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Gestalt und Gestaltung in interdisziplinärer Perspektive

von Ellen Aschermann (Band-Herausgeber:in) Margret Kaiser-El-Safti (Band-Herausgeber:in)
©2014 Sammelband 304 Seiten

Zusammenfassung

Die gestaltpsychologische Schule war ein Meilenstein innerhalb der Theoriebildung der deutschen und österreichischen Philosophie und empirischen Psychologie. Unterschiedliche Schulen folgten ihr nach. Der Einflussbereich der Theorie erstreckte sich ab den 1890er Jahren bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges auch auf angrenzende Disziplinen wie Musik-, Sprach- und Kunstwissenschaft. Bis heute wurde die Autorenschaft von Carl Stumpf und dessen erkenntnistheoretische Fundierung der Gestalt- und Ganzheitspsychologie noch wenig erforscht. Die Wiederbelebung der Lehre Stumpfs könnte hoch aktuelle Fragestellungen wie die nach dem Leib-Seele-Verhältnis vertiefen, aber auch erkenntnistheoretischen, lernpsychologischen und ästhetischen Fragen neue Anhaltspunkte und neuen Aufschwung verschaffen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Karl R. Popper und die Psychologie – Zwei frühe Schriften
  • Zwei Grundprobleme psychologischer Modellbildung
  • Ganzheiten als Fundament der Erkenntnis? Der Wiener Kreis und die Gestaltpsychologie
  • Repräsentation und Architektur des Psychischen. Eine Synthese der Gedanken Gustav Theodor Fechners und Carl Stumpfs zur (Auf-)Lösung des Leib-Seele-Problems
  • Carl Stumpf über den empirischen Ursprung des Substanzbegriffs
  • Gestaltwahrnehmung als Strukturbildung. Über die Wurzeln einer phänomenologischen Ästhetik in der Erkenntnislehre von Carl Stumpf.
  • Ganzheit und Erkenntnis: Zum Strukturbegriff bei Wilhelm Dilthey, Felix Krueger und William Stern
  • Wortphysiognomien. Ein Beitrag zur Gestaltlinguistik
  • Wie viel Gestaltung und Körperverankerung braucht die Begriffsentwicklung?
  • Die zergliederte Einheit. Aufschreibesystem und gestalttheoretischer Anspruch bei Carl Stumpf und Erich M. von Hornbostel
  • Zur Konzeption ‚musikalisches Hören’ in der Musiktheorie von Ernst Kurth.
  • Ist der Begriff der Gestalt bei Carl Stumpf mit dem Konzept der musikalischen Energie von Ernst Kurth vereinbar?
  • Erkenntnistheoretische Grundlagen der Gestalt- und Ganzheits psychologie in historischer Perspektive
  • Reihenübersicht

← 12 | 13 → Karl R. Popper und die Psychologie – Zwei frühe Schriften

Ellen Aschermann

Zusammenfassung

Karl Raimund Popper wandte sich schon zu einer Zeit, als er bei Karl Bühler über methodologische Probleme der Psychologie promovierte, erkenntnistheoretischen Fragen zu. Die Promotion dokumentiert ein besonderes Interesse an denkpsychologischen Reflexionen und deren Einordnung in einen biologisch-evolutionären Rahmen. Popper schenkt weniger der geisteswissenschaftlichen Verstehenspsychologie und der Berliner Gestaltpsychologie als vielmehr dem Verhaltensaspekt besondere Aufmerksamkeit und beruft sich zur Erklärung zweckhaften Verhaltens im Sinne von Erkennen einer Situation auf die Theorie der Komplexqualität nach Felix Krüger, erwähnt in diesem Kontext auch eine emotionale Beteiligung am Erkenntnisprozess. Neben Bühler, dessen Sprachtheorie lebenslang Bedeutung für Popper behielt, zog er die Arbeiten von Otto Selz zur Unterscheidung des vorwissenschaftlichen vom wissenchaftlichen Erkenntnisprozess heran. In Bezug auf Poppers spätere Theorie der Falsifaktionsmethode und der Trennung psychologischer und logischer Erkenntnisweisen könnte Selz zu dieser Zeit mehr Einfluss als Bühler auf Popper gewonnen haben.

Bemerkenswert ist, dass der junge Karl Popper für einen biologischen Standpunkt votiert, der dem Ansatz von Carl Stumpf nahe steht. In seiner letzten, mit John Eccles verfassten Arbeit Das Ich und sein Gehirn (1977) beruft Popper sich auf Carl Stumpf als „seinen Vorläufer“.

Abstract

Karl Raimund Popper already turned to epistemological questions while he was still studying for his doctorate on methodological problems of Psychology under the supervision of Karl Bühler. His thesis documents a special interest in deliberating on psychological reasoning and its classification in a biological evolutionary framework. Popper pays less attention to the comprehension psychology in the humanities and the Berlin Gestalt psychology, rather he focuses on the aspect of behavior and refers in his explanation for purposeful behavior in terms of recognizing a situation to Felix Krüger’s theory of ‘Komplexqualität’; he also mentions a participation of emotion in the process of recognition in this context. Apart from Bühler whose theory of language remained significant for Popper over the course of his entire life, Popper also turned to the work of Otto Selz on the differentiation between the process of recognition prior to science and the scientific process of recognition. Regarding Popper’s subsequent theory of the method of falsification and the separation of psychological and logical ways of recognition, maybe Selz influenced Popper more than Bühler did.

It is noteworthy that the young Karl Popper argues for a biological point of view which is somehow similar to the approach of Carl Stumpf. In his last work (Das Ich und sein Gehirn, 1977, together with John Eccles), Popper refers to Stumpf as his ‚forerunner’.

← 13 | 14 → 1 Einleitung

Karl Popper ist wohl jedem Psychologen als Begründer des kritischen Rationalismus vertraut, auf dessen Falsifikationsmethodologie die Hypothesentestung in der experimentellen Forschung fußt. Als zentrales Modell benutzt er dabei immer wieder die Physik und ihre Erkenntniswege als Beispiel für eine echte Wissenschaft, während er für die Psychologie nicht viel übrig hat.

Die zentrale Frage, wie Menschen zu wissenschaftlicher Erkenntnis gelangen, hat ihn auch schon in zwei frühen Arbeiten beschäftigt, die lange nicht veröffentlicht waren: Hier ist zunächst seine Dissertation von 1928 zu nennen, die er bei Karl Bühler in Wien unter dem Titel „Zur Methodenfrage der Denkpsychologie“ eingereichte. Bereits ein Jahr zuvor hatte Popper im Rahmen seiner Lehrerausbildung eine Abschlussarbeit mit dem Titel: „,Gewohnheit‘ und ,Gesetzerlebnis‘ in der Erziehung: eine pädagogisch-strukturpsychologische Monographie“ verfasst, die sich speziell mit Denkprozessen bei Kindern auseinandersetzt. Im Folgenden soll insbesondere anhand der Dissertation analysiert werden, wie Popper in seinen frühen Jahren psychologische Grundkonzepte verstand und welche methodischen Vorgehensweisen er hier benutzte und propagierte.

In seiner Autobiographie Ausgangspunkte beschreibt er (1979, S. 103), dass er sich von der Psychologie abgewandt habe, da nach seiner Einschätzung die Assoziationspsychologie (Locke, Berekley, Hume) nichts anders sei als „eine Übersetzung der aristotelischen Subjekt-Prädikat-Logik in psychologische Begriffe“ (S.104). Der Frage, welche Verbindungen und Kontinuitäten sich zwischen den von Popper zuvor rezipierten komplexpsychologischen Ansätzen und seinen späteren wissenschaftstheoretischen Überlegungen aufzeigen lassen, soll im Mittelpunkt dieses Artikel sehen.

2 Zur Methodenfrage der Denkpsychologie

Biographischer Hintergrund

Popper (geb. 1902, Vater Rechtsanwalt, assimilierte Juden, externe Matura, politisches Engagement in der sozialistischen Jugendbewegung und bei der roten Linke in Wien politisch aktiv) war zu Beginn seiner akademischen Ausbildung primär an pädagogischen (und auch schulreformerischen-politischen) Fragen interessiert und schloss zunächst 1924 eine Ausbildung an der Wiener Lehrerbildungsanstalt ab. Da anschließend keine Lehrerstelle verfügbar war, arbeitete er kurzeitig als Fürsorger für sozial gefährdete Kinder und begann 1925 am neu gegründeten Pädagogischen Institut der Stadt Wien zu studieren, das auch in ← 14 | 15 → einer lockeren Verbindung zur Universität stand Mit diesem Institut sollte die Reform der Grund- und Hauptschulen in Wien unterstützt und gefördert werden. Hier besuchte Popper auch die Vorlesungen von Karl Bühler, von dem er selbst berichtet, sehr viel gelernt zu haben (Popper, 1979).

Pädagogische Abschlussarbeit

Am Ende seiner Studienzeit am pädagogischen Institut verfasste Popper 1927 seine Abschlussarbeit, in der er das dogmatische Denken von Kindern konzeptuell und empirisch analysierte. Diese Arbeit wurde erst 2006 in seinen Gesammelten Werken veröffentlicht. Ter Hark (2004) berichtet, dass Popper hier analysiert, dass Kinder praktisch überall Regularitäten erwarten und nach ihnen suchen, selbst wenn es in einem bestimmten Bereich keine Regularitäten gibt. Sie behalten ihre Annahmen und Erwartungen bei, auch wenn diese sich als unangemessen herausstellen und die Kinder die Inadäquatheit der eigenen Annahmen eigentlich einsehen sollten. In vielen Fällen sei der Widerstand der Kinder gegen eine notwendige Modifikation ihrer Annahmen auf ihre „Angst vor dem Unvertrauten“ zurückzuführen.

Poppers Ziel war es, in dieser Arbeit zu verdeutlichen, wann in pädagogischen Kontexten die freie Lernaktivität von (jungen) Kindern zugunsten einer lehrergesteuerten Vermittlung von Inhalten einzuschränken sei, auch wenn das Ziel der Erziehung (ganz im Sinne der pädagogischen Reformbewegung) freie Selbstbestimmung sein müsste. Als relevante Merkmale diskutiert Popper dabei ungenügendes Wissen und die fehlende Methode, um kritische Konsequenzen zu ziehen. In dieser Arbeit unterscheidet Popper zum ersten Mal zwischen dogmatischem und freiem Denken: Freies Denken ist kritisches Denken, dogmatisches Denken ist unfrei. Freies Denken bedeutet das Denken ohne Vorurteile, die Beurteilung von Sachverhalten, ohne das Ergebnis der Beurteilung vorweg zu nehmen. Das kritische Denken versuche die zunächst unreflektiert hingenommen Grundsätzen in Frage zu ziehen, „um sie erst nach Bewährung, vor allem durch Erfahrung, aber auch durch Nachdenken, anzunehmen und anzuwenden“ (Popper, 1927/2006, S. 95). Hier schon schlägt Popper den Bogen zur Wissenschaftsgeschichte, in der dies „gewöhnlich der entscheidende Schritt nach vorne“ sei.

Betrachtet man Poppers Überlegungen von einem heutigen Standpunkt aus, so wird deutlich, dass er in seiner Arbeit davon ausgeht, dass einem kritischen Denken eine Phase des dogmatischen Denkens ontogenetisch (und auch phylogenetisch) vorausgehen muss. In dieser Phase werden zunächst Erwartungen geformt, anhand derer Fehlersuche und Fehlerausschluss erst möglich sind.

← 15 | 16 → Als Charakteristikum einer ernstzunehmenden empirischen Wissenschaft führt er weiter aus, dass eine Theorie nur auf induktivem Wege, also durch eine Abstraktion aus empirischen Sachverhalten gebildet werden darf (Popper 1927/2006, S. 97). Diese Vorstellung wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns entspricht ganz der psychologischen Methodologie seiner Zeit und enthält noch keine Hinweise auf seine späteren epistemologischen Überlegungen. (An dieser Stelle finden sich also noch keine unmittelbaren Hinweise auf eine Kritik an Humes induktiver Theorie der Erkenntnis.)

Dissertation

Nur ein Jahr nach Abschluss des Studiums am pädagogischen Institut legte Popper 1928 seine Dissertation mit dem Titel: „Zur Methodenfrage der Denkpsychologie“ vor. In der Einleitung formuliert Popper hier das Ziel, „die wichtigsten methodologischen Ergebnisse Bühlers auf die Denkpsychologie zu übertragen“ (S.V) und verweist außerdem auf eine „im Wesentlichen bereits abgeschlossene (empirische) denkpsychologische Untersuchung“, die den Anstoß zu der Dissertation gegeben habe und ihr auch zugrunde liege. Hier bezieht sich Popper offensichtlich auf seine Abschlussarbeit ein Jahr zuvor.

In der Dissertation geht Popper zunächst ausführlich auf Argumente gegen den „Physikalismus“ ein und verteidigt Bühlers pluralistische Methodologie, die dieser in seiner „Krise der Psychologie“ (1927) vorgestellt hatte. Anschließend betrachtet er die Denkpsychologie unter den drei von Bühler formulierten Aspekten des Verhaltens (Benehmens), der „objektiven geistigen Gebilde“ (Kultur) und des Erlebens (Wahrnehmung).

Bühler argumentiert in seiner Schrift, dass die drei großen Schulen der Psychologie, der Behaviorismus, der geisteswissenschaftliche Ansatz und die Psychoanalyse zu verschiedenen Bereichen und Fragestellungen wertvolle Erkenntnisse beisteuern, allerdings keine der Richtungen einen Anspruch auf ein Erklärungsmonopol für psychische Phänomene für sich erheben könnte. Diese Position will Popper nun auch für die Denkpsychologie belegen und dabei herausarbeiten, dass der Pluralismus der Aspekte sich als „eine im weitesten Sinne biologisch orientierte Methode begreifen lässt“ (S. 5). Hier geht es ihm auch darum, die kognitive Entwicklung des Kindes unter einem evolutionären Aspekt zu beleuchten.

Ausführlich stellt Popper die physikalistische Position von Moritz Schlick (1925) dar, eine wissenschaftlich exakte Erkenntnis des Psychologischen sei überhaupt nur dann möglich, wenn es gelänge, den psychischen Tatsachen (auf Grund eines psychophysischen Parallelismus) physikalische Begriffe zuzuordnen. Er zitiert Schlick mit einer durchaus aktuell wieder häufiger zu hörenden ← 16 | 17 → Aussage: „Endgültige Erkenntnis von Qualitäten ist nur durch die quantitative Methode möglich. Das Bewusstseinserleben ist also nur insofern erkennbar, als es gelingt, die introspektive Psychologie in die physiologische […] in letzter Linie in eine Physik der Gehirnvorgänge zu überführen“. Dieses Argument ist uns in der Diskussion der modernen Neuropsychologie durchaus vertraut, auch wenn die rasante Weiterentwicklung der Methoden der angeblichen Sichtbarmachung von Denkvorgängen (fMRT etc.) nur vordergründig als Fortschritt wahrgenommen werden mag. Aber Popper sieht auch die Begrenzungen einer rein introspektiven Methode in der Psychologie insbesondere für die Theorieentwicklung.

„Erkennen“ wird von Popper als Wiederfinden des Einen im Anderen verstanden, und das Zuordnen von Urteilen zu Tatsachen als zentrale Methode benannt. Unter „vollständiger Erkenntnis“ sensu Schlick wird dann verstanden, dass sich verschiedene Qualitäten durch das quantitative Begriffssystem der Physik beschreiben und ineinander überführen lassen. Scharfsinnig bemerkt Popper hierzu, dass dieses Ideal von Schlick selbst jedoch nicht auf die Geisteswissenschaften angewandt wird und damit nicht als einzige Methode bewertet werden darf. Anschließend argumentiert Popper, dass das Ideal der quantitativen Erkenntnis insbesondere für die Biologie und auch für die Psychologie nicht als alleinige Messlatte gültig sein darf.

Popper führt beispielhaft die Anatomie an, die (damals wie heute) weit davon entfernt ist, durch Differenzialgleichungen der Molekülbewegung zu erklären, wie eine Skoliose entsteht; für die Anatomie sei es wichtig, die Skoliose als solche zu erkennen und damit die Tatsachen dem Begriff zuzuordnen und sie in ihrer Ausprägung zu vermessen. Insbesondere in der biologischen Forschung (Popper nennt hier Morgan, 1909 mit seinem Buch Instinkt und Erfahrung) wird die Irreduzibilität biologischer Gesetzmäßigkeiten auf physikalische Axiome betont. Die wissenschaftliche Arbeit kann sich also weder in der Biologie noch in der Psychologie allein auf eine Reduktion verlassen; eine solche sei erst möglich und möglicherweise Erfolg versprechend, wenn die spezifischen Gesetzmä-ßigkeiten der jeweiligen Wissenschaft relativ genau bekannt sind (vgl. Popper, 1928, S. 17).

In drei Thesen erläutert Popper anschließend, warum ein physikalischer Reduktionismus für die Psychologie nicht adäquat sein kann, wobei er immer wieder die Nähe der psychologischen Erkenntnis zur Biologie (und auch zur Evolutionslehre) betont.

1. These: Da die Reduktion in der Biologie nicht sinnvoll ist, ist auch die Methode in der Psychologie von dieser Forderung nicht betroffen. Zunächst müsste eine Reduktion der Biologie gelingen, bevor die komplexeren ← 17 | 18 → psychischen Vorgänge, die auf biologischen Gegebenheiten aufbauen, reduziert werden könnten.

2. These: Eine Reduktion kann weiterhin nur dann gelingen, „wenn es genügend viele und genügend exakte psychologische Gesetzerkenntnisse gibt“ (Popper, 1928, S. 19). Auch fast einhundert Jahre nach Poppers Dissertation sind wir meiner Einschätzung nach noch recht weit von einem solchen vollständigen und exakten Kanon psychologischer Gesetzmäßigkeiten entfernt.

3. These: Als methodischer Plan sollte die Psychologie sich konsequenterweise eher an biologischen als an physikalischen Gedankengängen orientieren.

Das zentrale Ergebnis Poppers in der Ausarbeitung dieser Thesen (insbesondere These 2) läuft darauf hinaus, dass für die Psychologie die psychophysische Betrachtung immer hinter der psychologischen Erkenntnis her läuft. Psychophysische Theorien können nur als physiologische Deutungen bereits vorhandener psychologischer Gesetzmäßigkeiten (z.B. der Gestaltwahrnehmung) gesehen werden, sie sind jedoch nicht in der Lage dabei zu helfen, solche Gesetzmäßigkeiten aufzufinden. Es geht Popper dabei nicht darum, die Bedeutung physiologischer Forschung für die Psychologie zu negieren, er betont aber nachdrücklich den sekundären Charakter dieser Ansätze. Besonders interessant ist in dieser Argumentation die Aussage Poppers, dass „eine solche Überschätzung der physiologischen Theorien“ zu einer „Vergewaltigung der psychischen Tatsachen durch theoretische Voreingenommenheit“ führen muss (Popper, 1928, 30a). Hier wird deutlich, wie weit Popper in der Methodendiskussion seiner Dissertation noch von der Grundidee des kritischen Rationalismus entfernt ist.

Zur dritten These formuliert Popper die Frage: „sind vielleicht den Bewusstseinsprozessen gerade solche physischen Vorgänge zugeordnet, die für die lebenden Organismen im Gegensatz zu toten physischen Strukturen charakteristische sind?“ (S. 35). Zunächst behält Popper seine grundsätzlichen Bedenken gegen den Reduktionismus bei, analysiert dann aber, inwieweit sich aus dieser Form des Reduktionsgedankens fruchtbare Anregungen für die psychologische Methode ergeben könnten. Insbesondere für die Entwicklung kognitiver Funktionen sieht Popper hier, wie auch sein Doktorvater Bühler, einen wesentlichen Arbeitsbereich biologisch orientierter Psychologen.

Erweiternd zu Bühler postuliert Popper (S. 43), dass eine psychophysiologische Betrachtung als eigener „physiologischer Aspekt (P)“ in die Psychologie eingehen muss. Die Annahme, dass der Erlebnisaspekt durchweg parallel mit den physiologischen Gesetzmäßigkeiten verbunden sei, lasse sich im besten Falle nur im Nachhinein belegen. Damit ergänzt Popper die Bühlerschen Aspekte ← 18 | 19 → des Erlebens (E), Benehmens (B) und der Gebilde des objektiven Geistes (G) und schließt sich auch für diesen weiteren Aspekt der Auffassung Bühlers an, dass es keinen Parallelismus zwischen ihnen geben kann.

Im zweiten Teil seiner Dissertation geht Popper auf die Bedeutung der drei von Bühler formulierten Aspekte für die Methode der denkpsychologischen Forschung ein, und versucht einerseits die Unentbehrlichkeit aller drei Aspekte auch für die denkpsychologische Forschung zu belegen und andererseits die Bedeutung der zuvor von ihm entwickelten biologischen Orientierung der Methode in der Denkpsychologie nachzuweisen.

Dabei beginnt Popper seine Diskussion mit dem „Benehmensaspekt“; die Bedeutung des Verhaltens wird am ausführlichsten diskutiert und hier wird auch die Beziehung zu physiologischen Erkenntnissen immer wieder deutlich gemacht. Dies ist umso erstaunlicher, als er damit sowohl von der Reihenfolge der Aspekte in der „Krise der Psychologie“ abweicht als auch den der Denkpsychologie am nächsten liegende Aspekt des Erlebens hintanstellt. Dem Benehmensaspekt des Denkens ordnet er die Richtung des Behaviorismus zu. Die seinen Überlegungen zugrunde liegende Frage scheint zu sein, ob Denken besser in der Begrifflichkeit der Sinneserfahrung (rezeptives System) oder in der Begrifflichkeit des Verhaltensprozesses (reaktives System) erklärt werden kann (ter Hark, 2004, S. 381).

Zunächst unterscheidet Popper sinnvolles Verhalten in „zweckmäßiges“ und „zweckhaftes“ Verhalten und argumentiert im Folgenden ganz überwiegend anhand tierischer Verhaltensmuster. Zweckmäßig wird das Verhalten eines Tieres dann genannt, wenn es an eine Situation hoch angepasst ist. Selbst wenn ein Verhalten an eine bestimmte Situation nicht angepasst (also unzweckmäßig) erscheint, muss es deshalb nicht vollständig dysfunktional sein, da es in einer anderen Situation durchaus zweckmäßig sein kann, sich so zu verhalten: Ein Hund, der eine Lokomotive anbellt, zeigt kein zufälliges (sinnloses) Verhalten (ter Hark, 2004), sondern eines, das in anderen Kontexten durchaus angepasst ist. Solches Verhalten nennt Popper „zweckhaft“, da es in einer anderen als der beobachteten Situation durchaus funktional sein kann. Ein solches Verhalten ist in der fraglichen Situation zwar objektiv nutzlos, subjektiv aber durchaus funktional. Mit Bezug auf Ernst Mach argumentiert Popper weiter, dass die Situation, in der das Tier sich objektiv dysfunktional verhält, sie für dieses Tier dasselbe bedeutet, wie andere Situationen, in denen sein Verhalten zweckmäßig ist. Das Tier hat also zwei Situationen verwechselt.

Details

Seiten
304
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653040104
ISBN (ePUB)
9783653993752
ISBN (MOBI)
9783653993745
ISBN (Hardcover)
9783631646328
DOI
10.3726/978-3-653-04010-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Januar)
Schlagworte
Gestaltpsychologische Schule Ganzheitlichkeit Gestaltheitslehre Leib-Seele-Problem Gestalt (psy.)
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 304 S.

Biographische Angaben

Ellen Aschermann (Band-Herausgeber:in) Margret Kaiser-El-Safti (Band-Herausgeber:in)

Ellen Aschermann; Studium der Psychologie und Philosophie in Göttingen und Oxford; Promotion und Habilitation in Psychologie mit Arbeiten zum Gedächtnisprozess; approbierte Psychotherapeutin; Professorin für pädagogische Psychologie mit Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Köln. Margret Kaiser-el-Safti; Psychoanalytische Ausbildung; Studium der Pädagogik, Psychologie und Philosophie an der Universität Köln; Promotion und Habilitation in Psychologie; Außerplanmäßige Professorin am Kölner Institut für Psychologie: Mitautorin des Historischen Wörterbuches der Philosophie.

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Titel: Gestalt und Gestaltung in interdisziplinärer Perspektive
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