Nullsummendenken und die Spiegelbildlichkeit (vgl. Sommer, 2004: 305 ff.) machen deutlich, dass diese extremste Form eines Fremdbildes wohl irrelevant für diese Untersuchung sein dürfte, da solche Einstellungen im europäischen Kontext wahrscheinlich kaum mehr vorzufinden sein ← 16 | 17 → dürften.7 Für eine detaillierte Beschreibung von Feindbildern sei hier nur auf die Literatur verwiesen, insbesondere auf Flohr (1991) und Sommer (2004), einen interessanten Ansatz zur Erklärung der Stabilität von Feindbildern bieten Spillmann/Spillmann (1997).

Ich habe das Verhältnis von Stereotyp – Vorurteil – Feindbild in der folgenden Grafik veranschaulicht:

1945.jpg

Stereotype haben eine individuelle und kulturell geteilte Dimension. Man unterteilt sie in Auto- und Heterostereotyp, die sich gegenseitig bedingen. So haben positive Autostereotype und negative Heterostereotype affirmativen, negative Autostereotype und positive Heterostereotype eher appellativen Charakter.

← 17 | 18 → Negative Heterostereotype und somit indirekt auch positive Autostereotype führen zu Vorverurteilungen (als neues Hyperonym zu Allports Begriffen „prejudice“ und „prejudgment“). Ist diese Vorverurteilung veränderbar, handelt es sich um ein Vorausurteil, ist dies nicht der Fall, um ein Vorurteil. So haben Vorurteile wie Stereotype apriorischen Charakter.

Ist dem Individuum das Vorurteil bewusst und kognitiv direkt zugänglich, kann man von einem expliziten Vorurteil sprechen, ist dies nicht der Fall und beeinflusst das Vorurteil unbewusst das Handeln des Individuums, spricht man von einem impliziten Vorurteil.

Details

Seiten
185
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653042672
ISBN (ePUB)
9783653992618
ISBN (MOBI)
9783653992601
ISBN (Hardcover)
9783631647011
DOI
10.3726/978-3-653-04267-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
Interkulturalität Tabus Juristische Fachsprache Literarisches Übersetzen Übersetzungswissenschaft
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 185 S., 6 farb. Abb.

Biographische Angaben

Peter Colliander (Band-Herausgeber:in) Doris Hansen (Band-Herausgeber:in)

Peter Colliander studierte Germanistik, Doris Hansen Translationswissenschaft in Kopenhagen. Als Professoren an der Copenhagen Business School haben sie langjährige Erfahrung in Forschung und Lehre im Bereich des Deutschen als Fremdsprache, der dänisch-deutschen kontrastiven Linguistik und Kulturwissenschaft sowie der Translationswissenschaft.

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